Donnerstag, 7. März 2024

Das Kämpfen nährt den Kampf

Wenn wir gegen jemanden kämpfen, wollen wir diesen Gegner schwächen, bis er besiegt ist und wir gewonnen haben. Das ist das Ziel jedes Kampfes. Sobald wir mit einem Kampf beginnen, wehrt sich aber der Gegner und sammelt seine Kräfte. Um zu bestehen, muss er über sich hinauswachsen und Energien mobilisieren, die ihm sonst nicht zur Verfügung stehen. Er wird durch unseren Angriff stärker. Es entsteht also ein Paradoxon: Wir wollen den Gegner schwächen und erreichen gerade dadurch, dass er stärker wird. Ähnliches geschieht in uns selber: Wir haben ein Feindbild in uns, mit dem wir unseren Angriff rechtfertigen. Sobald wir erkennen, dass sich der Gegner wehrt, wird dieses Feindbild in uns mächtiger. Das Feindbild wächst mit jedem Schlag, zu dem wir ausholen oder den wir einstecken, und damit ergreifen auch unsere Feindschaft und unser Hass mehr Besitz von uns selber. 

In einem Krieg z.B. wird der Gegner gezwungen, aufzurüsten, wenn er angegriffen wird. Je stärker der Angriff abläuft, desto stärker wird die Gegenwehr und desto zerstörerischer werden die Kämpfe. Gleichzeitig werden die Feindbilder auf beiden Seiten aggressiver und verzerrter. Wir können diese Dynamik bei allen großen und kleinen Konflikten beobachten. Ähnlich manchen Boxkämpfen enden viele Kriege erst, wenn die Kräfte emotional oder physisch erschöpft sind. Dann setzt sich entweder die Seite durch, die den längeren Atem hat, oder der Konflikt endet wie beim Schach mit einem Remis oder Patt.

Die Kampfdynamik wirkt weit, selbst wenn der Gegner besiegt wurde. Die unterlegene Partei muss dafür sorgen, ihre verlorene Würde wiederherzustellen. Sie will wieder zu Kräften kommen und die verlorene Macht neu errichten. In diesem Prozess wird der Drang nach Rache aufwachen und irgendwann in Aktion treten. Die Scham, die die Niederlage bereitet hat, soll durch einen Racheakt ausgeglichen werden, der andere beschämt, indem er sie in die Opferposition bringt. 

Kampf um des Kämpfens willen

Im Kampf geht es nur scheinbar um den Sieg und in Wirklichkeit um das Kämpfen selbst. Wir kennen diese Dynamik von Wettkämpfen oder Konkurrenzspielen. Wir wollen, dass unser Handballteam das gegnerische besiegt; aber die eigentliche Befriedigung liegt im Spielen. Auch wenn wir unterliegen, wollen wir weiterspielen. Das Spannende und Lohnende ist der Wettkampf selbst, nicht das Ergebnis. Hobbyfußballer, die sich auf dem Feld nichts schenken, gehen nachher gemeinsam Bier trinken. Im geselligen Beisammensein wird das Gefälle zwischen den stolzen Siegern und den beschämten Unterlegenen wieder ausgeglichen.

Sportliches Kräftemessen

Sportliches Kräftemessen unterscheidet sich allerdings prinzipiell von anderen Formen des Kampfes, die auf Feindschaft und Hass beruhen. Aktivitäten, die wir aus freien Stücken verfolgen, erleben wir ganz anders als solche, die wir als aufgezwungen erleben und aus denen wir nicht einfach aussteigen können, wenn wir wollen. Der Unterschied liegt also darin, ob die Kontrolle über das Geschehen bei uns liegt oder nicht. In einem Fall sprechen wir von einem guten Stress (Eustress), im anderen vom Distress. Bei Eustress gerät der Körper zwar in einen Anstrengungszustand mit der Aufbietung von Reserven und schüttet dazu das Stresshormon Adrenalin aus, aber mobilisiert zugleich Dopamin, das für Glücksgefühle zuständig ist. Beim Distress folgt auf die Adrenalinausschüttung das Cortisol, das langfristig wirksame Stresshormon, aber kein Dopamin. Hier stehen wir also unter einer Angstspannung ohne jeden Lustfaktor, denn es geht um Leben oder Tod. Die Spannung wirkt außerdem noch über die Kampfsituation hinaus und enthält die Tendenz zur Chronifizierung.

