Mittwoch, 8. Mai 2019

Links-Rechts – Versuch einer Unterscheidung

Die Etikettierung “links” und “rechts” wird immer wieder in der politischen Diskussion vorgenommen, in letzter Zeit verschärft um die Variante “linkslinks” (gerne von rechter Seite für die Wochenzeitung “Der Falter” verwendet). In diesem Artikel soll es darum gehen, ein paar Aspekte dieser Gegenüberstellung näher zu beleuchten. Es ist klar, dass es bei dieser Erörterung nicht ohne Pauschalierung geht; es mag “Rechte” oder “Linke” geben, die sich in dieser Charakterisierung nicht wiederfinden. Es gibt Rechte und Linke, die sich selber nicht so einschätzen, aber von vielen anderen so wahrgenommen werden, und es gibt auch das Gegenteil. Ich verhehle nicht, dass ich mehr Sympathien für die linke als für die rechte Orientierung empfinde, aber keinen Bedarf habe, mich irgendwo einzuordnen. Ein Resümee dieser Überlegung liegt darin, dass beide Seite lernen müssen, kognitiv und emotional, wenn sie daran interessiert sind, die Gesellschaft insgesamt zu verbessern, und dass jedes Mitglied der Gesellschaft lernen muss, von beiden Seiten. 

Die klassische Zuordnung und die aktuelle Problematik


Seit der französischen Revolution gibt es die Unterscheidung von links und rechts im Spektrum der politischen Orientierungen. Linker Veränderungswille gegen rechten Wunsch zur Bewahrung des Bestehenden – diese Zuordnung stand am Anfang. Gilt sie auch heute noch?  

Ich schlage hier eine Neudefinition von links und rechts vor, bei der es um die aktuellen Debatten um die weitere Entwicklung der westlichen Gesellschaftsordnungen geht, also in jenen Ländern, die die reichsten der Welt sind. Die Wohlstandssättigung ist zwar relativ, denn nach oben gibt es immer noch Zuwachsmöglichkeiten. Dennoch ist in diesen Ländern der Wohlstand bei so vielen Menschen angekommen wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Dazu kommen noch die hohen sozialen Standards in den west- und mitteleuropäischen Ländern und die weitgehende öffentliche Sicherheit. Was hat die Unterteilung der politischen Landschaft in links und rechts unter diesen Umständen noch zu sagen? 

Links bedeutete seit dem 18. Jahrhundert, auf der Seite der sozial Benachteiligten zu stehen und sich für eine sozialen Ausgleich einzusetzen. Im 19. und 20. Jahrhundert ging es dabei vor allem um die Verbesserung der Rechte der Lohnarbeiter. Je nach Spielart ging es um die Verstaatlichung der Produktionsmittel oder zumindest um eine hohe Besteuerung der Kapitalisten. Die Linken glaubten an den Fortschritt und an eine bessere Zukunft. Rechts war, wer Gott und Vaterland ehrte, alte Werte, Sitten und Hierarchien bewahren wollte, dem Fortschritt nicht traute und sich lieber auf die gute alte Zeit berief und deshalb auch keine grundlegende soziale Veränderung wollte. Dann gab es noch den Liberalismus, der mehr Freiheitsrechte für die Staatsbürger, für die Wirtschaft und die Nationen einforderte. Der Nationalismus, der die eindeutige Zuordnung von Sprach- und Kulturgemeinschaft und Staatsgebiet vertrat, wanderte schon im 19. Jahrhundert von den Liberalen zu den Konservativen und fand dann nach dem 1. Weltkrieg in den faschistischen Bewegungen eine gewaltbereite Form, die in den 2. Weltkrieg mündete. Scheinbar hatte damit der Nationalismus an Anziehungskraft verloren. Ein neuer Konservativismus konzentrierte sich auf den Wiederaufbau und das Vergessen der Schrecknisse und Brutalitäten. Der Liberalismus orientierte sich zunehmend über die Einzelstaatlichkeit hinaus zur Überstaatlichkeit (Gründung der europäischen Gemeinschaft) und wirtschaftlichen Globalisierung. 

