Dienstag, 16. Juli 2024

Faschismus - eine Annäherung an den Begriff

Rechtsextreme Strömungen sind im Aufwind, lesen wir jeden Tag. Woran erkennen wir, zu welchem Teil des politischen Spektrums eine bestimmte politische Partei gehört? Und was hat der Begriff Faschismus damit zu tun? In der aktuellen Debatte werden immer wieder den Begriff des Faschismus verwendet, ohne dass es klar ist, was damit gemeint ist. Denn auch die Rechte nutzt den Begriff, indem sie z.B. vom Woke-Faschismus oder vom Linksfaschismus spricht. Wir werden uns deshalb hier etwas eingehender mit dem Faschismus und seinen Grundelementen beschäftigen und dazu auch psychologische Hintergründe beleuchten. Damit kann mehr Klarheit geschaffen werden, um den Begriff treffsicher und sinngetreu zu verwenden, statt ihn bloß als Waffe im ideologischen Kampf zu benutzen.

Ich nutze hier eine Sammlung von zentralen Elementen, mit denen Jason Stanley, Philosophieprofessor in Yale, in einem Artikel im Standard den Begriff „Faschismus“ bestimmt hat. Wie wir wissen, stammt der Ausdruck aus Italien, wo er nach dem ersten Weltkrieg von Mussolini und seinen Parteigängern geprägt wurde. Er kommt aus der römischen Bezeichnung für die Rutenbündel der Liktoren, den fasces. Diese symbolisierten seinerzeit die Macht über Leben und Tod.

In der historischen Forschung ist der Begriff umstritten, weil er nur von Mussolinis Partei verwendet wurde. Doch gibt es gerade in der Zwischenkriegszeit eine Reihe anderer Bewegungen, die sich am italienischen Faschismus orientiert haben. Auch heute noch übt das Modell für viele eine große Anziehung aus, obwohl sich die Zeitbedingungen sehr verändert haben. Es sind aber die emotionalen Kernthemen, die unverändert attraktiv sind.

1) Das erste Element des Faschismus besteht in der Verklärung einer mystischen oder mystifizierten Vergangenheit. Was war, war auf geheimnisvolle Weise besser und muss deshalb wiederhergestellt werden. Alles, was schlecht in der Vergangenheit war, wird ausgeblendet und in die Gegenwart eingeblendet. Damit werden rückwärts gewendete Sehnsüchte von Menschen bedient, die glauben, dass sie im Vergleich zur Vergangenheit verloren haben – an Wohlstand, Sicherheit, Status. Es handelt sich im Grund um eine Form der Verklärung der Kindheit, die besonders bei Menschen auftaucht, die eine schwere Kindheit hatten, aber sich einbilden und einreden können, dass sie wunderbar war. Die Verdrängung des Leides der Vergangenheit wirkt in diesen Fällen so, dass Leid nur in und an der Gegenwart wahrgenommen wird.

2) Das zweite Element besteht im hemmungs- und schamlosen Einsatz von Propaganda, bei der es nicht um Wahrheit geht, sondern um den Gewinn von Sympathie. Fakten zählen nicht, wichtig ist nur, dass Anhänger mobilisiert und abhängig gemacht werden. Sie sollen auf einer emotionalen Ebene erreicht werden, indem ihr Zorn und Hass durch manipulierte Informationen mobilisiert wird. Dazu ist jedes Mittel recht. Lügen und Faktenverdrehungen werden systematisch und skrupellos eingesetzt. 

Wer von Kindheit an gewohnt ist, manipuliert, belogen und getäuscht zu werden, verliert das Gespür für den Unterschied zwischen wahr und falsch und glaubt, dass jeder Mensch egoistisch mit allen Mitteln der Wahrheitsverdrehung zu seinem Vorteil kommen will, und deshalb bleibt einem selbst nichts anderes übrig, als genauso vorzugehen. Selbstsüchtige Eltern prägen selbstsüchtige Kinder.

3) In die gleiche Kerbe schlägt das nächste Element, der Anti-Intellektualismus. Alle, die im Bildungssystem zu kurz gekommen, benachteiligt oder abgewertet wurden, finden ein Ventil für die Kränkungen im faschistischen Affekt gegen die „Eliten“, die Oberen, die Besserweggekommenen, die überheblichen Besserwisser. Sie sollen gedemütigt und entmachtet werden, als Rache für die eigenen Frustrationen. Der Generalverdacht und die Feindschaft gegen die Wissenschaften haben hier ihre Wurzeln.