Die Corona-Debatten

In der Corona-Debatte konnten wir beobachten, dass die hitzigen Debatten über das Corona-Management oder das Impfen immer schärfer wurden, je länger sie dauerten. Viele Diskussionen führten nicht dazu, dass sich die Standpunkte nicht annäherten, sondern dass sie sich, aufgeladen durch die aufgeheizten Auseinandersetzungen, immer weiter voneinander entfernten, während der Hass in den unterschiedlichen Lagern wuchs. Je mehr Kampfenergie in die Debatten gepumpte wurde, desto ausdauernd wurde der Kampf. Erst als sich die Pandemie beruhigte und die Erkrankungen weniger und milder wurden, ebbten die Diskussionen ab. Aber auch Jahre danach wirken die Folgen weiter, manche aufgerissenen Gräben in Familien oder Freundesgruppen sind noch immer nicht zugeschüttet.

Das Festhalten am Kämpfen hat viel damit zu tun, die Schmach der Niederlage nicht tragen zu wollen und deshalb bis „zur letzten Kugel“ weiterzukämpfen. Es ist also die vorweggenommene Scham, im Fall des Unterliegens als Schwächling und Versager dazustehen. Diese Dynamik kennen wir von Debatten über scheinbar harmlose Themen ebenso wie von Bürgerkriegen und zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten, die über Jahre und Jahrzehnte brennen und schwelen. Eine verdeckte Form der Schamvermeidung stellt das Wettrüsten zwischen den Großmächten dar.

Die Erkenntnis, dass der Kampf das Kämpfen nährt, liefert keinen zureichenden Grund, gänzlich auf das Kämpfen zu verzichten. Wenn einer Aggression von außen keine Gegenaggression entgegengestellt wird, hat sie die natürliche Tendenz, sich weiter auszubreiten und sich noch mehr Raum einzuverleiben. Aber wir brauchen auch die Bewusstheit über diese Dynamik, weil sie uns darauf hinweist, wann es notwendig ist, auf das Kämpfen zu verzichten. Irgendwann wachsen die Schäden und damit die vielen Formen des Leidens ins Unermessliche, die durch das Zerstörerische am Kämpfen ausgelöst werden. Als Großmut gilt, wenn der Stärkere im Kampf dem unterlegenen Gegner die Hand reicht und ihm auf Augenhöhe begegnet. Der Kampf ist zu Ende, die Menschen können wieder wahrnehmen, dass sie keine Feinde, sondern Brüder und Schwestern sind. Der Zyklus der Rache ist durchbrochen. Nur mit der hohen Tugend des Machtverzichts kann es gelingen, dort einen dauerhaft haltbaren Frieden zu schaffen, wo Feindschaft geherrscht hat. 

Der Nahostkonflikt als Beispiel

Der Gaza-Krieg, der zurzeit wütet, dient aus israelischer Sichtweise dem Ziel, die Hamas zu vernichten. Es handelt sich um einen Racheakt gegen den blutigen und blutrünstigen Überfall der Hamas auf Israel, mit dem solche Überfälle in Zukunft verhindert werden sollten. Eine der modernsten und bestausgebildetsten Armeen der Welt kämpft gegen eine Terrororganisation oder gegen die gewählte Verwaltungsmacht im Gaza-Streifen, je nach Sichtweise. Dieser Krieg dauert nun schon 6 Monate und hat bisher ca. 30 000 Tote und 70 000 Verletzte verursacht, darunter ca. 1200 israelische Tote und 5000 Verletzte. Er spielt sich im Gaza-Streifen ab und hat dort zu massiven Zerstörungen der Wohnanlagen und der Infrastruktur  geführt. 70 Prozent der Gebäude liegen in Trümmern.

