Montag, 18. November 2024

Pränatale Wurzeln der Fremdenangst

Warum haben viele Menschen Angst vor dem Fremden? Bei Kleinkindern ist das Fremdeln eine übliche Phase, die sich dann wieder legt. Aber unter Erwachsenen ist dieses Phänomen weit verbreitet und bildet bei vielen ein Hauptmotiv bei der Wahlentscheidung in den wohlhabenden Ländern des Westens: Welche Partei schützt mich am besten vor dem (den) Fremden? Angstreaktionen, sobald etwas Fremdes auftaucht oder sobald von Fremdem die Rede ist, melden sich mit der impliziten Botschaft, dass effektive Schutzmechanismen ergriffen werden müssen. Die Gefahren sind oftmals nicht real, aber das Unbewusste suggeriert eine wirkliche Bedrohung und löst die Stressachse aus. Da sich Bürger in den demokratischen Systemen alleine hilflos und ohnmächtig fühlen, suchen sie sich Machtträger, die ihnen Schutz vor den eingebildeten Bedrohungen anbieten und die dafür notwendigen Narrative propagieren, mit denen die Bedrohtheitsgefühle verstärkt werden. Damit wollen sie ihre Macht stärken, eine Schlagseite vor allem bei rechten und rechtsextremen Politiker.  

Hier möchte ich den Blick auf die Pränatalzeit richten. In dieser Phase unseres Lebens finden wichtige Prägungen im Emotionalgedächtnis statt, die sich im späteren Leben aus dem Unbewussten heraus ins Alltagsleben und –erleben einmischen. Aus dieser Perspektive stoßen wir auf den Hinweis, dass das Fremde Angst macht, wenn die Einnistung schwierig war. Die Nidation findet zwischen dem 6. und 10. Tag nach der Empfängnis statt. Die Blastozyste fällt vom Ende des Eileiters, in dem die Befruchtung stattgefunden hat, in die Gebärmutter und sucht dort einen Platz, an dem sie sich in die Uterusschleimhaut einwachsen kann. Es ist ein neuer, fremder Ort, in dem jetzt eine Heimstatt gefunden werden muss, an dem die weitere Reifung bis zur Geburt erfolgen kann. Wenn nun der mütterliche Organismus dem Embryo mit ambivalenten Gefühlen begegnet oder ihn ablehnt, wird dieses Fremde als feindlich und unnahbar erlebt. Das werdende Menschenwesen muss selber schauen, wie es Fuß fassen und sich einwurzeln kann, um überleben zu können. Das Fremde ist das Bedrohliche, mit dem ums Überleben gekämpft werden muss, statt mit ihm zu kooperieren. Dieser Eindruck verfestigt sich im Inneren und wirkt später weiter. Die Angst und Unsicherheit bei der Einnistung wird zusätzlich bestärkt, wenn ein Kind schon bei der Empfängnis spüren musste, dass es nicht willkommen ist. 

Solche Schwierigkeiten können auch der Grund für einen Frühabgang sein, wenn der Embryo zu schwach ist, sich gegen den Widerstand einen Einnistungsplatz in der Gebärmutter zu schaffen. Ohne das Andocken an der Gebärmutterwand ist der Embryo nicht lange lebensfähig. Gelingt jedoch das Verbinden von Plazenta und Gebärmutter, dann hat das Leben eine Chance, weiterzuwachsen, auch wenn es vielleicht durch einen holprigen Beginn überschatten sein kann. 

Auf diese Verunsicherung gibt es zwei Reaktionsmöglichkeiten, die sich in unterschiedlichen Haltungen ausprägen. Zum einen gibt es Menschen, die sich nirgendwo zuhause fühlen und oft übersiedeln, weil sie sich nirgendwo sicher und vertraut fühlen. Sie können nirgends dauerhafte Wurzeln schlagen. Zum anderen verwurzeln sich Menschen besonders tief an einem Platz und wollen von dort um keinen Preis wieder weg. Dieser Platz muss auch vor allem Fremden geschützt sein, damit die einmal gewonnene Sicherheit nicht mehr verloren geht.

Das Fremde und das Lernen  

Lernen besteht darin, Fremdes aufzunehmen und zum Eigenen zu machen. Wenn wir z.B. eine Fremdsprache lernen, müssen wir uns mit deren Fremdheit anfreunden. Wir müssen zulassen, dass sie sich in unserem Inneren Platz nimmt und sich ausbreitet. Auf diese Weise verwandeln wir Fremdes in Eigenes.

Lernhemmungen entstehen dort, wo das Fremde, das gelernt werden soll, abgelehnt wird, weil alles Fremde als feindlich erlebt wird – die Wiederspiegelung eines Einnistungstraumas. Die Neugier wird in diesem Fall von der Angst unterbunden. Neues wird mit Misstrauen beäugt. Beim Lernen kann es sein, dass sich der von der Angst geleitete Widerstand unbewusst so auswirkt, dass das Fremde nicht behalten werden kann und immer wieder vergessen wird.

Die Fremdenfeindlichkeit

Auch das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit, das in der Politik eine wichtige Rolle spielt, können wir als Ausdruck dieser Früherfahrung verstehen. Eine Gebärmutter, in deren Wand die Einnistung stattfinden muss, damit das Überleben gewährleistet ist, und die als ablehnend und abweisend erlebt wird, führt zu dem Eindruck, dass dem Fremden grundsätzlich nicht vertraut werden kann. Es gibt keine Basis für einen Vertrauensvorschuss, der notwendig wäre, um das Fremde näher kennenzulernen. Das Vertrauen kann nur in sich selber aufgebaut werden, und das Fremde muss draußen bleiben. Es bedroht die innere Sicherheit. Deshalb kann man sich nur möglichst lückenlos davon abschotten. 

