Mittwoch, 28. August 2019

Warum die Gesellschaft Ambivalenzen braucht

Wenn genügend viele Menschen innere Schwierigkeiten mit Ambivalenzen haben und sich mit Illusionen und Fantasien über diese Gegensätze hinweg zu retten versuchen, entsteht daraus eine ambivalenz-intolerante Gesellschaft. Es gibt genügend Gruppen und Bewegungen in unserer Gesellschaft, deren Mitglieder ihr Leiden an inneren Ambivalenzen auf die gesellschaftlichen Probleme projizieren und einfache Lösungen und Antworten einfordern. Wenn die Schwierigkeiten im eigenen Seelenleben zu stark werden, und keine Bereitschaft besteht, sich ihnen zu stellen, bietet sich als bequemer Ausweg, Ambivalenzen in der Gesellschaft zu bekämpfen, um eine Einheitsgesellschaft zu errichten. 


Die Ambivalenz zwischen „Heimattreue“ und „Weltoffenheit“


Eine dieser heftig diskutierten Ambivalenzen besteht zwischen dem Bestreben nach dem Erhalt von Traditionen samt nationaler Eigenständigkeiten und der Wirklichkeit und Notwendigkeit von Zuwanderung. Beides hat seine Berechtigung und seinen Wert, und zwischen beiden kommt es immer wieder und notwendigerweise zu Konflikten (s. den Artikel über "Gelingende Integration und Konflikte"). Wer an inneren Konflikten leidet, sucht nach Harmonie im Außen und meint, dass mit der Beseitigung der äußeren Konflikte der innere Friede kommt. Deshalb versucht er eine Seite der Ambivalenz zu bekämpfen, mit der Hoffnung, dass dann nur mehr die andere, gewünschte Seite übrigbleibt und der ersehnte Friede einkehrt. Es ist doch viel einfacher, wenn alle die gleiche Sprache sprechen, noch besser den gleichen Dialekt, dann versteht jeder jeden und es gibt keine Reibereien. Alle sollten die gleichen Werte teilen, und wer da nicht mitmachen will, soll woandershin verschwinden.

Der nationale Einheitsbrei ist aber nur mit einem hohen Preis zu haben: Das Fehlen von Austausch und Innovation führt dazu, dass irgendwann die Tradition an sich selber erstickt, indem die Kreativität auf der Strecke bleibt. Dazu kommt, dass die Bevölkerung ohne Zuwanderung Schritt für Schritt vergreist – ein Papamonat, so nett er ist, ändert kaum etwas an diesem Trend. 

Eine gewisse Abgrenzung ist notwendig, damit die eigene Identität gewahrt werden kann; die totale Abschottung führt zum Versiegen von Ideen und letztendlich zur Verödung der eigenen Kultur. Wenn z.B. die ungarische Regierung eine ganze Universität aus nationalistischen Gründen ausweist, gehen dem Land wertvolle Talente und innovative Forschungsergebnisse verloren, ohne irgendeinen Gewinn. Die Feindschaft gegen das Fremde bringt die Feindschaft gegen das Neue mit sich, und ohne Neues veraltet die Gesellschaft, nicht nur demographisch, sondern auch technologisch und wissenssoziologisch. 


Der gesellschaftliche Preis der Ambivalenzunterdrückung


Die Vertreibung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten war nicht nur eine beispiellose und gewissenlose Orgie von Grausamkeit und Unmenschlichkeit, sondern auch eine Geisteszerstörung zumindest in Deutschland und Österreich, die über Jahrzehnte, wenn nicht bis heute, gravierende Nachwirkungen auf die kulturelle Produktivität hatte. Die Ideologie der Nationalsozialisten, wie auch anderer totalitärer Regime, ist geprägt von durchgängiger und radikaler Ambivalenz-Intoleranz. Es darf in Bezug auf die Sexualität nur eine Norm geben, wer davon abweicht, weil er oder sie z.B. der gleichgeschlechtlichen Liebe zugeneigt ist, wird verfolgt. Die Menschen dürfen nur eine Form der Liebe in sich zulassen, und wenn sie in sich eine entsprechende Ambivalenz tragen, müssen sie diese verdrängen. Es darf nur eine Richtung in der Kunst geben, und wer sein Schaffen in eine andere Richtung auslebt, wird geächtet und aus der Öffentlichkeit verbannt. Es darf schließlich nur eine Art zu denken geben, und wer davon abweichende Gedanken äußerst, riskiert sein Leben. 


Linke Ambivalenzblindheit


Nicht nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums finden sich die Gegner von Ambivalenzen. Wo immer Ideologien auftauchen, besteht die Neigung, die Wirklichkeit gemäß den eigenen Ideen zurechtzustutzen. Alles, was der eigenen Erlösungsvorstellung widerspricht, muss unterdrückt, zurechtgebogen oder ignoriert werden. 

Im marxistischen Denken hatten Widersprüche eine ganz zentrale Rolle. Der Antagonismus zwischen den Kapitalisten und den Proletariern würde zwangsläufig zur kommunistischen Revolution führen und eine neue Gesellschaft hervorbringen, in der es keine ökonomischen Gegensätze mehr gäbe. Es geht also auch in diesem Denken um die Beseitigung von Widersprüchen mit dem Ziel eines harmonischen Zusammenlebens in der klassenlosen Gesellschaft.

