Die Relativität der Schönheit
Schönheit liegt im Auge des Betrachters, heißt es. Wir merken häufig, dass Schönheit vom individuellen Geschmack abhängt und dass sich über Geschmack nicht produktiv streiten lässt. Es gibt tausende verschiedene Musikrichtungen, und alle von ihnen haben ihre Anhänger und Fans und andere, die gerade diese Form der Musik nicht aushalten oder abscheulich finden. Es gibt Romane, die von vielen Menschen verschlungen und heiß geliebt werden, obwohl sie von den Kritikern in der Luft zerrissen werden und umgekehrt. Es gibt Bilder, die nach ihrer Fertigstellung keine Interessenten gefunden haben und Jahrzehnte später Millionen wert sind.
Die Vielfalt der Stilrichtungen und Ausdrucksformen ist ein Merkmal der postmodernen Kultur. Der Begriff des Schönen ist demokratisiert und parzelliert. Alles, was noch nicht oder nicht in genau dieser Form da war, wird ausprobiert. Das Schöne ist das Überraschende, provokant oder geschmeidig. Nachdem die Moderne die klassischen Schönheitsbegriffe und Geschmackskonzepte demontiert und dekonstruiert hatte, wachsen die unterschiedlichsten Pflanzen auf der kahlgeschlagenen Lichtung, die von den alten ehrwürdigen Schätzen der Kulturgeschichte umstanden ist.
Weil wir in der Metaphorik schon in der Natur gelandet sind, verfolgen wir die Überlegung weiter in den Bereich des Schönen in der Natur. Offensichtlich ist die Divergenz der Auffassungen und Meinungen hier geringer als im Bereich der Kultur, die so unermesslich in die Breite gewachsen ist, während die Natur auch in ihrem Wandel gleich bleibt, außer dort, wo sie von der Kultur und Zivilisation zurückgedrängt und eingeengt wird. Selten werden wir auf Menschen treffen, die einen Sonnenuntergang am Meer oder den Anblick eines erhabenen schneebedeckten Berggipfels als unschön erleben, einen blühenden Rosenbusch oder ein putziges Eichhörnchen als hässlich bezeichnen würden. Aber es sind nur wir Menschen, die diese Empfindungen teilen und diese Wertschätzung erleben. Wir wissen nicht und können auch kaum davon ausgehen, dass sich der Rosenbusch selber "schön" findet und im Verblühen "hässlich" oder dass sich das Eichhörnchen bewusst ist, um wieviel schöner es ist als die Nacktschnecke, die gerade vorbei kriecht. Und dem Luchs, der dem Eichhörnchen nachstellt, sind mit Sicherheit ästhetische Kriterien bei seinem Tun fremd.
Das Schöne in der Natur
Wir haben recht einheitliche Schönheitsbegriffe, was die Natur anbetrifft und nehmen deshalb an, dass es die Natur selber oder deren Schöpfer ist, der diese Schönheit hervorbringt, obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass in ihr selber, von uns abgesehen, eine völlige Leere herrscht, was die Frage der Schönheit anbetrifft. Deshalb kann ich dem österreichischen Philosophieprofessor Konrad P. Liessmann nicht zustimmen, der meint, die Relativität des Schönheitsbegriffes mit Hilfe des Naturschönen aushebeln zu können: "Wäre Schönheit ein Konstrukt, würde sie uns in der Natur nicht begegnen können. Aber sie begegnet uns dort. Sie ist dort unsere allererste Erfahrung." (Radiokolleg am 21. Juli 2016, vgl. Konrad Paul Liessmann: Schönheit. Wien: Facultas 2016)
Wir sehen auch, dass wir in diesem Bereich lernfähig sind: Wenn wir uns genauer mit bestimmten Bereichen der Natur beschäftigen, z.B. die Pflanzen des Regenwaldes studieren, können wir unseren diesbezüglichen Schönheitsbegriff erweitern und verfeinern. Vermutlich wird ein Wurmforscher ein anderes Schönheitsempfinden in Bezug auf diese Tiere entwickeln als jemand, der seinen Blick gewohnheitsmäßigen von diesen "ekeligen" Würmern abwendet. Vielleicht empfinden wir nur das an der Natur als hässlich, womit wir uns nicht näher beschäftigt haben, sodass wir rein auf unsere instinkthaften Reflexe angewiesen sind, die uns alles sympathisch machen, was dem Kindchenschema ähnelt und z.B. Fischarten, deren Mundwinkel nach unten gehen, als grießgrämig und unattraktiv erleben lassen.