Das Fremde wird also nicht als Feld des Lernens und der Erweiterung des Horizonts genutzt, vielmehr wird es als Gefahrenquelle gesehen. Daraus entsteht die Überzeugung, dass das eigene Überleben nur dann gesichert werden kann, wenn dem Fremden misstraut wird. Für die eigene Existenzsicherung muss man aus eigenen Kräften sorgen. 

Schon während der Schwangerschaft hat diese Überzeugung zu Dauerstress geführt, der oft noch weit darüber hinaus gewirkt hat. Jede neue Begegnung mit etwas Fremdem kann dann die alte Angst und Stressreaktion auslösen. 

Mit diesem Verständnis der Fremdenangst wird auch klar, warum Fremdenfeindlichkeit dort am größten ist, wo am wenigsten Fremde leben, ähnlich wie der Antisemitismus dort am stärksten verbreitet ist, wo am wenigsten Juden leben. Der Kontakt mit dem Fremden verändert notgedrungen die Perspektive und ermöglicht neue Einsichten. Das ist wie bei jeder Angst: Wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen, ihr ins Auge schauen, wird sie kleiner; wenn wir uns vor ihr verstecken oder von ihr abtrennen, wenn wir sie also aussperren, wird sie mächtiger.

Zum Weiterlesen:
Die Höhenangst und ihre pränatalen Wurzeln
Das volle Boot und die Angst vor Überflutung

  


Montag, 11. November 2024

Über das Nichtbewerten und die Notwendigkeit des Bewertens

Nicht zu beurteilen ist eine hohe Tugend im zwischenmenschlichen Umgang. Wir sollten uns von Urteilen über andere fernhalten, weil wir uns mit jedem Urteil eine übergeordnete Position gegenüber der beurteilten Person anmaßen. Wir setzen uns auf einen Richterstuhl ein und fällen von dort aus das Urteil. Die beurteilte Person befindet sich damit automatisch in einer unterlegenen und beschämenden Position, selbst wenn das Urteil positiv ist. Denn das Urteil liegt im Ermessen der beurteilenden Person, die nach ihrem Gutdünken den anderen ihren Wert zu- oder abspricht. Es besteht ein Machtgefälle zwischen dem, der beurteilt, und dem, der beurteilt wird. Machtunterschiede enthalten immer die Elemente von Stolz auf der Seite der mächtigen Person und Scham auf der Seite der untergeordneten Person.

Gilt diese Tugend der Beurteilungsfreiheit für alle Fälle, unter allen Umständen, oder gibt es Bereiche, in denen es das Urteilen braucht, um Schaden abzuwenden oder bessere Lösungen zu erreichen? Werden wir unseren Werten gegenüber untreu, wenn wir eine Haltung oder Aussage, die unseren Werten widerspricht, nicht beurteilen? 

Grundsätzlich gilt: Menschen sind wichtiger als Werte. Werte entstehen aus eingeschränkten Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Was ist aber mit Werten, die das Absolute widerspiegeln, wie z.B. der Wert, der Menschen vor Werte reiht? Auch dieser Wert ist nicht absolut, denn jeder Aspekt des menschlichen Lebens ist relativ. Zwar schulden wir Menschen einander den unbedingten Respekt und die uneingeschränkte Wertschätzung, schaffen sie aber immer nur auf bedingte und eingeschränkte Weise. Es ist und bleibt also ein Ideal, das wir anstreben, aber nur in besonderen Momenten annähernd verwirklichen können. 

Deshalb ist auch die bewertungsfreie Einstellung zu unseren Mitmenschen nur ansatzweise erreichbar, und wir sind in diesem Bemühen immer wieder fehleranfällig. Unser Unterbewusstsein unterläuft unser Bestreben beständig, weil es kontinuierlich Bewertungen produziert, die wir erst nachträglich, wenn sie uns bewusst werden, zurücknehmen können. Wir kommen nie mit dem Bewusstmachen nach. Die Bewertungen sind schon längst in unsere Bewertungskategorien eingeflossen, bevor wir sie überhaupt bemerken. 

Bewertung in der Kommunikation

Was wir in Hinblick auf die Bewertungsfrage kultivieren können und sollten, ist unsere Kommunikation. Wir sollten danach streben, sie möglichst frei von Bewertungen zu halten, um keine Ängste und Schamgefühle bei den Kommunikationspartnern auszulösen. Selbst wenn also unser Unterbewusstsein beständig Bewertungen aufstellt, sollten wir unsere Mitmenschen davor bewahren, indem wir die Bewertungen nicht äußern, sondern innerlich loslassen.

Weiters können wir in unserem Inneren mehr und mehr bewertungsfreie Räume schaffen. Das ist die Arbeit des Bewusstmachens. Wir erkennen, dass wir die Person A bewerten und können uns damit beschäftigen, woher diese Bewertung kommt, wie sehr sie mit der Realität übereinstimmt und was sie übersieht. Wir können erkennen, dass wir in uns Anteile haben, die dem, was wir an der anderen Person bewerten, ähnlich sind.  Auf diese Weise relativieren sich unsere Bewertungen und treten in den Hintergrund vor der größeren und wichtigeren Realität, die in der anderen Person enthalten ist. Wir öffnen uns für die Ganzheit des anderen Menschen, in der sein unschätzbarer Wert enthalten ist. 