Mittlerweile haben sich die Bedeutungen der politischen Zuordnung neulich gewandelt. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari schreibt in seinem Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ davon, dass sämtliche seit dem 18. Jahrhundert gebräuchlichen „Erzählungen“, also die vorherrschenden Ideologien, ausgedient haben: Die nationalistisch-faschistische hat sich mit dem Nationalsozialismus, dem Holocaust und den Trümmern des 2. Weltkriegs diskreditiert, die kommunistische ist 1989 in sich zusammengebrochen und die liberale hat durch die Abspaltung der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin und schließlich durch die Erfolge des Populismus verloren.  

Die „Sieger“ dieser Bewegung, der US-Präsident Trump, der russische Präsident Putin und die Brexiteers haben zwar wichtige Machtpositionen gewonnen, sie können aber keine Erzählung vorweisen, außer die der Korruption, Selbstbereicherung und Machtgier. Sie haben keine Visionen für die Zukunft mit ihren Verteilungs- und Nachhaltigkeitsproblemen und für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschheit. Sie bedienen Emotionen, die die Probleme mit einem einfachen „Raus“ lösen wollen: Raus aus der EU, ohne zu wissen, was dann kommt, raus mit den Ausländern, ohne zu wissen, wie das Bevölkerungsproblem gelöst werden kann, raus mit den Liberalen, ein Hauptanliegen des ungarischen Ministerpräsidenten, raus mit den 68ern, ein Hauptanliegen der europäischen Rechtsparteien, usw. Die Idee dabei ist es, dass wenn das „Raus“ gelungen ist, alles besser wird. In Hinblick auf den Brexit ist es mittlerweile für jeden Beobachter einsichtig, welche Chaotik mit einer blinden, verantwortungslosen und kurzsichtigen Entscheidung, hinter der keine Strategie und keine Vision steckt, anrichtet werden kann. Und die Demagogen in all den anderen Ländern, in denen sie an die Macht gekommen sind, haben außer patzigen Reden und Besetzen von einflussreichen Posten keine besonderen politischen Erfolge noch inspirierende Zukunftsvisionen vorzuweisen. 

Psychologie der einfachen Rezepte 


Die Psychologie findet ein reichhaltiges Betätigungsfeld in diesem komplexen Szenario. Allein die Narzissmusforschung bekommt tagtäglich neues Futter durch die Äußerungen und Taten der diversen Potentaten. Nicht selten gehen Menschen in die Politik, um ihre Komplexe ausagieren zu können. 

Hier ein weiteres Beispiel zum Verständnis der “Raus”-Dynamik: Die Vorstellung, etwas, was da ist und den eigenen Vorstellungen im Weg steht, zu beseitigen, um damit Freiheit zu gewinnen, ist emotional einleuchtend und psychologisch verständlich. Vergegenwärtigen wir uns einfach diesen Zusammenhang: Wir alle haben eine Geburt hinter uns und wollten da natürlicherweise die Probleme, vor allem die räumliche Enge gegen Ende der Schwangerschaft, durch das Raus aus der Enge der Gebärmutter lösen. Wir haben uns nicht überlegt, wie es dann weitergeht, warum auch. Wenn wir dieses simple Muster nun auf die komplexen Situationen der Erwachsenenwelt umlegen, können wir nur Schiffbruch erleiden. Denn zum Unterschied von der Geburtssituation haben wir eine Verantwortung für das, was nach unseren Entscheidungen kommt und sollten uns vorher überlegen, was die Resultate sind. Schnellschüsse gehen meist nach hinten los, vor allem wenn sie von Emotionen angetrieben sind. 

Prä- und Postfaschisten 


Der Faschismus markiert aus vielen Gründen eine Zäsur in der europäischen Geschichte. Ich schlage deshalb die folgende erneuerte Unterscheidung von links und rechts vor, in Hinblick auf die Geschichtstherapie, die auf diesen Seiten mehrfach angesprochen wurde. Geschichtstherapie heißt, dass das Potenzial zur Gestaltung der Zukunft aus der Aufarbeitung der kollektiven Traumatisierungen und Belastungen aus der Vergangenheit erwächst. Es geht in unserer Geschichte bei der Einteilung von links und rechts im politischen Sinn vor allem um die Aufarbeitung der Erfahrungen des Faschismus vor 80 Jahren: Links sind Menschen, die eine postfaschistische Gesellschaft wollen und rechts die, die eine präfaschistische Gesellschaft wollen. An den Extremen gibt es dann Auffassungen, die entweder eine neue Form des Faschismus propagieren und die alte verherrlichen oder die Sehnsucht nach der Rückkehr einer kommunistischen Diktatur. Das sind Randphänomene, die aus eben diesem Grund verstärkt zur Gewalt als Mittel der Durchsetzung ihrer Ideen setzen, nach allen Statistiken der letzten Jahre weitaus häufiger auf der rechten als auf der linken Seite. 

