Samstag, 15. Juni 2024

Über das Verrückte und das Verrücken

 Verrückt ist ein Begriff, der normalerweise für Geistesgestörte gilt. Wir verwenden ihn in der Alltagssprache auch, um Situationen oder Menschen zu beschreiben, die uns nicht passen oder die uns sehr stören: “Das Wetter schlägt verrückte Kapriolen,” “Der Verrückte hat, ohne zu blinken, die Fahrspur gewechselt.”  

Hier werde ich den Begriff in einem übertragenen Sinn erörtern: als Bezeichnung für etwas, das von einem Ort an einen anderen verschoben, also verrückt wurde. Wenn eine Verrückung stattfindet, verschwindet eine alte Ordnung und eine neue entsteht. Das Alte macht Platz für das Neue, sobald ein verrückender Eingriff erfolgt ist. Manche Leute stellen immer wieder ihre Möbel um, damit im Außen ein neuer Eindruck entsteht. Wenn wir in unserem Inneren unsere Möbel, also die sperrigen Dinge, die sich im Lauf der Zeit angehäuft und festgesetzt haben, aber nur im Weg stehen, umstellen, gewinnen wir neue Einsichten. Jede Nacht wird unser Gehirn gereinigt, indem entfernt wird, was sich während des Tages als Abfall angesammelt hat. Die Schadstoffe werden entfernt, damit am nächsten Morgen neue Gedanken und Ideen kommen können. Das Gehirn ist gewissermaßen jeden Morgen neu aufgestellt, um für die Herausforderungen des Tages gerüstet zu sein. 

Entrümpeln wir auf ähnliche Weise unser Inneres, so machen wir uns zunächst klar, was von unserem Inventar wir noch brauchen und was wir loswerden wollen. Bei Letzteren sollte es vor allem den Gewohnheiten an den Kragen gehen, die wir als schädlich für uns selber einstufen. Sie melden sich vollautomatisch und selbstverständlich, als hätten sie alles Recht auf ihre uneingeschränkte Macht. Tatsächlich bilden sie eine Phalanx, die stur, unerbittlich und unbeweglich ihren Platz behauptet. Mit der Autorität eines Elternteils setzen sie sich gegen alle anderen Stimmen durch. Wenn alles zurechtgerückt ist und an seinem angestammten Ort befindet, bewegt sich nichts mehr. Starre Gewohnheiten regeln das Leben in eingefahrenen Bahnen. Jede kleine Änderung bewirkt eine Irritation und Verunsicherung. 

Wenn wir bestimmte Gewohnheiten eindämmen wollen, die unserem Handeln die Regeln vorgeben, uns aber nicht guttun, so hilft uns die archetypische Gestalt des Narren. Mit seiner spielerischen und spontanen Haltung unterläuft er die Starrheit der Gewohnheiten. Der Narr heißt manchmal auch der Trickser. Er verfügt über das Überraschende und Unerwartete, wie ein tricksender Fußballspieler, der mit Körpertäuschung und Wendigkeit den Gegner überspielt. Er kann alle auf die Schaufel nehmen, allem ein Schnippchen schlagen, und in Windeseile verrückt er die Dinge. Schon hat er sich selbst wieder neu erfunden. 

Die eigene Welt muss immer wieder aus den Fugen geraten, damit sich die Dinge, die am falschen Ort sind, neu konfigurieren. Manchmal warten wir so lange damit, bis eine von außen kommende Erschütterung das bestehende Ordnungsgefüge zum Einsturz bringt. Besser ist es, wenn es ein bewusst gesetzter Schritt ist, mit dem ein Wagnis eingegangen wird, aus gewohnten Bahnen auszubrechen und die Spielräume der inneren Freiheit zu erweitern.  

Streben wir nach mehr Freiheit, so ist das moderate Ausleben der Verrücktheit ein probater Weg. Die einengende Ordnung wird in ein Chaos verwandelt, um zu einer neuen Ordnung zu finden. Die Kunst besteht darin, das Chaos nicht zu groß werden zu lassen, sodass wir den Bezug zum Verrücken aufrechterhalten können. Das Verrücken ist ein bewusster Akt zur Veränderung einer Gewohnheit. 

Nimmt es allerdings unkontrolliert überhand, so wird rasch die Grenze erreicht, jenseits derer das Chaos zu mächtig wird und aus dem Akt des Verrückens eine krankheitswertige Verrücktheit entsteht. Wenn zu viele Elemente unserer Innenwelt auf einmal durcheinanderkommen, verlieren wir den Überblick und das Gefühl für das Zentrum. Wir können nicht mehr klar zwischen Wichtigem und Unwichtigem und zwischen Innerem und Äußerem unterscheiden. Dann brauchen wir professionelle Hilfe, um wieder zu unserer Mitte zurückzufinden.  

Es ist also eine Frage der Dosis: Ohne einen Schuss von Verrücktheit ab und zu ist das Leben trocken und langweilig, kontrolliert und starren Regeln folgend. Mit zu viel der ausgelebten Spontaneität verlieren wir den Bezug zum eigenen Zentrum und zu dem, was wir sind und was wir eigentlich wollen.  

Zum Weiterlesen:
Der Narr

 


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