Freitag, 14. März 2025

Moralischer Fortschritt

Gibt es Fortschritte in der Moral? Verändern sich die Einsichten und Überzeugungen der Menschen über das, was gut und was nicht gut ist, im Lauf der Zeit, und erfolgen solche Veränderungen in einer linearen Richtung, wie es für den Fortschrittsgedanken maßgeblich ist? Ich greife im Folgenden Gedankengänge von Thomas Nagel auf, der in den USA Philosophie lehrt. 

Es gibt Fortschritte in den Naturwissenschaften, die von der Art sind, dass etwas, das als Wahrheit entdeckt wird, und die Entdeckung besteht darin, zu erkennen, dass diese Wahrheit schon immer bestanden hat, bevor sie enthüllt wurde. Der Umfang der Erde am Äquator war immer ca. 40 000 Kilometer, selbst zu einer Zeit, wo niemand eine Ahnung von der Kugelgestalt der Erde hatte. Bei der Moral ist das anders. Sie handelt von dem „wofür wir Gründe haben, es zu tun und nicht zu tun.“ (Nagel 2025, S. 43)

Moralische Einstellungen sind einem Wandel unterworfen, sowohl im Lauf der Lebensgeschichte einer Person als auch im Rahmen von Gesellschaften. Zum Beispiel gilt heute die Sklaverei als Unrecht und die Ausbeutung von Sklaven als moralisch verwerflich. In der Antike, in der sich schon die Philosophen mit diesem Phänomen auseinandergesetzt haben, ist man nicht zu diesem Schluss gelangt. Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Sklaverei schlecht ist und abgeschafft werden muss. Nachträglich betrachtet, wundern wir uns, warum Denker in der Vergangenheit die Ausbeutung von Menschen durch Menschen nicht kritisiert haben, sondern einfach als gegeben hingenommen haben, als ein Schicksal, das manche erleiden und andere nicht. Aber offensichtlich sind besondere Zeitumstände erforderlich, um soziale Selbstverständlichkeiten auf ihre Moralität hin reflektieren zu können.

Es gibt offenbar einen Fortschritt in der Moral, der durch politische und gesellschaftliche Veränderungen vorbereitet wird. Wo diese Veränderungen noch nicht eingetreten sind, gibt es noch immer Sklaverei; wo so aber stattgefunden hat, erscheint sie zutiefst unmoralisch.

Die neuen ethischen Einsichten ergeben sich aus den geänderten ökonomischen Bedingungen. In der industrialisierten Wirtschaft ist die Sklaverei nicht mehr notwendig und unter Umständen sogar fortschrittshemmend. Darum verbreitete sich die neue moralische Sichtweise der Ablehnung der Sklaverei quer durch die Gesellschaft.

Einen ähnlichen Zusammenhang können wir bei der Entwicklung der Frauenrechte sehen. Solange die Wirtschaft im Agrarbereich und im Handwerk auf Familienstrukturen aufgebaut war, war eine strikte Zuschreibung der Geschlechtsrollen erforderlich – fixe Aufgaben, die die Männer zu leisten hatten, und andere, die den Frauen zukamen, sowie eine klare Grenze dazwischen. Im Gefolge der Industrialisierung wurden diese Formen der Arbeitsteilung obsolet. Dazu kam, dass durch die Einführung von Maschinen die Körperkraft immer unwichtiger wurde; dieser Hauptunterschied zwischen Männern und Frauen spielt kaum mehr eine Rolle. In der modernen Gesellschaft können Frauen alle Männerberufe übernehmen, Männer alle Frauenberufe. Deshalb gibt es auch keine objektiven Gründe mehr, warum Frauen in irgendeiner Weise benachteiligt werden dürften. Während früher wie selbstverständlich gegolten hatte, dass Männer mehr Rechte in der Gesellschaft beanspruchen dürften, gibt es für diese Ungerechtigkeit heutzutage keine moralischen Begründungen mehr.

Es gibt bei den Fortschritten in der Moral immer Vorreiter, oft sind es von Diskriminierung und Ausgrenzung Betroffene, häufig auch Intellektuelle, die vorpreschen und deren Meinungen dann allmählich von der Bevölkerungsmehrheit übernommen werden. In der Regel sind es Jüngere, die schneller auf neue Ebenen der Toleranz wechseln, als Ältere, die eher an traditionellen Werten festhalten.

