Wir leben in Zeiten, in denen ein Kampf um die Deutungshoheit und die Wahrheitsfindung mit allen Mitteln geführt wird. Es stehen dabei nicht weniger als die liberalen Errungenschaften einer rationalen und demokratischen Wahrheitsfindung und damit die Grundlagen einer modernen Gesellschaft auf dem Spiel. Es werden von rechter und rechtsextremer Seite alle Register der Manipulation gezogen, um den Wahrheitsbegriff systematisch zu untergraben und damit der Willkür preiszugeben. Die angestrebte Folge ist, dass derjenige die Wahrheit prägt, der die Macht hat. Die Wahrheitszerstörung wird als Mittel zur Machtergreifung perfektioniert, um dann durchsetzen zu können, was die Menschen für wahr zu halten haben. Die Nationalsozialisten und die anderen faschistischen Regime haben das vor hundert Jahren vorexerziert, und ihre Nachahmer sind weltweit auf dem Vormarsch.
Hier werden ein paar der Manipulationstechniken beschrieben, die in aller Unverschämtheit die sozialen Medien fluten und mehr und mehr die öffentliche Debatte bestimmen. Alle, die weiterhin daran interessiert sind, dass die Wahrheit in einem liberalen Rahmen von Respekt und Achtung gefunden werden soll, müssen sich mit diesen manipulativen Untergriffen beschäftigen, um sie entlarven und bloßstellen zu können, sodass der öffentliche Diskurs von toxischen Elementen frei gehalten wird.
Bullshitting
Der US-Philosoph Harry Frankfurt hat diesen Begriff erstmals 1986 geprägt. Bullshitting wird mit „Humbug“, „Hohlsprech“ oder „Geschwurbel“ übersetzt. Das Wort „bull“ heißt nicht nur Stier, sondern hat auch die Bedeutung von lügen und täuschen. Dieses Phänomen tritt zunächst dann auf, wenn Menschen über Dinge reden, von denen sie nichts verstehen. Es geht dabei weniger um die Falschdarstellung von Dingen als um eine Täuschung über sich selbst.
Näher betrachtet, wirkt die systematische Verwendung dieser Kommunikationsform schlimmer als Lügen, bei denen es um das Mitteilen von bewussten Unwahrheiten geht, wobei also der Lügner die Wahrheit grundsätzlich anerkennt und sie nur verstecken will. Beim Bullshitting wird die Grundlage der Wahrheit selbst angegriffen. Es wird das Recht auf das Ausdrücken der eigenen Sichtweise über jeden Wahrheitsbezug gestellt. Die Wahrheit liegt einzig und allein im Aussprechen dessen, was man sagt. Man maßt sich die Macht an, sagen zu können, was man will – wir verfügen ja über die liberale Errungenschaft der Meinungsfreiheit, die solange missbraucht wird, bis sie alle loswerden wollen. Ob das Gerede Sinn macht, sozialförderlich oder wirklichkeitsbezogen ist, zählt nicht. Es geht nur darum, im öffentlichen Diskurs möglichst viele giftige Rückstände zu hinterlassen, die andere dann wegräumen sollen. Hauptsache ist es, präsent zu sein und möglichst viel Raum einzunehmen, den die anderen, die Gegner, nicht haben.
Hannah Arendt, die scharfsinnige Kritikerin des Nationalsozialismus, hat schon vor vielen Jahren darauf verwiesen, dass fortgesetztes Lügen nicht darauf abzielt, dass die Leute schließlich an die Lüge glauben, sondern dass sichergestellt werden soll, dass niemand mehr an irgendetwas glaubt. Ein Volk, das nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden kann, kann auch nicht zwischen richtig und falsch entscheiden – und mit einem solchen Volk kann man machen, was man will, so die Beobachtung von Hannah Arendt.