Statt wissenschaftliche Forschungsergebnisse zu nutzen, wird an Verschwörungstheorien geglaubt, die einfache Welterklärungsmodelle liefern, z.B. eine kleine Gruppe von Menschen regiert heimlich die ganze Welt. Abgesichert werden diese Theorien mit paranoiden Konstruktionen: Alles, was der Theorie widerspricht, oder alle, die dagegen sind, sind selber Teil der Verschwörung. Es gibt keine Korrekturmöglichkeiten bei diesen Theorien, sie gelten absolut und geben deshalb eine Sicherheit gegenüber den Wissenschaften, die alles in Frage stellen.

4) Beim nächsten Element geht es um die Betonung gesellschaftlicher Hierarchien, also um eine klare Abstufung von Über- und Unterordnung. Die Gedanken von Gleichheit und Gleichberechtigung werden abgelehnt, weil sie Unsicherheit erzeugen. Hier drückt sich der Wunsch nach einer eindeutigen Elternautorität aus, die in der Kindheit gefehlt hat. Die Demokratiefeindlichkeit der Faschisten ist die größte Gefahr, die von ihnen ausgeht, denn sie will der Willkür, die sich hinter den Bestrebungen nach klaren Hierarchien versteckt, Tür und Tor öffnen.

Demokratie wird in der Kindheit gelernt, oder sie wird nicht gelernt. Eltern, die ihre Kinder grundsätzlich achten und ihnen auf verschiedenen Ebenen als gleichrangig begegnen, geben ihren Kindern ein Wert- und Toleranzgefühl mit, das ihnen hilft, intuitiv die Grundidee der Demokratie zu verstehen. 

5) Daran reiht sich das nächste Element an: Der Ruf nach Recht und Ordnung. Da die Gegenwart als unsicher erlebt wird, muss die Exekutive gestärkt werden, die jede Störung der vorgegebenen Ordnung unterbindet. Damit soll die Gesellschaft auf ihrem gegenwärtigen Stand eingefroren werden, weil jede Veränderung noch weiter von der heilen Vergangenheit wegführen würde. Die Beschwörung von law and order kann so weit gehen, dass die rechtsstaatlichen Normen oder die Menschenrechte missachtet werden (vgl. den Ruf nach der Aufhebung des Asylrechts, der von rechtsgerichteten Parteien erhoben wird, oder die Eingriffe in die Unabhängigkeit der Rechtsinstanzen in Ländern, die von rechten Parteien regiert werden, oder der Sturm auf das Kapitol nach der Abwahl von Trump in den USA).

Erwachsene, die als Kinder in einem Regime von absolut geltenden Regeln aufgewachsen sind, neigen einerseits zur Rebellion und andererseits zur Unterordnung. Die faschistische Richtung deckt beides ab: Rebellion gegen die „Eliten“, also die ungerechten und selbstsüchtigen Eltern, und Unterordnung unter die Partei oder die Führer, die die guten Eltern repräsentieren, die man sich immer gewünscht hat.

6) Faschisten und Anhänger des Faschismus fühlen sich immer in einer Opferrolle – historisch betrachtet als Angehörige einer Nation, der Ungerechtigkeit widerfahren ist, oder sozial als Mitglieder einer Schicht oder Gruppe, die benachteiligt ist. Die angenommene Opferrolle kann nur durch die Übernahme einer Täterrolle ausgeglichen werden, und das ist die Wurzel der Gewaltbereitschaft, die Teil aller faschistischen Bewegungen ist.

Auch hier ist wieder einsichtig, dass die Opfererfahrung als Kind (z.B. durch eine Form des Missbrauchs) auf die eigene Gesellschaft als ganze übertragen wird.

7) Das nächste Element bezieht sich auf die Rolle der Sexualität. Hier wird einem patriarchalen Muster gefolgt, das in diesem Bereich Sicherheit geben soll. Es bleibt die Welt der Männer starr getrennt von der Welt der Frauen, und ebenso starr soll die Machtverteilung mit der Bevorzugung der Männer bestehen bleiben. Deshalb werden alle Bestrebungen des Feminismus ebenso bekämpft wie die Homosexualität und alle nichtbinäre Formen sexueller Orientierung. 

8) Ähnlich wie die Verklärung der Vergangenheit wirkt die Verherrlichung des Landlebens, das mit einer „natürlichen“, „gesunden“ Lebensform in Verbindung gebracht wird. Aus den Städten kommt alles Schlechte, sie sind der Ursprung von allem Unheil und vom Verfall der Sitten. Das wirkt wie ein Nachhall aus der Entstehung des Kapitalismus, durch den viele ihr Land verlassen mussten, um in den Städten Arbeit zu finden und in erbärmlichen Wohnverhältnissen zu leben. Das Leben am Land wird als Idyll gesehen, wie eine schöne Kindheit, die es nie gegeben hat oder die für immer verloren ist. 

