Samstag, 1. Juni 2024

Selbsthass und Körperscham

Der eigene Körper zählt zu den Vorgegebenheiten unseres Lebens, auf die wir nur einen geringen Einfluss haben. Unsere Augen- und Haarfarbe, unsere Körpergröße und die Form der Schönheit unseres Äußeren sind durch die genetischen Anlagen vorbestimmt. Sicher gibt es noch weitere Einflüsse auf unsere Außenerscheinung, wie z.B. die Ernährung oder die emotionale Stabilität, mit der wir aufgewachsen sind. Es gibt auch Korrekturmöglichkeiten für körperliche Mängel durch die moderne Medizin. Aber all diesen Eingriffen sind Grenzen gesetzt, die in unserem Genom festgelegt sind.

Die Kultur ist Trägerin von Wertmaßstäben und Idealen, was den menschlichen Körper anbetrifft. Körperliche Fitness z.B. ist ein moderner Standard. In früheren Zeiten war ein beleibter Körper Anzeichen von Wohlhabenheit, heutzutage gilt er als Hinweis auf schlechte Essgewohnheiten und mangelnde Bewegungsfreude. Die Schlankheit als Markenzeichen weiblicher Schönheit hat sich erst dann als Idealmaß etabliert, als sich durch den Einfluss der Empfängnisverhütung die kulturellen Bilder von Weiblichkeit und Fortpflanzungsfähigkeit entkoppelt haben. 

Psychologen haben festgestellt, dass es Menschen, deren Äußeres nach den gängigen Maßstäben als schön wahrgenommen wird (und das sind nach anderen Forschungen ca. 10 Prozent), leichter haben im Leben. Ihnen wird grundsätzlich mehr Vertrauen entgegengebracht als hässlichen Personen. Sie finden leichter eine Arbeit und einen Partner. Für Menschen, die dem Ideal weniger entsprechen, gibt es dann nur die Möglichkeit, den Leistungsidealen, die ebenso von der Kultur vorgegeben sind, zu entsprechen, und auf diese Weise Anerkennung zu erlangen. Nach wie vor sind in vielen Bereichen die Männer vor den Frauen bevorzugt. Männer, die es zu Ruhm oder Geld gebracht haben, wirken relativ unabhängig von ihrem Äußeren auf Frauen attraktiv, während reiche Frauen ohne äußere Zier viel schlechter bei den Männern  ankommen.

Als Mängel und Schwächen wahrgenommene Aspekte der eigenen Körperlichkeit sowie nicht erreichte Schönheits- oder Leistungsideale geben Anlass für Scham und Selbsthass. Ein Körper, für dessen Aussehen man keine Verantwortung hat, der einem aber nicht gefällt, wie er ist, kann für den Verstand zum Objekt für eine permanent wirksame Selbstablehnung werden, die kontinuierlich den Selbstwert untergräbt. Auf diesen einzigen Körper, den wir haben, wird das ganze Unglück projiziert, das erfahren wird und mit jedem Blick in den Spiegel Bestätigung findet. Der Hass drückt die Spannung zwischen der Ohnmacht und dem Selbstvernichtungswunsch aus.

Mediale Ideale

Die allgegenwärtige Medienwelt, in der wir uns tagtäglich aufhalten, verstärkt und verschärft die Idealansprüche, die den Menschen auferlegt werden und denen sie sich oft leichtfertig unterordnen. Viele Menschen machen ihren eigenen Körper zum Schauobjekt auf diversen Plattformen, und die Aufrufe und Likes, die dafür einlangen, bestimmen den Selbstwert und die Selbstachtung. Manche Leute schönen die veröffentlichten Bilder von sich selbst mittels Bildbearbeitung und künstlicher Intelligenz und schaffen sich damit ein Doppelleben – ein reales mit einem ungenügenden Körper und ein virtuelles mit dem idealen Aussehen. Die irreale Präsenz in der Welt der sozialen Medien soll das quälende Schamgefühl ausgleichen, das das Leben in der realen Welt kennzeichnet. Je mehr Zeit mit dem selbstgeschaffenen Bild von sich selbst verbracht wird, desto realer wird es im eigenen Kopf und desto schemenhafter wird die wirkliche Wirklichkeit, bis die Abwehr des Schamgefühls in Wahnvorstellungen mündet.