Der Conway-Move
In die gleiche Kerbe schlägt die berüchtigte Aussage von Trumps ehemaliger Sprecherin Kellyanne Conway, die 2017 von „alternativen Fakten“ sprach, als sie darauf angesprochen wurde, dass sie falsche Zahlen über die Teilnehmer bei Trumps erster Amtseinführung genannt habe. Nach dieser Auffassung gibt es nicht mehr nur Unterschiede zwischen Sichtweisen, sondern über die Wirklichkeit, die durch Fakten repräsentiert wird: Wenn A sagt, die Erde kreist um die Sonne, und B, die Sonne kreist um die Erde, dann sind das alternative Sichtweisen, die beide den gleichen Geltungsgrad beanspruchen. Niemand kann sagen, welche Aussage stimmt. Damit wird die Basis für die Bildung von konsensuellen Übereinstimmungen über die Existenz von Dingen geleugnet, weil für jeden andere Dinge existieren oder diese Dinge anders existieren und diese Unterschiede in den Existenzweisen akzeptiert werden müssen. Die Folge ist, dass sich dann als dominante „Wirklichkeit“ das durchsetzt, was mit mehr Macht verbreitet werden kann. Das ist die Gefahr, auf die George Orwell in seinem Roman 1984 hingewiesen hat: Die lückenlose Kontrolle der Meinungsverbreitung durch die Machthaber führt dazu, dass alle nur mehr das Gleiche denken. Es gibt keinen Bezugspunkt in der Realität, der ein sicheres Wissen bieten kann, sondern alles kann so gesehen werden oder auch anders. Die jeweiligen Machthaber entscheiden dann über das, was real ist und was nicht.
Der Marlboro-Move
In einer ähnlichen Form gibt es diesen Ansatz in der Wahrheitsrelativierung schon länger. Zunächst haben sich bestimmte Teile der Wirtschaft des Tricks bedient, Forschungsergebnisse, die gegen ihre Produkte gesprochen haben, durch den Hinweis auf Gegenstudien zu entkräften. Dazu wurden entsprechende Studien gefälscht. Dieses Vorgehen kennen wir aus der Tabakindustrie – von da auch der Name –, aber auch von der Zuckerindustrie. Zurzeit sind wir massiver Propaganda von der Ölindustrie ausgesetzt, die den hohen wissenschaftlichen Konsens über die Ursachen des Klimawandels ignoriert und suggerieren will, dass das nur Einzelmeinungen sind und dass die Leugner der menschengemachten Erwärmung der Atmosphäre mindestens genauso recht haben.
Mit solchen Manövern wird gezielt an der Glaubwürdigkeit der Wissenschaften gesägt; sie werden so dargestellt, als könne man mit ihrer Hilfe jeden Standpunkt bestätigen und jedes Geschäftsinteresse bedienen. Die Verlässlichkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ausgefeilten Prüfinstanzen unterworfen sind, ist ein wichtiger Referenzpunkt für eine liberale Demokratie, und gerade deshalb ist sie den Gegnern dieser Staatsform ein Dorn im Auge. Mittels manipulativer und irreführender Rhetorik soll die Überzeugungskraft und die zentrale Rolle der Wissenschaften für die Wahrheitsfindung systematisch diskreditiert werden. Am Ende gibt es nur noch das Meinungsdiktat derer, die über genügend Macht und Geld verfügen.
Der “I Did My Own Research”-Move
Das Internet und die Plattformen für künstliche Intelligenz versetzen jeden in die Lage, Informationen zu sammeln. Man findet eine Seite, auf der jemand die eigene Meinung bestätigt, und schon verfügt man über eine Expertenmeinung und kann jeden anderen, der als Experte auftritt, übertrumpfen, auch wenn dieser auf wissenschaftlich anerkannte Forschungsarbeiten verweisen kann. Während der Pandemie-Zeit hat es nur so gewimmelt von selbsternannten Virologen und Impfexperten, die mit ihrem kursorisch angelesenen Halbwissen jeden ausgebildeten Virologen, der über jahrzehntelange Erfahrung in seinem Fachgebiet verfügte, als „Scharlatan“ verspotten oder als gekauften Büttel von Pharmakonzernen verleumden konnten. Ähnlich peinlich treten Leugner des menschengemachten Klimawandels auf, die in irgendeiner wissenschaftlichen Disziplin Experten oder sogar Nobelpreisträger sind, diese Position aber missbrauchen, indem sie ohne jede fachliche Qualifikation Erkenntnisse zu Klimafragen verbreiten und damit die Tausenden Klimawissenschaftler belehren wollen.
Der Bannon-Move
Diese kommunikative Untugend ist nach dem ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon, einem rechtsextremen Publizisten, benannt. Seine Schlachtruf ist bekannt: „Flood the zone with shit.“ Es geht darum, möglichst viele unsinnige, faktenfremde, hetzerische und hasserfüllte Botschaften in die mediale Landschaft hinauszuposaunen, ohne irgendeinen Wahrheitsanspruch, einfach nur mit dem Ziel, Aufmerksamkeit zu bekommen, laut zu sein und möglichst viel Verwirrung und Verunsicherung zu stiften. Wenn sich viele angeekelt von all dem „Scheiß“ abwenden, ist die Arena frei für die Meinungsdiktate der Autokraten.