Meditation ist eine gute Gelegenheit für die Pflege von bewertungsfreien Innenräumen. Gedanken, die aufsteigen, enthalten häufig Bewertungen, und wir können beim stillen Beobachten dieser Gedanken die Bewertungen erkennen und verabschieden.

Grenzen der Bewertungsfreiheit

Wir stoßen auf Grenzen der Bewertungsfreiheit, wenn wir im Kontakt mit Menschen sind, die konträre Werte vertreten. Wie gehen wir mit jemanden um, der rechtsextreme Positionen vertritt, oder mit jemanden, der den Klimawandel leugnet? Wie gehen wir mit Menschen um, die seltsamen Verschwörungstheorien anhängen und uns dann noch dazu davon überzeugen wollen?

Wir sollten die Welt verbessern, wo sie im Argen liegt. Dazu gehört, dass wir Menschen darauf aufmerksam machen sollten, wenn sie den Pfad der Menschlichkeit verlassen haben. Wir sollten die Fahne der Humanität  unerschrocken hoch halten. Dazu müssen wir diese Werte vertreten und Werte, die wir für schädlich halten, kritisieren. 

Natürlich sollte es nicht darum gehen, die Menschen abzuurteilen, die die anderen Werte vertreten. Wichtig ist es aber, klar Stellung für „bessere“ Werte zu beziehen. Die Güte von Werten bemisst sich daran, wie nahe sie sich an der Menschlichkeit verbinden, also an den Notwendigkeiten, die ein respektsvolles und angstfreies Zusammenleben der Menschen möglich machen. Diese Nähe muss im Einzelfall überprüft werden, weil wir uns in dieser Hinsicht auch irren können. Im Diskurs, der möglichst gewaltfrei ablaufen sollte, kann sich herausstellen, welchen Werten der Vorzug gegeben werden muss, um an der Entwicklung Welt mitzuwirken, die für alle besser ist. Und diese Werte müssen von möglichst vielen Menschen kompromisslos vertreten und in Handlungen umgesetzt werden, damit sie in den allgemeinen  Bewusstseinsraum Eingang finden und dort Resonanzen erzeugen. Gute Werte, die also der Menschlichkeit dienen, üben eine Anziehungskraft auf alle Menschen aus, soweit sie nicht von ihren Überlebensimpulsen gesteuert sind.

Zum Weiterlesen:
Bewerten und Beziehungsstörung
Das Bewerten der Bewerter
Bewertungsfreiheit als Geschenk
Bewerten im bewertungsfreien Bereich


Samstag, 26. Oktober 2024

Erwartungen und Enttäuschungen

Wir sind enttäuscht, wenn ein Ereignis, das wir erwarten, entweder überhaupt nicht eintritt oder abweichend von unserer Erwartung abläuft. Das Bedürfnis, dessen Erfüllung die Erwartung versprochen hat, bleibt unbefriedigt. Darin besteht das Leiden der Enttäuschung. Auf der neurobiologischen Ebene spielt sich folgendes ab: Jede freudvolle Erwartung löst einen Dopaminschub aus, der als lustvolle Spannung erlebt wird, oft verbunden mit erhebenden Gefühlen und gesteigerter Aktivität. Sobald sichtbar wird, dass die Befriedigung des Bedürfnisses nicht eintritt, fällt der Dopaminspiegel jäh ab. Der erhoffte Belohnungsreiz bleibt aus, und der Entzug an Dopamin wird als sehr lästig und unangenehm erlebt. Die freudige Anspannung bricht ab. Stattdessen machen sich unangenehme Gefühle der Frustration breit. Im Hintergrund baut sich Stress auf. Der positiv erlebte Stress in der Erwartungsspannung verwandelt sich in eine negative, von Frustration und Ärger geprägte Stimmung der Enttäuschung.

Wer ist schuld?

In den Phasen der Enttäuschung entsteht meist die Frage nach der Ursache: Wer ist schuld am Ausbleiben der Belohnung? Denn wir meinen, wenn wir die Ursache kennen, k wir die Enttäuschung in der Zukunft verhindern. Bei der Ursachenfrage gibt es zwei Richtung: Nach außen oder nach innen. Es gibt Menschen, die eher dazu neigen, irgendetwas oder irgendjemand anderen verantwortlich zu machen. Sie entwickeln in sich Gefühle von Ärger und Wut gegen diese Instanz. Jene, die die Verantwortung eher bei sich selbst suchen, reagieren mit Traurigkeit und Scham bis hin zu Depressionen. Die ersteren entlasten sich von der Verantwortung und schieben sie ihren Mitmenschen zu, die zweiteren laden sie sich selbst auf und tragen schwer daran.

Es gibt Enttäuschungen, für die niemand eine Verantwortung trägt, wie z.B. solche, bei denen die Erwartungen an die Natur gerichtet sind: Wir unternehmen eine Reise an einen Badesee und die geplante Ferienwoche wird total verregnet. Wir pflanzen Gemüse an und die Schnecken fressen es. Andere Enttäuschungen befinden sich ganz im eigenen Rayon – solche, die mit Fehlern zu tun haben, die uns unterlaufen sind: Wir werfen die Wohnungstür hinter uns zu und merken erst dann, dass der Schlüssel drinnen geblieben ist.

Wenn die Erwartung auf eine Person gerichtet ist und sie sich nicht entsprechend verhält, erscheint es klar, dass sie uns damit Leid bereitet hat. Wir freuen uns auf den Besuch des Freundes, und er sagt kurzfristig ab, mit einer Begründung, die uns fadenscheinig vorkommt. Der Freund ist schuld, dass es uns jetzt schlecht geht. Wir haben irgendjemanden, der unseren misslichen Zustand verursacht hat. Er ist verantwortlich für das Leid geben können, das uns die Enttäuschung bereitet.