Auch hier handelt es sich um verinnerlichte fremde Stimmen, die das körperliche Selbstempfinden dominieren. Die kulturellen oder subkulturellen Gebote sind besonders dann wirksam, wenn zunächst der Selbstbezug und daraus dann der Selbstwert von früh an geschwächt wurden. Zuerst sind es die abschätzigen Blicke der Eltern, die das Schamgefühl auslösen, dann die Begutachtungen durch die Gruppe der Gleichaltrigen und schließlich die medialen Scheinwelten, die das Innenempfinden in Geiselhaft nehmen. Die Menschen orientieren sich in ihrem Aufwachsen zunehmend an äußeren Instanzen, weil die innere Sicherheit für Werthaltungen und Normen schon von den Anfängen her geschwächt ist. Es sind dann andere, an die die Zuständigkeit für die Bestätigung des Eigenwertes abgetreten wird, in dem Fall die anonyme Mächte der kulturellen Normen. So zu sein und dem zu entsprechen, wie es diese Werte verlangen, wird dann zur existenziellen Notwendigkeit. Denn es droht beim Nichterreichen dieser Ideale die Existenzscham mit ihrer Wucht, begleitet vom Selbsthass auf das Äußere. Die äußere Körperform ist nun mit dem gesamten unsicheren Selbst aufgeladen.

Von dieser Gefühlsdynamik wird eine riesige und stetig wachsende Industrie für Kosmetika, Schönheitsmittel und -operationen, Beauty-Wellness sowie der gesamte Wirtschaftssektor der Mode in Betrieb gehalten. Die Glitzer- und Glamourwelt, die immer wieder neue Leitfiguren hervorbringt, lebt von diesen Mechanismen und befeuert und belebt sie auch dadurch, dass sie in den jungen Leuten die Hoffnung weckt, nach oben kommen zu können, zu den Schönen und Reichen zu zählen und die allgemeine Bewunderung zu ernten – oder die Ängste schürt, es nicht zu schaffen und in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.

Das Schöne an der Schönheit

Natürlich spielen viele andere Motive und Bedürfnisse im Umfeld der Schönheitsbegriffe mit. Die Menschen wollen sich aus vielen Gründen schön machen, sie wollen füreinander ihre Schönheit teilen, anerkennen und anerkannt werden. Viel Kreativität findet in diesen Bereichen Ausdruck. Es gibt auch wichtige Zusammenhänge zwischen Schönheit und Gesundheit. Das Äußere eines Menschen kann wegen einer Krankheit an Schönheit einbüßen, während ein gesund gehaltener Körper in sich eine Schönheit trägt, die nicht immer mit kulturell geprägten Schönheitsbegriffen gemessen werden kann.

Doch wie in allen menschlichen Angelegenheiten gibt es auch hier Licht- und Schattenseiten. Jede Fixierung auf das Äußere und seinen Glanz oder sein Elend trägt und nährt narzisstische Züge, die durch ökonomische Antriebe und kulturelle noch zusätzlich verstärkt werden. Das nach außen wirksame Bild ist maßgeblich und bestimmt über das Innere. Immer, wenn der Wert der eigenen Innerlichkeit ignoriert wird und der Bezug dazu verzerrt oder unterbrochen ist, entstehen Schamgefühle, und sobald diese Selbstmissachtung als unangenehmes Gefühl spürbar wird, kann die Scham in Selbsthass umschlagen. Die Quelle des Übels ist das unvollkommene Äußere, das der Hass in seiner vorgegebenen Form beseitigen will.

Zum Weiterlesen:
Selbsthass: Sich selbst der ärgste Feind sein
Schönheit wird die Welt retten
Schönheitsideale und Wahrnehmungsschwächen


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