Also müssen wir uns wohl mit der relativen Fassung des Schönen zufriedengeben. Unsere unterschiedlichen Wahrnehmungsorgane und Verarbeitungsprozesse im Gehirn sowie unsere lebensgeschichtlichen Prägungen - die Werte und Urteile der Menschen, mit denen wir aufgewachsen sind und mit denen wir in unseren Ausbildungen zu tun hatten - bewirken, dass sich in jedem Menschen unterschiedliche Präferenzen ausbilden, die sich im individuellen Schönheitsbegriff ausdrücken. Schön ist das, was unseren Sinnen wohlgefällt, was uns interessiert und zugleich entspannt. Und das ist in hohem Maß interindividuell variabel und verändert sich zudem im Lauf des jeweiligen Lebens, abhängig von den Erfahrungen, die wir im Bereich des Ästhetischen machen.
Schönheit ist ein Kontext, mit dem wir Erfahrungen einordnen und bewerten. Es ist also keine Eigenschaft, die den Dingen selbst anhaftet und von ihnen nur abgelesen werden müsste. Wir machen Schönheit, indem wir Erfahrungen auf einer Skala von schön bis hässlich lokalisieren, gemäß unserer inneren Empfindungsresonanz zwischen angenehm und unangenehm.
Schönheit in der Begegnung
Soweit können wir der konstruktivistischen Idee der Schönheit folgen. Es gibt dazu allerdings noch eine weitere Dimension, die die Frage nach dem Absoluten in der Schönheit, also nach dem Unbedingten und Verbindlichen im Schönen nicht als hoffnungslos überholt und überflüssig erscheinen lässt.
Wir haben am Beispiel der Naturerfahrung festgestellt, dass die bewusste Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, also das aufmerksame Erfahren und Erkunden, das Schönheitserleben verändert. In diesem Vorgang schließen wir mehr des Äußeren in unseren Innenraum ein und erweitern unser Vertrauen in unsere Umgebung. Wo Unbekanntes und Fremdes war, wird jetzt Bewusstes, Bekanntes und Vertrautes. Und Vertrautes erscheint uns leichter als schön als Fremdes, noch dazu, wenn dieses als gefährlich oder bedrohlich erlebt wird.
Der Weg des bewussten Wahrnehmens ist der Weg, mit mehr und mehr von dem, was uns die Wirklichkeit anbietet, Freundschaft zu schließen und dabei das Fremde in das Vertraute zu verwandeln. In jeder Erfahrung, die wir unter diesen Vorzeichen machen können, verschiebt sich der Fokus der Schönheitserfahrung vom Objekt auf die Beziehung: Die Erfahrung des Schönen ist eine schöne Erfahrung. Ähnlich wie wir den Austausch mit einem Menschen, der vielleicht nach gängigem Schönheitsideal als hässlich einstufen, als wunderschön erleben können, lösen wir den ausschließlichen Blick auf die Äußerlichkeit des Äußeren und verbinden ihn mit dem Blick auf die Innerlichkeit des Äußeren. In diesem Akt des Vertiefens ist es der Austausch selbst, der die Qualität des Schönen bekommt.
Ein neuer Begriff des Schönen taucht an dieser Stelle auf: Schönheit liegt im Vollzug der Wirklichkeit, im Prozess der Entwicklung und Veränderung, im Miteinander-Erschaffen (Ko-Kreativität) von Realität. Schönheit ist ein Geschehen und keine Eigenschaft, ist beweglich und nicht statisch, ist interaktiv und monologisch.
Auf diese Erfahrungsqualität bezieht sich Rilke mit der berühmten Zeile aus einem Sonett: "da ist keine Stelle, die dich nicht sieht." Es ist also das Kunstwerk, das den Betrachter in Bann zieht und im Blick fixiert. Und das hat Folgen für diesen, deshalb setzt Rilke mit Pathos fort: "Du musst dein Leben ändern." Genauer besehen, hat sich das Leben in diesem Moment schon geändert.