Linke sind in der politischen Diskussion jene Menschen, die für eine tiefgehende Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit eintreten, damit die Gesellschaft frei wird von den Lasten der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft, die zu mehr Gerechtigkeit und Gleichheit führen soll. Rechte sind solche, die eine Aufarbeitung der Vergangenheit für unnötig halten und ihren Sprachschatz aus dieser Zeit beziehen und deren Ideen für die Gestaltung der politischen Ziele nutzen. Von ihrer Seite ist häufig zu hören, man solle endlich aufhören, in der Vergangenheit herumzugraben; andererseits werden die Rechten immer wieder dabei ertappt, dass sie sich genau dieser Vergangenheit im Denken und Reden bedienen. Abgeändert auf die aktuelle Situation, werden die alten Vorurteile des Antisemitismus auf den Islam übertragen, dessen Vertreter mit einem Hass und einer Angstmache bedacht werden, der jenem ähnelt, der die Juden in Nazi-Deutschland der Vernichtung auslieferte. Feindbilder werden aus solchen Ängsten abgeleitet und aufgebaut, um der Politik die Kampfziele vorzugeben. 

Die Einseitigkeit des Diskurses 


Der eklatante Mangel an Intellektualität auf der rechten Seite macht die Linke hilflos, weil es keine ebenbürtige Diskursebene mit den Rechten gibt. All ihre Überzeugungskraft, all ihr humanistisches Engagement trifft auf keine Resonanz, die Antworten kommen statt dessen oft unter der Gürtellinie. Die Linke kann sich auf eine lange Tradition von Dichtern und Denkern berufen, und auf die Nähe zu den Liberalen, mit denen “ein Stück des Weges” gemeinsam gegangen werden kann. Die Linke hat viele wegweisende Intellektuelle hervorgebracht, und viele prominente Intellektuelle hegten und hegen Sympathien für die Linke. Dennoch kann sie dieses geistige Potenzial nicht für Erfolge bei der Masse der Wähler nutzen. 

Auf der rechten Seite herrscht eher gähnende Dumpfheit in diesem Bereich. Manche der Rechten berufen sich auf Friedrich Nietzsche als Ahnherrn für ein rassistisches Denken und müssen bei näherer Beschäftigung mit dem Philosophen des Hammers schnell die Segel streichen. Die Identitären beziehen sich auf Carl Schmitt, einen nationalsozialistischen Staatsrechtler, und Ernst Jünger, einem nationalistischen Schriftsteller der Zwischenkriegszeit. Auch Antonio Gramsci, ein italienischer marxistischer Schriftsteller, der von den Faschisten eingesperrt wurde, wird mit seiner Theorie der kulturellen Hegemonie verwendet, aus der die in vielerlei Hinsicht absurde Idee der völkischen Einheit destilliert werden soll. Auf diesen Zusammenhang möchte ich noch in einem späteren Blogbeitrag eingehen. 

Dieser traurige Befund des Denkmangels in der rechten Theorielandschaft führt zu einem Ungleichgewicht. Die Linken argumentieren und streiten über Argumente, die Rechten einigen sich hinter vereinfachenden und emotionalisierten Feindbildern: “Wir sind alle gegen ...”, “Wir wollen alle, dass endlich...”, denn: ”Wir sprechen für das Volk”.  

Gefühlsmenschen gegen Denkmenschen? 


Die unvermeidliche Position der linken Überlegenheit in Theorie und Reflexion wird von den Rechten als Arroganz wahrgenommen, der mit Emotionen begegnet wird. Dort, wo Rechte an der Macht sind, beginnt sehr schnell ein Kulturkampf, indem mit gewaltsamen Mitteln der “linken Ideologisierung” Einhalt geboten werden soll, sei es, indem kritische Medien zuerst als links gebrandmarkt und dann stillgelegt, Bücher verbrannt oder einfach alle Gebildeten umgebracht werden. Die Intellektuellen zu vernichten, war das erste Ziel der Nazis im besetzten Polen. Die kritischen Journalisten mundtot zu machen, wird heute in Polen ebenso wie in Ungarn versucht. Die Rechte in Österreich versucht sich ebenfalls an dieser Front. Wo die Argumente fehlen, wollen die Machthaber die öffentliche Meinung ans Gängelband nehmen, notfalls mittels Fake-News und Social-media-Shitschwemmen. Die simple Argumentation der Rechten: Recht hat, wer die Mehrheit mit welchen Mitteln auch immer hinter sich versammeln kann. Die Macht definiert richtig und falsch. 