Wir übersehen dabei allerdings, dass wir uns selbst das Leid zufügen, weil wir an unserer Erwartung festhalten, statt dass wir uns mit der geänderten Realität arrangieren. Jede Störung, mit denen uns die Wirklichkeit in Form von eigenen Fehlleistungen, Verfehlungen anderer Menschen oder Unvorhersehbarkeiten äußerer Umstände herausfordert, ist eine Übung im Akzeptieren. Die Abläufe sind, wie sie sind; unsere inneren Bewertungen machen aus ihnen passende oder unpassende, willkommene oder störende Ereignisse. Wenn wir akzeptieren, was ist, kommen wir in Frieden damit, wenn wir dagegen ankämpfen, leiden wir.

Es ist wie beim Schachspielen: Das Spiel entwickelt sich zu unseren Gunsten und wir spüren schon das Hochgefühl des Sieges. Doch findet die Gegnerin einen pfiffigen Zug, den wir übersehen haben, und schon droht die Niederlage. Das Hochgefühl verschwindet ins Nichts und macht einer ängstlichen Frustration Platz. Spielsituationen lieben wir vermutlich deshalb, weil sie uns das Einüben des Umgangs mit Frustrationen möglich machen. Wir leiden kurz, bis uns klar wird, dass es ja nur ein Spiel ist.

Gegen das Leben kämpfen

Außerhalb der Spielkontexte ist das Leben unser „Gegner”, indem es unsere Erwartungen ignoriert und überraschende und unvorhergesehene Winkelzüge präsentiert. Sich beim Leben für die liebsamen und unliebsamen Überraschungen zu beschweren, ist eine Strategie, die aus den „Anleitungen zum Unglücklichsein“ (Paul Watzlawick) stammen könnte. Die Wirklichkeit kümmert sich in ihren Abläufen nicht um unsere Erwartungen, sondern orientiert sich an anderen Gesetzmäßigkeiten, deren Logik uns zumeist nichts als Rätsel aufgibt. Wir schaffen uns selber das Leid und stehlen uns nur aus der Verantwortung, wenn wir irgendwelche Faktoren in der Außenwelt für unsere inneren Zustände haftbar machen.

Das trifft auch auf unsere Mitmenschen zu, von denen wir erwarten, dass sie sich gemäß unseren Erwartungen verhalten, und die uns enttäuschen, wenn das nicht der Fall ist. Von der Kassierin im Supermarkt erwarten wir, dass sie freundlich und fröhlich ist; schließlich sind wir die Kunden und wünschen uns ein angenehmes Einkaufserlebnis. Begegnen wir einem missmutigen Menschen an der Kassa, sind wir enttäuscht und vielleicht sogar empört, ohne dabei an die Belastungen zu denken, denen die Kassierin ausgesetzt ist.

Das Recht auf die Erfüllung unserer Erwartungen

Wir haben eine Instanz in uns, die uns sagt, wir hätten ein Recht darauf, dass unsere Erwartungen erfüllt werden. Sie stammt aus unseren frühesten Erfahrungen, aus unseren Ursprüngen. Wir sind mit der Erwartung in dieses Leben getreten, dass wir geliebt, genährt und geschützt werden. Unser Urvertrauen sagt uns, dass wir das Recht darauf haben, dass die Existenz, die uns das Leben verliehen hat, alles zu ihrem Bestand und Weiterwachsen Notwendige bekommen wird. Auf einer unbewussten Ebene wissen wir, was wir brauchen, um gut überleben und uns angemessen entwickeln zu können. Doch auch gute Eltern sind nur Menschen, deshalb können sie diesen Erwartungen nur zu einem bestimmten Teil nachkommen. Das Enttäuschen der Erwartungen ist dann mit der Angst vor der Gefährdung des eigenen Überlebens verbunden. Solche Erfahrungen lösen manchmal massiven Stress aus, den Babys mit heftigem Geschrei ausdrücken.

Im Zuge des Aufwachsens haben wir gelernt, dass es immer wieder Enttäuschungen gibt und dass die Realität nicht so beschaffen ist, dass sie alle unsere Erwartungen erfüllt. Wir lernen, unsere Wünsche mit den aktuellen Möglichkeiten abzugleichen und notfalls auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse zu verzichten. Doch bleibt häufig die Gefühlsdynamik so, wie wir sie in unseren Anfängen erlebt haben: Das unbefriedigte Bedürfnis wird übermächtig und löst eine unangenehme Enttäuschung aus, mit der wir fertig werden müssen.

Frustrationstoleranz

Erwachsenwerden heißt auch, Frustrationstoleranz zu erwerben, also die Fähigkeit, Enttäuschungen wegstecken zu können, ohne daran zu leiden. Hilfreich ist die Kompetenz, das frustrierte innere Kind zu beruhigen und zu vertrösten. Wie einfühlsame Eltern ihrem Kind begegnen, gehen wir auf die Ungeduld unseres inneren Kindes ein. Wir signalisieren ihm, dass wir sein Bedürfnis mit all der Dringlichkeit verstehen, während aber die Umstände gerade so beschaffen sind, dass eine Befriedigung nicht sofort möglich ist, sondern erst in einiger Zeit oder auf andere Weise erfolgen kann. Wir versprechen unserem inneren Kind, dass wir uns um das Bedürfnis kümmern. Der innere Konflikt und die Anspannung lösen sich dann auf und wir gelangen zu einem inneren Frieden.