Es geht also nicht um ein Taxieren eines Objekts, wie bei einem Kunstmakler, der den Marktwert und die Kapitalchancen eines Kunstwerks abschätzt, sondern ein in die Tiefe gehendes Begegnen mit dem, was gerade da ist. Das Kunstwerk steckt im Erleben des Moments. Wir schließen dabei Frieden mit der Wirklichkeit, und das ist die eigentliche Schönheitserfahrung, die in jeder Suche nach dem Schönen steckt: Was ist, darf so sein, wie es ist, und darf sich so verändern, wie es sich verändert. Dann verschwindet der Unterschied zwischen Erlebendem und Erlebten, wir fallen gewissermaßen ins Dazwischen, und in die Erfahrung einer unbegrenzten und unbedingten Schönheit.
Hier haben wir den Bereich des Relativen verlassen. Wir sind im Lebensvollzug als solchem, in dem das Bedingte und Eingeschränkte, das Definierte und Bewertete, keine Rolle mehr spielt. Alles, was wir in seiner ihm eigenen Intensität und Tiefe erleben können, ist unermesslich schön, weil wir ihm in unserer eigenen unermesslichen Schönheit begegnen. Die absolute Schönheit entsteht in diesem Zusammentreffen, das sich im Moment des Aufeinander-Einlassens vollzieht und ist im nächsten Moment, in dem wir uns in unsere abgekapselte Ichhaftigkeit zurückziehen, schon wieder verschwunden.
Die absolute Schönheit kann also, wie alles andere, was wir als absolut erleben, nicht festgehalten werden. Wir können ihrer nicht habhaft und in ihr nicht sesshaft werden. Allein dadurch, dass wir unser Heim mit schönen Gegenständen und Kunstwerken vollräumen, wird unser Leben nicht schöner, außer wir nutzen die Objekte, um unser Inneres mit ihnen zu teilen, dann sind wir im Paradies der Schönheit. Und dafür braucht es nicht einmal die besonderen und herausragenden Kulturgüter oder die erlesenen und abgelegenen Naturschönheiten. Dieses Paradies können wir in jeder noch so winzigen und unscheinbaren Begegnungserfahrung mit der Wirklichkeit machen: Mit dem Wunder eines Wurms, der sich im Erdreich verkrümelt, oder eines Windhauches, der an der Nase vorbeistreicht, eines Lächelns, das uns geschenkt wird und einer Stimmung, die uns mit uns selbst verbindet.
Das heißt nicht, dass wir der Kunst in ihrer ausgeprägten Form keine Bedeutung geben müssten; vielmehr bietet sie in ihren verschiedenen Formen einen vorzüglichen Zugang zu der oben beschriebenen Erfahrungsqualität. Die Künstler konfrontieren uns konzentriert und kompromisslos mit dieser Auseinandersetzung, sie fordern uns heraus, unsere Widerstände und Gewohnheiten aufzugeben und neu und leer zu werden. Für viele Menschen ist die Kunst die einzige ihnen mögliche Zugangsart zum Absoluten. Wollen wir jedoch die Erfahrung des Absoluten tiefer und weiter in unserem Leben verankern, so nutzen wir die Kunsterfahrung und das Kunsterleben, um es auf die großen und kleinen Dinge unseres Lebens zu übertragen.
Schönheit als Hoffnung
Dostojewski hat einmal geschrieben: "Schönheit wird die Welt retten." Vielleicht dienen die oben dargestellten Gedanken dazu, dieses Zitat besser zu verstehen: Die Erfahrung der absoluten Schönheit immunisiert uns gegen alle Bestrebungen des Bösen: der Gewalt und der Zerstörung. Das Böse ist in diesem Verständnis nichts als die verzweifelte Suche nach dem Schönen, das aus Angst am falschen Ort gesucht wird, wie der Attentäter, der ein besseres Leben schaffen will, indem er andere und das eigene auslöscht.
Vgl. Aus Unterschieden lernen
Der menschliche Körper und die Bewusstseinsevolution
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