Warum haben viele Menschen Angst vor dem Fremden? Bei Kleinkindern ist das Fremdeln eine übliche Phase, die sich dann wieder legt. Aber unter Erwachsenen ist dieses Phänomen weit verbreitet und bildet bei vielen ein Hauptmotiv bei der Wahlentscheidung in den wohlhabenden Ländern des Westens: Welche Partei schützt mich am besten vor dem (den) Fremden? Angstreaktionen, sobald etwas Fremdes auftaucht oder sobald von Fremdem die Rede ist, melden sich mit der impliziten Botschaft, dass effektive Schutzmechanismen ergriffen werden müssen. Die Gefahren sind oftmals nicht real, aber das Unbewusste suggeriert eine wirkliche Bedrohung und löst die Stressachse aus. Da sich Bürger in den demokratischen Systemen alleine hilflos und ohnmächtig fühlen, suchen sie sich Machtträger, die ihnen Schutz vor den eingebildeten Bedrohungen anbieten und die dafür notwendigen Narrative propagieren, mit denen die Bedrohtheitsgefühle verstärkt werden. Damit wollen sie ihre Macht stärken, eine Schlagseite vor allem bei rechten und rechtsextremen Politiker.
Hier möchte ich den Blick auf die Pränatalzeit richten. In dieser Phase unseres Lebens finden wichtige Prägungen im Emotionalgedächtnis statt, die sich im späteren Leben aus dem Unbewussten heraus ins Alltagsleben und –erleben einmischen. Aus dieser Perspektive stoßen wir auf den Hinweis, dass das Fremde Angst macht, wenn die Einnistung schwierig war. Die Nidation findet zwischen dem 6. und 10. Tag nach der Empfängnis statt. Die Blastozyste fällt vom Ende des Eileiters, in dem die Befruchtung stattgefunden hat, in die Gebärmutter und sucht dort einen Platz, an dem sie sich in die Uterusschleimhaut einwachsen kann. Es ist ein neuer, fremder Ort, in dem jetzt eine Heimstatt gefunden werden muss, an dem die weitere Reifung bis zur Geburt erfolgen kann. Wenn nun der mütterliche Organismus dem Embryo mit ambivalenten Gefühlen begegnet oder ihn ablehnt, wird dieses Fremde als feindlich und unnahbar erlebt. Das werdende Menschenwesen muss selber schauen, wie es Fuß fassen und sich einwurzeln kann, um überleben zu können. Das Fremde ist das Bedrohliche, mit dem ums Überleben gekämpft werden muss, statt mit ihm zu kooperieren. Dieser Eindruck verfestigt sich im Inneren und wirkt später weiter. Die Angst und Unsicherheit bei der Einnistung wird zusätzlich bestärkt, wenn ein Kind schon bei der Empfängnis spüren musste, dass es nicht willkommen ist.
Solche Schwierigkeiten können auch der Grund für einen Frühabgang sein, wenn der Embryo zu schwach ist, sich gegen den Widerstand einen Einnistungsplatz in der Gebärmutter zu schaffen. Ohne das Andocken an der Gebärmutterwand ist der Embryo nicht lange lebensfähig. Gelingt jedoch das Verbinden von Plazenta und Gebärmutter, dann hat das Leben eine Chance, weiterzuwachsen, auch wenn es vielleicht durch einen holprigen Beginn überschatten sein kann.
Auf diese Verunsicherung gibt es zwei Reaktionsmöglichkeiten, die sich in unterschiedlichen Haltungen ausprägen. Zum einen gibt es Menschen, die sich nirgendwo zuhause fühlen und oft übersiedeln, weil sie sich nirgendwo sicher und vertraut fühlen. Sie können nirgends dauerhafte Wurzeln schlagen. Zum anderen verwurzeln sich Menschen besonders tief an einem Platz und wollen von dort um keinen Preis wieder weg. Dieser Platz muss auch vor allem Fremden geschützt sein, damit die einmal gewonnene Sicherheit nicht mehr verloren geht.
Das Fremde und das Lernen
Lernen besteht darin, Fremdes aufzunehmen und zum Eigenen zu machen. Wenn wir z.B. eine Fremdsprache lernen, müssen wir uns mit deren Fremdheit anfreunden. Wir müssen zulassen, dass sie sich in unserem Inneren Platz nimmt und sich ausbreitet. Auf diese Weise verwandeln wir Fremdes in Eigenes.
Lernhemmungen entstehen dort, wo das Fremde, das gelernt werden soll, abgelehnt wird, weil alles Fremde als feindlich erlebt wird – die Wiederspiegelung eines Einnistungstraumas. Die Neugier wird in diesem Fall von der Angst unterbunden. Neues wird mit Misstrauen beäugt. Beim Lernen kann es sein, dass sich der von der Angst geleitete Widerstand unbewusst so auswirkt, dass das Fremde nicht behalten werden kann und immer wieder vergessen wird.
Die Fremdenfeindlichkeit
Auch das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit, das in der Politik eine wichtige Rolle spielt, können wir als Ausdruck dieser Früherfahrung verstehen. Eine Gebärmutter, in deren Wand die Einnistung stattfinden muss, damit das Überleben gewährleistet ist, und die als ablehnend und abweisend erlebt wird, führt zu dem Eindruck, dass dem Fremden grundsätzlich nicht vertraut werden kann. Es gibt keine Basis für einen Vertrauensvorschuss, der notwendig wäre, um das Fremde näher kennenzulernen. Das Vertrauen kann nur in sich selber aufgebaut werden, und das Fremde muss draußen bleiben. Es bedroht die innere Sicherheit. Deshalb kann man sich nur möglichst lückenlos davon abschotten.
Das Fremde wird also nicht als Feld des Lernens und der Erweiterung des Horizonts genutzt, vielmehr wird es als Gefahrenquelle gesehen. Daraus entsteht die Überzeugung, dass das eigene Überleben nur dann gesichert werden kann, wenn dem Fremden misstraut wird. Für die eigene Existenzsicherung muss man aus eigenen Kräften sorgen.
Schon während der Schwangerschaft hat diese Überzeugung zu Dauerstress geführt, der oft noch weit darüber hinaus gewirkt hat. Jede neue Begegnung mit etwas Fremdem kann dann die alte Angst und Stressreaktion auslösen.
Mit diesem Verständnis der Fremdenangst wird auch klar, warum Fremdenfeindlichkeit dort am größten ist, wo am wenigsten Fremde leben, ähnlich wie der Antisemitismus dort am stärksten verbreitet ist, wo am wenigsten Juden leben. Der Kontakt mit dem Fremden verändert notgedrungen die Perspektive und ermöglicht neue Einsichten. Das ist wie bei jeder Angst: Wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen, ihr ins Auge schauen, wird sie kleiner; wenn wir uns vor ihr verstecken oder von ihr abtrennen, wenn wir sie also aussperren, wird sie mächtiger.
Zum Weiterlesen:
Die Höhenangst und ihre pränatalen Wurzeln
Das volle Boot und die Angst vor Überflutung