Unser erwachsenes Ich weiß, dass unser Überleben nicht gefährdet ist, wenn wir nicht das, was unser Bedürfnis fordert, sofort und in der gewünschten Form bekommen. Als Erwachsene kennen wir verschiedene Reaktionsmöglichkeiten auf Bedürfnisspannungen, die je nach Situation angewendet werden können:

Wir können die Befriedigung aufschieben: Wir haben Hunger, aber gerade keine Zeit, um uns etwas zum Essen zu besorgen. Wir können abschätzen, wann wir unseren Hunger stillen können und uns bis dahin gedulden.

Wir können eine andere Form der Befriedigung finden: Wir wollen in ein bestimmtes Restaurant essen gehen, doch es hat geschlossen, also suchen wir ein anderes.

Wir haben auch die Möglichkeit, die Befriedigung zu verabschieden, indem wir die Erwartung zurücknehmen. Wir erwarten uns einen Gefallen von einem Freund, doch dieser hat keine Zeit. Wir suchen nach anderen Wegen, um an unser Ziel zu gelangen.

Erwartungsfreiheit

Können wir uns ganz von Erwartungen lösen, die uns immer wieder zu Enttäuschungen führen? Erwartungslos zu sein, erscheint als ein erstrebenswertes Ziel. Allerdings sind Erwartungen ein fixer Bestandteil unseres inneren Inventars. Sie tauchen gemeinsam mit unseren Bedürfnissen auf und sind an sie geknüpft. Bedürfnisse sind Signale des Organismus, die wir nicht abstellen können und auch nicht abstellen sollen, weil wir sonst nicht für die Mängelzustände im Inneren sorgen könnten.

Der Weg der Bewusstheit führt uns dazu, Erwartungen als Erwartungen zu erkennen, verbunden mit der Einsicht, dass die Zukunft immer ungewiss ist. Wir können sie nur in einem ganz geringen Ausmaß beeinflussen und in die Richtung unserer Erwartungen drängen. Weitaus die meisten Faktoren befinden sich nicht in unserer Kontrolle. Naturkatastrophen sind Beispiele für wuchtige Erfahrungen mit dieser Unwägbarkeit und Unverfügbarkeit der Wirklichkeit. Auch bei schweren Erkrankungen, die den Tod in den Erwartungshorizont rücken, durchkreuzt das Schicksal alle Pläne. Solche Ereignisse werfen die gesamten Erwartungen der Betroffenen über den Haufen. Sie müssen alle Vorstellungen über die Zukunft revidieren und ihre Lebensperspektiven völlig neu aufstellen.

Je schwerer und unerwarteter der Schlag ist, den das Schicksal versetzt, desto schwerer ist das Akzeptieren der entsprechenden Wirklichkeit. Allerdings ist der Schweregrad der Enttäuschung wiederum eine Sache unserer Bewertung. Wir müssen uns also eingestehen, dass wir unseres Glückes wie unseres Unglückes Schmied sind, in jedem Moment, bei jeder Erfahrung.

Mit dem Einüben dieser Perspektive werden die Erwartungen, die in uns entstehen, immer unwichtiger und die Enttäuschungen immer schwächer. Wir lernen, gelassener mit den Màandern und Hochschaubahnen des Lebens zurechtzukommen.

Die Absichtslosigkeit

Aus der Einsicht über die Bedingtheit und Vorläufigkeit aller Erwartungen kommen wir zur Einstellung der Absichtslosigkeit. Sie zählt auch zu den Tugenden, die wir im Zug der spirituellen Suche erwerben können. Allerdings ist sie kein absolutes Ziel, das wir erreichen müssen, um die innerliche Freiheit zu erlangen. Der Begriff macht uns vielmehr darauf aufmerksam, dass wir unsere Erwartungen über die Zukunft immer wieder loslassen können. Denn, wie ich in einem früheren Blogbeitrag geschrieben habe, sind „unsere Absichten nur Luftblasen, die wir zerplatzen lassen können, sobald sie ihr kreatives Schillern verloren haben. Jede verschwundene Luftblase kann einer neuen Platz machen, und so bleibt unser Leben ein kreativer, aus sich heraus wachsender Prozess. Dazu ist es wichtig, dass wir den leeren Raum zwischen den Blasen bewusst wahrnehmen als den Einstieg in die eigentliche Quelle von allem. Die Freiheit von Absichten gehört zum Luxus des meditativen Lebens; die Kunst, Absichten klar zu erkennen, zu bewerten, zu Entscheidungen zu führen, und sie dann zum besten Zeitpunkt zu vergessen, ist Teil der alltäglichen Lebenskompetenz, an der wir immer wieder feilen müssen.“

Zum Weiterlesen:
Von den Absichten zur Absichtslosigkeit
Absichtslosigkeit in der Therapie
Akzeptiere, was ist, dann verändert es sich


Sonntag, 29. September 2024

Fossile Propaganda und Klimazerstörung

Die jüngste Überschwemmungskatastrophe hat viel Zerstörung und Leid verursacht. Sie hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass der Klimawandel voll im Gang ist und dass solche Ereignisse immer häufiger auftreten werden. Bei Überflutungen wird nachher immer wieder nach effektiveren Schutzmaßnahmen gerufen. Es steht zu hoffen, dass endlich starke Rufe nach effektiven Klimaschutzmaßnahmen vor der nächsten Katastrophe laut werden und von der Politik gehört und umgesetzt werden. Den Schaden nachher notdürftig zu reparieren, der vorhersehbar ist, ist nicht nur dumm, sondern auch kostspielig. Das Scheinargument, dass die Umstellung der Wirtschaft auf Nachhaltigkeit teuer ist, ist längst widerlegt. Jedes Zuwarten mit notwendigen Maßnahmen macht diese laufend teurer, kostet also Geld. Die Verzögerungskräfte bei der CO2-Steuer, bei der Bodenversiegelung, bei der Renaturierung usw., die vor allem in den konservativen und rechten Parteien maßgeblich sind, sind für diese Kostensteigerungen verantwortlich, ebenso wie für das Ausmaß künftiger Katastrophen.