In diesem Aspekt knüpft der Faschismus an die Strömungen der Romantik an, die zu Beginn der Industrialisierung mit der Idealisierung der Vergangenheit und des ländlichen Glücks ein melancholisches Zeitgefühl wiedergegeben haben. Die Romantik war im 19. Jahrhundert aber mit dem Liberalismus in der Ablehnung von autoritären Obrigkeiten verbündet. Dieser herrschafts- und machtkritische Aspekt ist in der faschistischen „Romantik“ völlig verschwunden.

9) Schließlich gibt es in der Vorstellungswelt der Faschisten einen klaren Unterschied zwischen den „Anständigen“ und „Fleißigen“ und den „Unanständigen“ und „Faulen“. Die Anhänger dieser rechtsextremen Richtung sehen sich auf der einen, der sauberen Seite und verachten die anderen, die sich nicht ihren Vorstellungen von Rechtschaffenheit und Fleiß fügen, die allerdings oft nur oberflächlich behauptet und vertreten werden. Denn auch Vertreter des Faschismus, die den Anstand im Mund führen, verhalten sich oft schamlos, wenn es um Gewalt oder Sexualität geht, oder liegen auf der faulen Decke, ohne zu merken, dass sie auf der Seite jener gelandet sind, die sie verachten. Das binäre, dichotome Schema ist typisch für ein faschistisches Weltbild, das immer eine Eindeutigkeit vorgeben möchte, die es in der Wirklichkeit nie gibt.

10) Mir erscheint noch ein weiteres Merkmal wichtig: Die Abneigung gegen Kunst, vor allem was ihre modernen Strömungen anbetrifft. Offenbar bedrohen Kunstrichtungen, die die normalen Wahrnehmungsgewohnheiten herausfordern, das Sicherheitsgefühl, das für Menschen mit faschistischen Neigungen das wichtigste ist. Außerdem kann die Kunst nie in ein Schwarz-Weiß-Schema von Gut und Böse eingepasst werden, wie es von Faschisten bevorzugt wird, sondern sie hat die Aufgabe, die Übergänge, Schattierungen und Nuancen darzustellen und dadurch die Rahmensetzungen, die durch die Konventionen errichtet wurden, zu überschreiten und zu sprengen. Die Verunsicherung, die jede Form von lebendiger Kunst auslösen will, ist allen Faschisten ein Dorn im Auge. Die Ursache für den Hass auf neuartige Kunstwerke kann in der Unterdrückung der kindlichen Kreativität durch verständnislose Eltern gefunden werden.

Aus all diesen Elementen wird klar, dass der Faschismus mit der Demokratie nicht verträglich ist. Genauer gesagt, sind seine Programme antidemokratisch. Alle faschistischen Bewegungen streben danach, die Macht bei sich zu monopolisieren, um dann die Demokratie abschaffen zu können, die durch ein autoritäres System ersetzt werden soll. Deshalb können demokratische Systeme nur dann überleben und weiterentwickelt werden, wenn der Einfluss der Rechtsparteien zurückgedrängt und verkleinert wird. Unabhängige Medien, die der Faktizität verpflichtet sind, unabhängige Wissenschaften, die die hohen Standards der Forschung folgen, und das Aufwachsen von jungen Generationen, die die Werte der Freiheit und Toleranz zu schätzen wissen und gegenüber propagandistischen und ideologischen Verführungen eine kritische Distanz wahren können, sind Garanten für den Fortbestand der Demokratie und für die Eindämmung der rechten Demokratiefeinde.

Der Faschismus und die mit dieser Ideologie verbundenen Rechtsparteien können außerdem wegen ihrer Rückwärtsgewandtheit und Wissenschaftsfeindlichkeit keine Lösungen für aktuelle und für voraussehbar kommende Probleme anbieten. Empirisch konnte nachgewiesen werden, dass rechtsgerichtete Regierungen in der Regel mit ihrer Wirtschaftspolitik die soziale Ungleichheit verstärken, also die wirtschaftliche Lage ihrer Anhänger verschlechtern. Rational betrachtet, gäbe es für niemanden einen Grund, rechte oder faschistische Parteien zu wählen. Deshalb liegt die einzige Chance für faschistische Strömungen, um an die Macht zu kommen, darin, die Gefühle der Menschen mit allen Mitteln der Propaganda und des systematischen Lügens zu manipulieren. Und deshalb liegt das Hauptgegengewicht gegen die rechten Strömungen nicht nur in der Aufrechterhaltung der Rationalität und des vernunftgeleiteten Diskurses, sondern auch in der Bewusstmachung und Aufarbeitung der emotionalen Hintergründe und Triebkräfte, die Menschen nach rechts abdriften lassen.

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