Der Kontrast: Als Standard in unserer Gesellschaft gilt, stark sein zu müssen und keine Schwächen zu zeigen. Um eine Stellung in dieser Gesellschaft zu erlangen, sollen wir also die eigenen Schwächen verdrängen und die Stärken zur Schau stellen. Das ist das Ziel der Erziehung, darin sehen die Erwachsenen ihre Pflicht und Aufgabe, wenn ein hilfloses und bedürftiges Wesen in die Welt kommt: Wie kann es möglichst rasch zu einem unverwundbaren und fähigen Mitglied der Leistungsgesellschaft werden?
Die Diktate der Leistungsgesellschaft
Denn Leistung und Effizienz sind gefragt und gefordert, damit das erwachsene Überleben gesichert werden kann. Folglich arbeiten nicht wenige Menschen buchstäblich bis zum Umfallen und überspielen ihre Krankheiten, bis irgendwann der Körper nicht mehr kann. Den Starken gehört die Welt, die Schwachen müssen sich mit dem zufrieden geben, was übrigbleibt. Stärke heißt dabei, über die Grenzen der eigenen Belastbarkeit hinaus Leistungen erbringen zu können.
Dazu kommt, dass sich die Starken das Recht geben, die Schwachen zu verachten. Bedürftigkeit gilt als Makel, als moralischer Mangel. Wer so viel leistet, verdient nicht nur einen größeren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, sondern es steht ihm auch eine moralische Überlegenheit zu, eine Position, von der aus er auf die, die es nicht geschafft haben, herunterschauen kann.
Rechtspopulistische Politiker bedienen mit Erfolg genau dieses Muster. Sie schüren den Neid auf die Schwachen und fördern die Überheblichkeit der Erfolgreichen. An der Macht, sobalsd sie es also selbst geschafft haben, verteilen sie von unten nach oben, von den ganz Armen und Wenigerbemittelten zu den oberen Mittelschichten, mit ausgewählten Zuckerl und Steuerverschonungen für die „besonders Tüchtigen“, die Reichen und Superreichen.
Wer den Standard der Leistungsfähigkeit nicht schafft, ist selber schuld und soll nicht mehr als eine möglichst geringe „Mindestsicherung“ kriegen, die gerade das Existenzminimum abdeckt. Damit wird die Angst vor dem Abstieg in die Schwäche permanent aktiviert und in den Strebsamen der Leistungsgesellschaft chronifiziert. Die Verachtung des Schwachen rechtfertigt scheinbar den inneren Stress.
Zur Entwicklung der Ideologie der Schwächeverachtung
Als Vordenker dieser Ideologie kann Friedrich Nietzsche gelten. Er schrieb: „Die Schwachen und Missratnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.“ (Der Antichrist, 1. Buch 2.). [Bekannt ist auch das allerdings oft missverstandene und für diesen Zusammenhang nicht brauchbare Zitat: „Was fällt, das soll man auch noch stoßen!“ (Also sprach Zarathustra, Kap. 67, 20)] Nietzsche hat seine Polemik gegen die Mitleidsethik und gegen das Mitgefühl des Christentums gerichtet und damit ein Tabu gebrochen, denn bei Paulus steht: „Was schwach ist vor der Welt, hat Gott erwählt.“ (1 Kor 1,27). Der ungebrochene Wille zur Macht als Kennzeichen des Nietzsche’schen Übermenschen muss alle Hindernisse beseitigen, die eigenen im Inneren und die im Außen, die sein Machtstreben behindern könnten.
Die Nationalsozialisten haben diese Konstrukte aufgegriffen und in ihrem Sinn ideologisiert. Es wurden Bevölkerungsgruppen definiert, die aus ihrer genetisch veranlagten Schwäche und Bosheit die Stärkeren ausnutzen, indem sie als Parasiten, also als biologisches Ungeziefer agieren, und die deshalb unterdrückt oder vernichtet werden müssen. Den Übermenschen, die auch genetisch festgelegt sind, stehen die Untermenschen gegenüber, die ausgebeutet und beherrscht werden dürfen und müssen, da sie sonst das Überleben der Starken gefährden.
Die Aggression gegen die Schwachen
Der Kampf gegen die vermeintlichen Parasiten, die für die Schwächen der Starken verantwortlich gemacht wurden, hat bekanntlich Millionen an Menschenleben gefordert und eine Furche von Grausamkeit und Unmenschlichkeit durch das 20. Jahrhundert gezogen. Am Ende waren die arischen „Übermenschen“ besiegt und ihr Land in Trümmern, doch die Ideologie wurde weiter am Leben erhalten. Denn ihre Ursachen liegen nicht in den äußeren Umständen der Geschichte, sondern im Inneren, in der seit unseren Anfängen grundgelegten Angst, die mit unserer Bedürftigkeit verbunden ist.
Woher kommt also die Aggression gegen die Schwäche, woher kommt der Impuls, alles Schwäche zu schwächen und letztlich zu vernichten? Um ein aktuelles Beispiel zu nehmen: Warum wollen so viele, dass die Mindestsicherung für die Schwächsten der Gesellschaft gekürzt wird, obwohl dabei höchstens Millionenbeträge eingespart werden können, während für Prestigeprojekte und Bankensanierungen in Milliarden gerechnet wird? Warum fällt es so leicht, das eigene soziale Gewissen zum Stillschweigen zu bringen, wenn es um einkommens-, leistungs- und erfolgsschwache Menschen geht?