Der Antagonismus zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel und denen, die sie bedienen, besteht bis heute; ob er die digitale Revolution der künstlichen Intelligenz überleben wird, ist noch fraglich. So oder so, die Perspektive auf eine widerspruchsfreie Form des Zusammenlebens zeugt von der Hoffnung auf Beseitigung von Ambivalenzen, statt einen konstruktiveren Umgang mit ihnen anzudenken. Diese Sichtweise rückt jedes Denkgebäude in die Nähe von Ideologien.


Ambivalenzverdrängung nach außen


Es gab und gibt bis heute genügend Leute, die solche totalitäre und wertdiktatorische Weltanschauungen vertreten und ihnen zur Macht verhelfen wollen. Das sind Menschen, die nicht erkennen oder zugeben können, dass sie selber Ambivalenzen in sich tragen. Sie fordern äußere Verbote, die ihnen helfen sollen, die inneren Verbote, die mit der Verdrängung der eigenen inneren Ambivalenzen einhergehen, zu besiegeln. 

Das Einebnen von Widersprüchen geht nur, indem Teile der Wirklichkeit ausgeblendet werden. Zwar können Teile der Wirklichkeit ignoriert werden und man kann verbieten, sich mit ihnen zu beschäftigen, deshalb aber verschwinden diese Bereiche nicht, vielmehr wirken sie weiter und verschärfen die realen Ambivalenzen. Was wirklich ist, wirkt, im Verborgenen oder im Offensichtlichen. Die willkürliche Beschneidung der Wirklichkeit beinhaltet immer eine Form des Wirklichkeitsverlustes und damit eine Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten und der Wirksamkeit der eigenen Pläne.

Es gibt Gegensätze – in der Politik z.B. zwischen Unternehmern und Arbeitern. Im Faschismus und Nationalsozialismus wurden diese Interessensgegensätze ignoriert und einem mächtigen Einparteienstaat untergeordnet. Doch sind beide Seiten für das Funktionieren der Wirtschaft als Konfliktpartner notwendig – zumindest so lange als es Arbeitskräfte gibt. Unterschiedliche Konzepte In der Bildungs- und Sozialpolitik  beleben die organisatorischen und inhaltlichen Weiterentwicklungen in diesen Bereichen, wenn sie in einem „herrschaftsfreien“ Raum diskutiert werden. Je höher die Konflikttoleranz auf allen Ebenen der Gesellschaft ausgebildet ist, desto mehr Menschen können in ihr ihren Platz einnehmen und ihre Fähigkeiten beisteuern. Auch die Klimakrise können wir nur dann meistern, wenn den unterschiedlichen und zum Teil antagonistischen Interessen, die daran beteiligt sind, genügend Verständnis und Berücksichtigung gewährt wird, z.B. indem bei einer CO2-Steuer darauf geachtet wird, dass sie nicht zulasten der Ärmeren und Geringverdienenden geht.

Ambivalenzoffene Räume in der Gesellschaft und im Bildungswesen


Eine ambivalenztolerante Gesellschaft wird nicht dadurch entstehen oder verstärkt werden, dass den ambivalenzscheuen Mitgliedern auf den psychischen Zahn gefühlt wird; sie werden nicht auf Druck hin an die ungelösten Themen im Inneren zu arbeiten beginnen. Vielmehr braucht es ein kulturelles Klima, in dem die Gegensätze durchgespielt und vertieft werden können. Es braucht eine Wissenschaftskultur, in der kontroverse Theorien diskutiert und weiterentwickelt werden. Es braucht eine politische Öffentlichkeit, in der unterschiedliche Ideologien im Wettstreit stehen und differierende Ideen über den gesellschaftlichen Fortschritt eingebracht werden.

Ganz besonders  geht es darum, aufwachsenden Kinder eine Atmosphäre zu bieten, die zunächst offen ist für die Widersprüchlichkeiten ihrer Emotionalität, und dann später eine positive Einstellung zur Diversität und zu verschiedenen Vielheiten erfahrbar macht: Vielheiten in den Geschlechterrollen, in der ethnischen Herkunft, in der Kultur- und Religionszugehörigkeit, in Gebräuchen und Werten, in Umgangsformen und Lebensgeschichten, in Intelligenz- und Wohlstandsniveaus. Wenn Kinder die Erfahrung machen können, dass Menschen anderer Hautfarbe  oder anderem kulturellen Hintergrund auch nur Menschen sind, mit ähnlichen oder unterschiedlichen Lebensplänen und Einstellungen, dann erwerben sie einen offenen Horizont und ein Vertrauen in die Kraft von Ambivalenzen, statt ihnen aus dem Weg zu gehen oder sie zu bekämpfen. Sie erlernen eine multiperspektivische Herangehensweise an die Probleme – in ihnen selbst und um sie herum und werden zu offenen und freien Menschen und Gesellschaftsbürgern. 

Für die fortschreitende Globalisierung sind Menschen mit solchen Qualitäten notwendig. Je enger die Denkweise und je eindimensionaler die Gefühlswelt beschaffen ist, desto weniger ist jemand tauglich für eine Zukunft, in der die verschiedenen Regionen der Welt immer mehr in Austausch treten und damit die Widersprüche und daraus resultierenden Konflikte rapide zunehmen. Wir brauchen die tolerante Einstellung zu Ambivalenzen, indem wir Unterschiede wertfrei akzeptieren, um diese Herausforderungen bewältigen zu können. 

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