Ein neues Kapitel im nun schon über hundert Jahre alten Nahostkonflikt, ohne jede Aussicht auf eine Lösung, ohne Aussicht auf einen Frieden. Spätestens seit der Staatsgründung von Israel 1948 war der Landstrich am Ostufer des Mittelmeers der Schauplatz von vielen Kriegen und spannungsgeladenen Zwischenzeiten. Die Aussicht auf einen dauerhaften Frieden mit einer Zweistaatenlösung hat sich in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts zerschlagen. Jeder Krieg hinterließ auf beiden Seiten tiefe Spuren, jeder Krieg trug zur Vermehrung und Vertiefung des Hasses und damit zur Steigerung der Gewaltbereitschaft bei. Bei den Palästinensern, die in jedem Krieg die Verlierer waren und die durch vielfache Vertreibungen gedemütigt wurden, ist die Last der Scham über mehrere Generationen angewachsen. Bei den Israelis ist parallel dazu die Angst angewachsen. Denn bewusst oder unbewusst stellt es eine enorme Belastung dar, mit Nachbarn zu leben, die voll von Hass und Scham sind. Es ist nur die Frage, wann es zur nächsten aggressiven Explosion kommt. Auch wenn es auf beiden Seiten Menschen gibt, die über diese Gefühlsbelastungen hinausgewachsen sind und sich im offenen Dialog verständigen können, steckt die große Mehrheit in der Geschichte von Verletzungen und Gewalthandlungen fest. 

Es besteht in dieser Gegend seit vielen Jahrzehnten ein Dauerkampf, der manchmal offen ausbricht und ansonsten unterschwellig besteht; es gibt die offenen Aggressionen der Palästinenser und die strukturelle Gewalt der Israelis, die sich gegenseitig befeuern (es gibt dazu noch offene Aggressionen der Israelis mit der Ermordung von über 400 Palästinensern im Westjordanland seit dem 7.10.23). Als scheinbar unvermeidliche Folge der Dauerspannung wächst beständig die Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten. Immer mehr Israels wählen rechte Parteien, die die ihre Feindschaft gegen die Palästinenser offen zur Schau stellen, während auf palästinensischer Seite die radikalen politischen Organisationen immer mehr Zulauf bekommen. Die Dauerspannung wächst also weiter und weiter.

Der israelische Staat kann sich auf eine moderne Wirtschaft und auf die Unterstützung der USA und anderer westlicher Staaten stützen, die seine Existenz garantieren. Die Palästinenser haben große Teile der arabischen Welt auf ihrer Seite, die ihr Überleben auch unter den prekärsten Bedingungen absichern, so gut es geht. Auf diese Weise sind mächtige Staaten und damit viele Volkswirtschaften und Gesellschaften in den Konflikt eingebunden. Wegen der nationalstaatlichen Souveränitäten haben die Außenstehenden aber nicht die Einflussmöglichkeiten, um den Krieg zu beenden und Friedensregeln einzuführen.

Da die Lebenschancen im Gazastreifen durch die Abriegelung nach außen minimal sind, gibt es für viele, vor allem junge Menschen keine Perspektiven für eine kreative Selbstverwirklichung. Deshalb wird es immer wieder Jugendliche geben, die zur Gewalt tendieren und zu den Waffen greifen wollen, um wenigsten ein kleines Machtgefühl zu erlangen. Jeder Tag, den der Krieg andauert, erzeugt neben all dem Leid neue Kampfbereitschaft, die sich irgendwann in der Zukunft ihre Bahn brechen wird.

Der Kampf nährt den Kampf und bringt immer wieder neuen Kampf hervor, solange versucht wird, die Spannungen mit Gewaltanwendung zu lösen. Der gewaltsam niedergerungene Gegner wird irgendwann wieder aufstehen und die angetane Gewalt heimzahlen.

Zum Weiterlesen:
Braucht es einen Krieg? Wer braucht einen Krieg?
Krieg und Scham


1 Kommentar:

  1. Idee : weltweit ausnahmslos
    ALLEN POLITIKER*INNEN
    pro Tag, das Rauchen von
    4 JOINTS, zum
    SEDIEREN verordnen !
    verornen

    AntwortenLöschen