Jede Zeit braucht die ihr gemäße Moral, um ein höheres Maß an Stabilität zu gewinnen als die vorige. Die Natur der Evolution bewirkt, dass die Komplexität mit jeder neuen Ebene, die erreicht wird, erhöht wird. Vermehrte Komplexität führt zunächst zu Instabilität. Die Moral ist einer der Faktoren, die zur Stabilität auf der sozialen Ebene beitragen, also dazu, dass das Netz der menschlichen Interaktionen möglichst reibungsfrei mit neuen Gegebenheiten zurechtkommt. Deshalb ist auch eine komplexere Form der Moral notwendig, um den fragiler gewordenen Umständen gerecht zu werden.

Eine weitere Entwicklungsrichtung der Evolution verläuft in die Breite, in Form von sich erweiternden Kreisen. Das Stichwort der Globalisierung beschreibt diesen Prozess auf der ökonomischen Ebene. Ähnlich verlaufen solche Prozesse aber auch in Hinblick auf die moralischen Werte. Ein Beispiel bildet die zunehmende Achtung der gleichgeschlechtlichen Liebe und von entsprechenden Lebensformen, die noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar erschien. Vor allem die männliche Homosexualität stand unter Strafandrohung und wurde gesellschaftlich geächtet. Inzwischen haben viele Länder gleichgeschlechtliche Ehen oder eheähnliche Lebensgemeinschaften rechtlich anerkannt, und das Schwul- oder Lesbischsein wird zu einer akzeptierten Variante. Es gibt noch viele Länder, in denen dieser Schritt noch nicht vollzogen wurde, aber andererseits kommt es bei rechtsgerichteten Parteien in westlichen Ländern immer weniger vor, dass sie homosexuelle Orientierungen angreifen. Deren Hassparolen gelten mittlerweile vor allem den Transpersonen. Vermutlich bildet die Entwicklung der Toleranz für solche Personen die nächste Hürde, die die moralischen Urteile im Bereich der menschlichen Geschlechtlichkeit nehmen werden.

Eine Folge der Globalisierung ist die gesteigerte Mobilität, nicht nur durch Wander- und Fluchtbewegungen, sondern auch durch persönliche Beziehungen über die Kontinente hinweg. Kulturen vermischen sich zusehends und entwickeln sich dadurch weiter, was immer wieder Widerstände hervorruft und Widersprüche erzeugt; dennoch ist diese Entwicklung nicht aufzuhalten, und sie erzwingt die Weiterentwicklung der Moral. Sie muss so weltweit werden wie ihre Subjekte, die Menschen, die global miteinander verknüpft sind. Zugleich muss sie auf alle Rücksicht nehmen, die durch die Komplexität der Entwicklungen überfordert sind. Doch handelt es sich bei den Hauptproblemen, mit denen wir befasst sind, um weltweite Probleme, und sie können ohne eine weltweite, also alle Menschen einschließende und von allen geteilte Ethik nicht gelöst werden. Wir stehen an der Schwelle zu diesem neuen Niveau der Moral.

Nagel schreibt dazu: „Heute ist diese Vorstellung von Gerechtigkeit durch die Zunahme globaler Vernetzung und die Mobilität von Bevölkerungen einem enormen Druck ausgesetzt. Durch die Ungleichheit im internationalen Vergleich stellt sich offenbar die Frage der grundsätzlichen Gerechtigkeit, auf die wir keine überzeugende Antwort haben. Es ist die folgende Frage: Können wir Prinzipien für die internationale oder globale Steuerung finden, die moralisch und institutionell mit unserer Vorstellung von innerstaatlicher oder gesellschaftsinterner Gerechtigkeit vereinbar sind?“ (Nagel 2025, S. 105)

Quelle: Thomas Nagel: Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt. Berlin: Suhrkamp 2025

Hier zur Videofassung

Zum Weiterlesen:
Die Notwendigkeit der universalen Ethik
Keine Nachhaltigkeit ohne soziale Konfliktlösung

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