Darüber gäbe es keinen Zweifel, wenn nicht seit Jahren Zweifel gesät worden wären, ob es den Klimawandel gibt, ob er menschengemacht ist, ob er überhaupt gravierende Auswirkungen hat oder nicht. Diese Diskussionen flammen immer wieder auf, unbeschadet der Tatsache, dass die Übereinstimmung in den Wissenschaften über die wesentlichen Zusammenhänge bei der Erderwärmung immer höher wird und schon bei 99,9% liegt. Es ist also vieles schon lange außer Streit, was irreführend als zweifelhaft dargestellt wird.

Säe Zweifel und die Menschen rennen dir nach

Die Zweifel an den Wissenschaften wurden systematisch verbreitet, genau von den Kreisen, die durch eine konsequente Klimaschutzpolitik auf Gewinne verzichten müssten, nämlich alle, die an der Förderung und Verbrennung von fossilen Brennstoffen verdienen. Diesen Menschen ist nichts anderes wichtig, als ihre Gewinne langfristig abzusichern, obwohl sie wissen, dass sie damit die Erdatmosphäre zerstören und viel Leid anrichten.

Christian Stöcker hat in seinem Buch: „Männer, die die Welt verbrennen“ (Ullstein 2024) die Propagandamechanismen hinter den Ablehnungskampagnen gegen die Klimaschutzpolitik beschrieben. Er hat recherchiert, wie die Lobbys der Erdölindustrie seit über dreißig Jahren systematisch Fehlinformationen, Fakenews und gefälschte Studien verbreitet haben, um die Menschen im großen Stil zu manipulieren und für die eigenen Zwecke einzuspannen. Die Erkenntnisse der Wissenschaften zum Klimawandel, die im Kreis der fossilen Magnaten bekannt waren, sollten diskreditiert werden, indem bezahlte Scheinstudien das Gegenteil beweisen sollten. Diese Ergebnisse wurden lautstark verbreitet und in den entsprechenden, dafür offenen politischen Kreisen verankert. Gefälschte Studien werden bald aufgedeckt, aber es wurde und wird damit kalkuliert, dass die Widerlegungen viel später auftauchen werden und wenig Publizität erhalten, während der Hauptzweck der Aktion schon erreicht ist: Menschen zu verunsichern und das Vertrauen in die Wissenschaften zu untergraben. Und wenn eine gefälschte Studie entlarvt wird, kann man leicht sagen: Ah, da sind sich die Wissenschaftler uneins, die einen sagen dies und die anderen das Gegenteil. Es gibt also gar keine sichere wissenschaftliche Meinung, sondern nur unterschiedliche Standpunkte. Solche Relativierungen sind für Menschen eine Erleichterung, die durch den Klimawandel beunruhigt sind, aber nichts in ihrem Leben ändern wollen. Sie können sich jetzt beschwichtigen, dass es wohl nicht so schlimm sein kann und dass man mit dem eigenen Leben so weiter machen kann wie bisher. Politikern, die über Gesetze beraten müssen, sind Ausreden willkommen, damit sie etwaige unpopuläre Maßnahmen vermeiden oder in die übernächste Legislaturperiode verschieben können.

Das Säen von Lügen und Desinformationen ist also ein Mittel der Machtpolitik, bei der es darum geht, das, was den Interessen der eigenen Profitsteigerung im Weg steht, zu eliminieren oder zu schwächen, und das ist erstaunlich gut gelungen. Immer mehr Menschen neigen der Wissenschaftsskepsis zu, indem sie glauben, dass wissenschaftliches Wissen genauso relativ ist wie jedes andere Wissen. Die Wissenschaftsfeindlichkeit, die in der Coronazeit bei vielen Leuten aufgetaucht ist, war nur auf der Grundlage des Vertrauensverlustes in die Wissenschaften, der schon länger systematisch von einschlägigen Kreisen vorangetrieben wurde, möglich.

In den USA gibt es eine regelrechte Tradition von Kampagnen zur Manipulation der Öffentlichkeit für plumpe wirtschaftliche Eigeninteressen und gegen das Allgemeinwohl. Die Tabakindustrie hat lange Zeit die Schädlichkeit des Rauchens heruntergespielt und entsprechende Studien kleingeredet oder durch getürkte Gegenstudien relativiert. Es hat sehr lange gedauert und viele Menschenleben auch von Nichtrauchern gefordert, bis endlich das, was man schon lange wusste, gegen viele Widerstände zum Schutz der Nichtraucher gesetzlich beschlossen wurde.

Ähnlich ist die Zuckerindustrie vorgegangen. Als durch wissenschaftliche Studien klar wurde, dass Zuckerkonsum zur Gewichtszunahme führt, wurde eine riesige Kampagne entfesselt, in der das Fett als Dickmacher herausgestellt wurde. Auch in diesem Bereich wurden Untersuchungen gefälscht, um die Harmlosigkeit des Zuckers zu belegen und die Gewinne der Unternehmen in diesem Bereich nicht zu schmälern. In der Folge wurde Zucker in immer mehr Lebensmittel vor allem bei Fertiggerichten, Soßen, Getränken usw. hinzugefügt, sodass die Konsumenten zur Zuckersucht konditioniert werden konnten.