Die Kehrseite liegt in der Verachtung der Linken gegenüber den beschränkten Rechten. Beides, die Verachtung auf der einen und die Minderwertigkeitsgefühle auf der anderen Seite können sich zu Hass auf die Gegenseite auswachsen. Eine sinnvolle Auseinandersetzung oder gar ein Dialog wird dadurch nicht mehr möglich. 

Geht es also um die Konfrontation zwischen Denkmenschen und Gefühlsmenschen? Und wer soll die Richtung in der Politik vorgeben und damit die Zukunft der Gesellschaften gestalten? Sollen wir uns nach dem Denken oder nach den Gefühlen orientieren? 

Lernen auf beiden Ebenen von beiden Seiten 


Wie stets, geht eines ohne das andere nicht. Wir können keine ausgedachte und durchgeplante Welt gestalten, sie muss uns auch gefallen, und dafür brauchen wir die Gefühle. Und wir brauchen ein tiefgreifendes Verständnis für die Emotionen, die den Veränderungen im Weg stehen, die nach aller Vernunft schon längst hätten stattfinden müssen. 

Gefühle spielen die Hauptrolle bei unseren Entscheidungen, gerade deshalb müssen wir unsere Gefühlswelt genauso weiterbilden wie unsere kognitiven Fähigkeiten. Viele unserer Gefühlsmuster und emotionalen Gewohnheiten stammen aus unserer Kindheit; wie sollen wir aber mit dieser Ausstattung in einer Erwachsenenwelt leben? Die Herrschaft der Gefühle bedeutet dann nur, dass kindliche Antriebe, Bedürfnisse und Frustrationen maßgeblich sind, und mit diesem Repertoire können keine der Herausforderungen der Menschheit gemeistert werden, vielmehr kommen viele, wenn nicht alle unserer Probleme aus der kindlichen Gefühlswelt der Menschen - Ängste, Gier, Arroganz, Hilflosigkeit, Machtstreben. Eine ausreichende “Bildung des Herzens” ist die Voraussetzung dafür, dass Gefühle einen konstruktiven Platz in der politischen Arena einnehmen können. Erwachsene Gefühle sind mit Selbstverantwortung verbunden; aus dieser Perspektive wissen wir, wie sehr die emotionale Ebene auf das Denken mit seinem Abwägen von Risiken und Chancen angewiesen ist.  

Unser Lernen, das wir brauchen, um die Gesellschaft menschenwürdig und naturachtend weiterzuentwickeln, muss auf beiden Ebenen erfolgen. Wir brauchen ein elaboriertes Denken, das die wissenschaftlichen Befunde und die ethischen Imperative in planerische Szenarien einbinden kann, und ein bewusstes Fühlen, das die Entscheidungen treffen und in Handlungen umsetzen kann. Wir brauchen die vorausschauende und historisch erfahrene Intelligenz der Linken und ein Verständnis für die Emotionalität der Rechten. Dazu muss die linke Seite ihr Besserwissen, ihre Überheblichkeit und Verachtung überwinden und lernen, die Menschlichkeit im politischen Feind zu erkennen und zu verstehen.  

Entscheidend wird sein, ob es nicht nur den Linken, sondern einer noch breiteren Öffentlichkeit gelingt, den Ängsten, die von den Rechten verbalisiert werden, so viel Verständnis und Sicherheit zu vermitteln, dass sich diese Gefühle in konstruktive und verantwortungsvolle Impulse umwandeln können.  

Natürlich darf in diesem Zusammenhang der geniale Dichter Ernst Jandl mit seinem Gedicht „lichtung“ nicht fehlen: 

manche meinen 
lechts und rinks 
kann man nicht velwechsern 
werch ein llltum 

Zum Weiterlesen:

1 Kommentar:


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