Die Verachtung erstreckt sich zusätzlich auf die Helfer der Schwächeren. Sie sind ebenfalls Schwächlinge, weil sie das Schwache erhalten, statt es zu bekämpfen und zu beseitigen. Sie handeln nur aus einer eigenen inneren Schwäche. Ihre Hilfe kompensiert nur ihre eigenen Minderwertigkeitskomplexe. Außerdem wollen sie die Gutmenschen sein, indem sie aber nur an die Schuldgefühle der anderen appellieren. Sie verachten also in ihrem blinden Agieren die Verächter der Schwachen, indem sie sich als die moralisch Besseren darstellen.
So wie wir Menschen sind, mischen sich in jedes Handeln, in jede Motivation und Wertsetzung unbewusste Anteile hinein. Wie wir alle, sind auch die „Gutmenschen“ gut darin beraten, ihre eigenen inneren Anteile zu erforschen und zu überprüfen, ob ihre Aktionen aus bedingungsloser Selbstlosigkeit entspringen oder ob sie auch andere innere Antriebe bedienen, die weniger altruistisch sind. Es wäre auch keine Schande, die Egoismen im Altruismus zu enthüllen – die Patina des makellosen Gutmenschen zieht naturgemäß das Misstrauen der weniger Perfekten auf sich.
Es könnte nämlich sein, dass die Helfer die Opfer in ihrem Opfersein unterstützen, statt dafür zu sorgen, dass sie stark werden. Viele Schwache nutzen ihre Schwäche, um Hilfe und Zuwendung zu bekommen, statt sich selbst zu helfen. Darauf zielt der Doppelsinn in dem obigen Zitat von Nietzsche, als Appell an die Schwachen, an die eigene Kraft zu glauben, und als Warnung an die Helfer, die Falle der schwächenden Hilfestellung zu erkennen und zu vermeiden.
Die Selbstverachtung
Die Verachtung für das Schwache stammt aus einer angstgeschürten Verachtung für die eigene Schwäche und Bedürftigkeit. Wir kommen alle als schwache Wesen auf diese Welt, unser Überleben hängt ab vom Wohlwollen unserer Umgebung. Wenn sie uns in unserer Bedürftigkeit annimmt, dann schaffen wir es, sonst ist es zu Ende mit uns. Wir brauchen die bedingungslose Liebe und das bedingungslose Dienen von Menschen, die uns in unserer Hilflosigkeit annehmen. Auf dieser Basis lernen wir, dass Schwäche keine Überlebensgefahr bedeutet, sondern dass uns andere in diesem Zustand helfen können.
Haben wir jedoch diese Hilfe nur in bedingter und begrenzter Form erhalten, wird jede Form von Bedürftigkeit mit Angst verbunden: Ich muss für mich selber sorgen können, alles andere ist nicht in meiner Kontrolle und verunsichert mich. Ich muss mich mit eigener Kraft nach allen Seiten hin absichern, indem ich beständig meine Leistung erbringe und Erfolge erziele. Doch es kann nie genug sein, es gibt keinen Punkt, von dem an ich mich endlich zurücklehnen könnte, um mich sicher zu fühlen. Die übermäßige Leistung kompensiert den Mangel an innerer Sicherheit, der aus der Bedingtheit kommt, in der die ursprüngliche Bedürftigkeit angenommen wurde.
Wer andere verachtet, verachtet sich selbst, in genau dem Aspekt, den er bei der anderen Person abwertet. Er schneidet sich ab von sich selbst, indem er seine eigene Schwäche nach außen projiziert und dort mittels Verächtlichmachung bekämpfen will.
Grenzen respektieren
Wir kennen alle die Schwäche, die Hilflosigkeit, die Bedürftigkeit. Sie steht am Anfang unserer Existenz, sie begleitet uns durch unser Leben, und sie wird uns am Ende auch wieder einholen. Es führt uns nur weg von uns selbst, wenn wir sie zwanghaft überspielen, übervorteilen, übertrumpfen wollen. Unser Körper hat Grenzen in seiner Leistungsfähigkeit, und wenn wir nicht lernen, diese zu erkennen und zu respektieren, bringen wir uns schneller an unser Ende als wir es hoffen.
Deshalb sollten wir uns darin üben, mit unseren Grenzen konstruktiv umzugehen und sie nur in Ausnahmefällen zu überdehnen, damit wir immer wieder in ein inneres Gleichgewicht kommen. Dazu müssen wir das Leistungsmotiv, das uns eingepflanzt wurde, zügeln, indem wir das Schwache und Fehlerhafte, das wir alle in uns haben, das Versagen, die Unvollkommenheit in uns selber annehmen, umarmen und halten.
In der sozialen Wirklichkeit, in der wir uns bewegen, kann die Übung in der folgenden Erkenntnis bestehen: Im schwachen Anderen begegne ich mir in meiner eigenen Schwäche und anerkenne sie. Ich erlaube mir dabei, zugleich meine Stärke spüren und auch die Stärke in der anderen Person anzuerkennen.
Dann kann ich entspannen, wenn ich bedürftigen Menschen im Außen begegne, statt auf sie aggressiv zu reagieren. Dann kann ich es begrüßen, wenn es in einer Stadt Bettler gibt, statt zu fordern, dass sie von den Straßen verbannt werden, damit ich die inneren Konflikte verdrängen kann, die mit dem Thema verbunden sind. Dann setze ich mich dafür ein, dass alle in der Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben führen können, die oben und die unten, und auch alle dazwischen.
Zum Weiterlesen:
Das soziale Gewissen und die Verachtung des Schwachen
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