Eine Achse des Bösen

Die „Achse des Bösen“ reicht vom Koch-Netzwerk (rechtsextreme Ölmilliardäre, die verschiedene Desinformationsinstitute gegründet haben) über das Murdoch-Imperium (rechtsgerichtete Medien, z.B. der republikanische Propagandasender Fox) bis in die konservativen, liberalen, rechten und rechtsextremen Parteien in Europa. Die Hauptvertreter der FPÖ z.B. wiederholen die Propagandaformeln dieser Desinformationsnetzwerke , als hätten sie die Wahrheit und als gäbe es keine Wissenschaften, die in Tausenden Studien das Gegenteil nachgewiesen haben: Den Klimawandel gibt es nicht („Es kommt eine neue Eiszeit); wenn es ihn gibt, dann ist er nicht menschengemacht („Es war früher auch schon wärmer“), es ist nicht das CO2 schuld („Das brauchen ja die Pflanzen“), es sind die Sonneneruptionen, die zu Klimaschwankungen führen, und die „Klimahysterie“ führt nur dazu, dass ein „wohlstandvernichtender Ökosozialismus“ eingeführt wird. 

Mehr von rechtskonservativer Seite kommen die Argumente: Wir tun schon so viel, aber die Chinesen, Inder, usw. verursachen viel mehr Treibhausgase.  Oder: Wir tragen so minimal zu den CO2-Emissionen bei, dass es keinen Unterschied machen würde, wenn wir den CO2-Ausstoß auf null reduzieren würden. Die Rechtsextremen leugnen oder bezweifeln den menschengemachten Klimawandel, während die rechtsgerichteten Konservativen die Klimapolitik auf minimaler Sparflamme halten wollen. Beide Richtungen ziehen deshalb den Karren der Ölmagnaten und spannen ihr Wahlvolk zusätzlich ein.

Natürlich sind all die Argumente von rechtsextrem bis rechts nichts als billige Ausreden, die leicht widerlegbar sind. Außerdem sind sie zynisch, weil das Klimaproblem die gesamte Menschheit betrifft und alle ihren größtmöglichen Beitrag bringen müssen, wenn die ärgsten Auswirkungen vermieden werden sollen. Außerdem sind, historisch betrachtet, die jetzt reichsten Länder des Westens seit zwei Jahrhunderten die Vorreiter der Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxid, dass dieser Vorsprung in der Täterschuld lange nicht von anderen Ländern aufgeholt werden kann.

Mit solchen Kurzschlüssen, Dummheiten oder Naivitäten arbeiten diese Parteien den Großverdienern in der Fossilbranche in die Hände, und vermutlich fließt über irgendwelche Kanäle die entsprechenden Belohnungen. Jedenfalls sahnen sie ihre Wählerstimmen im Feld der Skeptiker und Verunsicherten ab, indem sie ihnen als Heilmittel den schamlosen Zynismus schmackhaft machen: Angesichts der sich häufenden Klimakatastrophen bestürzt zu sein und stur zu behaupten, dass es nichts zu ändern oder zu lernen gibt.

Die erwähnte Achse kann als böse benannt werden, weil sie dazu dient, ob wissentlich oder unwissentlich, dass der Menschheit massiver Schaden zugefügt wird, bzw. dass alle Maßnahmen zur Verhinderung des Schadens torpediert werden , nur um die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen und dort zu mehren. Es sind also blanke Egoismen, die, mit viel Geld in der Hinterhand, im großen Stil gegen die Menschlichkeit und Vernunft kämpfen. Sie sind aktiv gegen das Gemeinwohl gerichtet, denn die vom Klimawandel ausgelösten Lebensveränderungen betreffen alle und besonders jene, die zu den Schwächeren und Ärmeren in der Gesellschaft gehören.

Diese Strategien waren sehr erfolgreich und haben dazu beigetragen, dass die Bereitschaft für die kritiklose Übernahme von „alternativen“, in Wirklichkeit aber gefälschten und manipulierten Fakten in weiten Bereichen der Gesellschaft gewachsen ist und zunehmend von der fossilen Wirtschaft für die eigenen Zwecke genutzt werden kann. Es gelang, eine Armee von nützlichen Idioten zu erschaffen, die nichts an den Kampagnen verdienen, aber dennoch in Gesprächen und in den sozialen Medien bereitwillig mithelfen, Unwahrheiten zu verbreiten, Menschen zu verunsichern und die Klimaschutzpolitik in Misskredit zu bringen und zu blockieren.

Zum Weiterlesen:
Petromaskulinität und toxische Männlichkeit

Dienstag, 10. September 2024

Petromaskulinität: Toxische Männlichkeit und Klimazerstörung

Immer wieder fällt auf, dass sich beim Thema Klimaschutz aggressive Abwehrlinien zeigen, sobald es um Autos mit Verbrennermotor geht und dass es vor allem Männer sind, die sich persönlich bedroht fühlen, wenn das Aus für diese Antriebsart gefordert wird und die sich deshalb für die oft unseriös geführte Kritik an der E-Mobilität engagieren. Es handelt sich dabei um Personen, die eher konservativen oder rechten Parteien zugeneigt sind und autoritären Führern folgen oder ihnen zumindest teilweise Glauben schenken. Mit diesen Einstellungen ist zusätzlich noch häufig eine offene oder verdeckte Frauenfeindlichkeit verbunden.

