Samstag, 22. Juni 2024

Kriege entstehen in den Köpfen

Kriege wirken auf die betroffenen Menschen wie Naturkatastrophen, denen sie machtlos ausgeliefert sind. Aber es ist nicht die Natur, die Kriege hervorbringt. Manche meinen, es wäre die animalische Seite des Menschen, die zur Gewalt neigt und zum Berserker wird, wenn die Ressourcen knapp werden und von Artgenossen bedroht sind. Das wäre der Ursprung für das Kriegführen. Doch wegen der hohen Zerstörungskraft, die von menschlichen Kriegen ausgeht und die mit jeder Weiterentwicklung der Technik wächst, sind Kriege hochriskante Abenteuer, und das, was für ihre Entfesselung notwendig ist, geht weit darüber hinaus, was animalische Triebe hergeben. Die Motive, die hinter dem Auslösen von Kriegen stecken, sind viel komplexer.

Der Historiker Yuval Harari sagt in einem Videogespräch: „Menschen kämpfen nicht um Land oder Nahrung. Sie kämpfen wegen imaginärer Geschichten in ihrem Verstand.“ Diese Sichtweise verstehe ich folgendermaßen: Die Motive, einen Krieg zu führen, stammen nicht aus unerfüllten Bedürfnissen und davon ausgelösten Frustrationen von Einzelpersonen oder Kollektiven, sondern daraus, dass diese Bedürfnisse mit der Vorstellung verknüpft werden, dass sie nur durch einen Krieg erfüllt werden könnten. Es besteht Hunger, und das Bedürfnis ist, Nahrung zu bekommen; es gibt dazu verschiedene Wege, und einer davon ist es, Krieg zu führen, wenn z.B. ein Land dem anderen die Lebensmittelzufuhr abschneidet. Welcher Weg gewählt wird, entscheidet nicht das Bedürfnis, sondern das Denken. Es wählt unter den Optionen diejenige aus, die am wahrscheinlichsten, am schnellsten oder am nachhaltigsten einen Erfolg verspricht. Diese Wahl wird aus Erzählungen gespeist, die sich vor allem aus Opfergeschichten unter Verwendung von Täterkonstrukten zusammensetzen. Der Opferstatus dient zur Rechtfertigung der Gewaltanwendung gegen den Täter. Um diesem demütigenden Zustand zu entkommen, ist jedes Mittel recht. 

Vorstellungen, die ein gewaltsames Vorgehen als einzige Lösung einschätzen, stammen aus Gefühlen der Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Die Vernunft ist außer Kraft gesetzt. Unbewusste Ängste liefern die alleinige Triebkraft für die Aggressionen. Diese Ängste werden von Denkkonstrukten erzeugt, die einen Opfer-Täter-Zusammenhang suggerieren, der nur durch die Vernichtung des Täters aufgelöst werden kann. Der Opferstatus kann nur durch die Übernahme des Täterstatus überwunden werden, so die Gefühlslogik, die hinter jeder kriegerischen Aggression steckt. Nur wenn ich so böse werde wie der Täter, der mich zum Opfer gemacht hat, kann ich die Schande des Opferseins ausgleichen. 

Opfererzählungen nähren sich auf der individuellen Ebene aus einem mangelhaften Selbstwert; auf der kollektiven Ebene ist es genauso. Es wird nur das Mangelhafte am eigenen Kollektiv wahrgenommen, eben die Unterlegenheit gegenüber einem anderen Kollektiv, und dieser Mangel kann nur dadurch behoben werden, indem das andere Kollektiv besiegt und unterworfen wird.

Nehmen wir das Beispiel des Russland-Ukraine-Krieges. Der russische Diktator hat diesen Krieg unter Verwendung mehrerer Narrative entfesselt. Prominent dabei ist die Auffassung, dass Russland seine nationale Größe nach dem Zerfall der Sowjetunion verloren hat und dass die Größe weiterhergestellt werden muss. Russland ist in eine Mangellage geraten, die Verkleinerung des Staatsgebietes hat den nationalen Wert gemindert und das Land in einen Opferstatus gerückt. Als Täter eignet sich der Westen, insbesondere die NATO, die sich auf Kosten von Russland ausbreiten will und das Land immer mehr an den Rand drängt. Da die Ukraine, die Teil der Sowjetunion war, sich dem Westen zuwenden will, stellt sie eine weitere Bedrohung dar, die den Opferstatus Russlands noch mehr verschärfen würde. Also, wo kein Wille ist, bleibt nur die Gewalt. Es geht folglich Russland bei diesem Krieg nicht darum, mehr Land und damit mehr Macht zu gewinnen (Land hat, wie Harari bemerkt, Russland mehr als genug), sondern darum, den Opferstatus, der aus dem Narrativ der eigenen Minderwertigkeit hervorgeht, zu eliminieren und damit die eigene Geschichte vom Opferstatus in die Täterrolle zu drehen. 

In einem Spiegel-Interview sagt Harari: „Nationale Interessen sind oft nicht durch objektive Vernunft geformt, sondern entstehen aus mythologischen Narrativen, die sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben.“ Ebenso, wie Nationen als solche schon Schöpfungen von Erzählungen sind, sind nationale Interessen aus den Gefühlsenergien dieser Erzählungen gespeist. Der Begriff eines nationalen Interesses wird von Politikern gerne verwendet, wenn sie Machtansprüche ausdrücken wollen und gehört zur Rhetorik der Vorbereitung von Kriegen. Gesellschaften verfügen über die unterschiedlichsten Interessen, z.B. ganz zentral das Interesse am Frieden. Denn nur im Frieden kann das Zusammenleben der Menschen gedeihen. 

Werden Gesellschaften mit Nationen gleichgesetzt, so dringen die nationalen Erzählstränge in die Mentalität der Gesellschaft und in die Psyche ihrer Mitglieder ein. Diese Narrative dienen der Herstellung der Identifikation der Mitglieder mit dem Kollektiv. Auf diese Weise wurden und werden Gesellschaften in Nationen umfunktioniert und auch die Interessen der Mitglieder denen der Nation untergeordnet. Diese Verschiebungen bilden die Grundlage für die Kriegsbereitschaft in der Moderne. 

Die furchtbaren Erfahrungen zweier Weltkriege, die aus diesen Dynamiken entstanden sind, haben dazu geführt, Ansätze einer übernationalen Weltordnung zu erstellen. Die Langsamkeit der Entwicklung der weltweiten Zusammenarbeit zeigt, wie tief die „mythologischen“ Nationalnarrative verankert sind. Aus diesen Gründen entstehen immer wieder neue kriegerisch ausgetragene Konflikte, zum Schaden der betroffenen Menschen und der Menschheit insgesamt. Jeder neue Krieg ist ein massiver Anschlag auf die Menschenwürde und stellt eine Schande dar, für die Verantwortlichen und für die Menschheitsfamilie. Das Versagen der Friedenspolitik, das wir in den letzten Jahren beobachten und bedauern können, zeigt die Macht der unbewussten Kräfte aus dem Zusammenspiel von Opfer- und Täterrollen auf der Basis von gedanklichen Konstrukten.

Zum Weiterlesen:
Braucht es einen Krieg? Wer braucht einen Krieg?
Kriegsverbrechen und Schamverdrängung
Krieg und Scham
Pazifismus in der Krise?
Das Kämpfen nährt den Kampf


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