Das Erbe der Aufklärung weiterführen
Für alle, denen es wichtig ist, das Erbe der Aufklärung zu bewahren und weiter zu entwickeln, geht es darum, sich den Wahrheitsbegriff nicht wegnehmen zu lassen, sondern ihn gegen alle Zerstörungsversuche zu verteidigen. Die Wahrheitsfindung, mit der die Menschheit den Weg von der Steinzeit bis in die Moderne erfolgreich beschritten hat, beruht auf zwei Zugängen: Die möglichst hohe Übereinstimmung zwischen der Theorie und der Wirklichkeit (die Korrespondenzwahrheit) und die möglichst hohe Übereinstimmung mit anderen Wahrheitssuchern (die Konsenswahrheit). Diese Formen der Wahrheitsfindung haben sich praktisch bewährt – alle Maschinen, Geräte und Bauwerke sowie alle komplexeren Formen des menschlichen Zusammenlebens sind aus der Anwendung dieser Zugänge zur Wirklichkeit entstanden. Im technischen Bereich besteht im Grund kein Problem; auch die Rechten wollen funktionierende Computer und sichere Hochhäuser. Aber die systematische Infragestellung der Wahrheitskompetenz der Wissenschaften, indem diese in den Dienst der Machtpolitik gestellt werden sollen, unterminiert selbst diesen Bereich. Diktatoren haben immer schon bestimmte naturwissenschaftliche Theorien und die damit verbundenen Forschungen, die nicht in ihre Ideologie passten, verboten und bekämpft.
Besonders betroffen von den Attacken auf die Wissenschaften sind allerdings die Sozialwissenschaften. Denn sie forschen im Bereich des menschlichen Zusammenlebens, der von den Feinden der liberalen Demokratie mit allen Mitteln besetzt und umgestaltet werden soll. Deshalb sind diese Wissenschaften der natürliche Gegner für die selbsternannten Retter vor allem Bösen. Statt Formen der Kooperation zu fördern, geht es darum, möglichst überall das Recht des Stärkeren und Mächtigeren zu etablieren – aber damit kommt man in den Sozialwissenschaften nicht weit, und deshalb müssen eben diese Forschungsrichtungen unterdrückt werden. Die Trump-Administration hat schon eine lange Liste von Themen veröffentlicht, die nicht mehr mit Regierungsgeldern gefördert werden dürfen (z.B. Forschungen zum „Trauma“ oder zu indigenen Völkern); und auch private Geldgeber werden wohl unter Druck gesetzt werden, sodass ganze Forschungszweige stillgelegt werden müssen. Was auf Deutschland zukommen könnte, hat die AfD-Vorsitzende Alice Weidel kundgetan: „Soll ich sagen, was wir tun, wenn wir am Ruder sind? Wir schließen alle Gender-Studies und schmeißen alle diese Professoren raus.“ Soviel gilt also die Freiheit der Wissenschaften bei Rechtsparteien und unter den von ihnen angestrebten Diktaturen.
Die Wahrheit muss über der Macht stehen
Nur eine starke und artikulierte liberale Zivilgesellschaft kann verhindern, dass die gezielt angewendeten Tricks der Meinungsmanipulation unter dem Deckmantel rechter Wahrheitsverbiegungen noch mehr Platz greift. Die Wahrheit darf niemals der Macht untergeordnet werden, denn dann bleibt die Freiheit auf der Strecke. Mit viel Einsatz haben Generationen vor uns die liberalen Grundrechte gegen autoritäre Staatssysteme errungen, die wir uns nicht von machtgeilen Möchtegerne-Diktatoren und ihren Speichelleckern und Mitläufern wegnehmen lassen dürfen. Die Alternative zu einer liberalen Demokratie ist eben eine illiberale, eine mit beschnittenen Freiheitsrechten, an deren Stelle eine unkontrollierte, korrupte und rücksichtslose Staatsmacht tritt, die den öffentlichen Diskursraum mit gleichgeschalteten Medien ausfüllt. Der Blick nach Orbán-Ungarn genügt, um zu sehen, wohin die Rechte steuert.
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