Cara New Daggett ist in ihrem Buch „Petromaskulinität“ diesen Zusammenhängen nachgegangen. Bei dieser Thematik wirken verschiedene Faktoren zusammen: Toxische, also in der patriarchalen Ideologie wurzelnde Männlichkeit, Autoritarismus, Ausplünderung der fossilen Brennstoffe. Es sind mächtige Faktoren, die vor allem mit den Mitteln der Desinformation den Kampf gegen die Erderwärmung und ihre Auswirkungen untergraben wollen. Daggett nennt dieses Konglomerat eine „desaströse Konvergenz“. Alle diese Faktoren sind in den Programmen und Reden der rechtsorientierten Parteien versammelt und bilden dort zusammen mit dem Migrationsthema das Zentrum der Propaganda und die Zielrichtung der angestrebten Gesellschaftsveränderung. 

Die Unterdrückung des Begehrens

Die psychologische Dynamik bei dieser Konstellation wird in der Analyse von Daggett durch den Begriff des „Begehrens” bestimmt, den sie von Klaus Theweleit („Männerphantasien“, erschienen 1977 – „der Klassiker über die seelischen Grundlagen des Faschismus“) übernommen hat. Theweleit argumentiert in seiner Analyse der faschistischen Freikorpskämpfer in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg, dass die Industrialisierung zur Entgrenzung der Produktionsmöglichkeiten geführt hat (auf Kosten vor allem der  fossilen Ressourcen, wie wir heute wissen), dass dieser Prozess aber nur deshalb erfolgreich war, weil parallel dazu die „Entfaltung der menschlichen Lüste“ begrenzt und eingedämmt wurde. Das Ausleben des lustbetonten Begehrens ist für den Kapitalismus nur interessant, wenn daraus neue Arbeitskräfte hervorgehen. Die männlichen Körper und ihre Triebenergien müssen nach dieser Logik durch einen autoritären Staat eingedämmt werden, damit diese Kräfte zur Gänze der Güter- und Profitproduktion dienen können. Männlichkeit ist mit Härte verbunden, mit Rigidität und Starrheit. Theweleit spricht vom „soldatischen Damm-Mann“, der als Schutzwall gegen alles Stand hält, was fließt und überfließen könnte. Mit dem Fließen ist das Weibliche assoziiert, das dem Damm-Mann Angst macht. Fließen darf nur die Produktion (oder die Förderung von fossilen Brennstoffen); begehrt wird statt der Frau, die eine ungezügelte Lust und das Eintauchen in ein hemmungslosen Vergnügen verspricht, der autoritäre Staat, der das Fließen im Außen garantiert und die innere Triebunterdrückung belohnt. Das Fließen und Strömen, das in der Hingabe an das Weibliche erfahren werden könnte, würde die Härte aufweichen und zu Verletzlichkeit und Schwäche führen. Es herrscht die Angst, dass die Stärke, die in der Starrheit aufbewahrt ist, dadurch aufgezehrt wird, gewissermaßen aufgeweicht und dann weggeschwemmt von der weiblichen Flut begehrlicher Gefühle.

Der Frauenhass, der in diesen seelischen Konstrukten Wirkung entfaltet, ist nichts als der Ausdruck der männlichen Angst vor dem verbotenen Begehren. Die Ersatzbefriedigung wird in der Destruktivität gefunden. Die erstarrte Stärke des Damm-Mannes kann sich nur aggressiv ausdrücken. Sie zeigt sich in der Gewalt gegen Frauen, im schlimmsten Fall als Femizid. Stellvertretend für die Aggressionen auf reale Frauen wirkt die Zerstörungswut gegen die Natur, gegen das Symbol des Weiblichen. Je unsicherer das Verhältnis zur eigenen Männlichkeit ist, desto stärker ist die Neigung zu Dominanz und Aggressivität. Die Verfügung über PS-starke und laute Motoren in Autos, Flugzeugen, Motorrädern und Jachten drückt diese beiden destruktiven Energien aus.

Die Faszination des schwarzen Goldes

Im englischen Wort für Benzin, „petrol“ steckt das lateinische Wort für Stein (petra), also für das Harte; aber im Zusammenklang mit „oleum“ (Öl) zeigt sich das Fließende, das schwarze Gold. Das Erdöl, das Flüssige, das aus dem Harten und Festen kommt, entfaltet seine Kraft im Verbrennen. Diese Kraft verheißt dem modernen Menschen (Mann) Macht bis hin zur Weltherrschaft. Deshalb kämpfen vor allem Männer um den Zugang zu diesem Rohstoff. 

In dieser Machtverheißung liegt die Anziehungskraft der Verbrennungsmotoren für die verängstigte und verunsicherte Männlichkeit, die im Leistungs- und (Selbst-)Ausbeutungswahn gefangen ist. Die Identifizierung mit der scheinbar unendlichen Kraft und Macht, die aus dem Verbrennen kommt, wird zum Rettungsanker, der die Sicherheit vor den unheimlichen Mächten des Fließens verspricht und die patriarchale Dominanz aufrechterhalten soll. 

Im Prozess des Verbrennens wird durch die Destruktion von Natur Platz für Neues geschaffen. Diese Form der Weiterentwicklung, in der immer ein Moment der Zerstörung und der Gewalt enthalten ist, gilt als das einzige Form, mit der das Schlechte erfolgreich beseitigt werden kann. Die Form einer langsamen, evolutionären Veränderung wird ebenfalls mehr dem Weiblichen zugeordnet und genießt deshalb wenig Vertrauen beim abgehärteten Mann. Das Feuer steht dagegen für eine schnelle und nachhaltige Vernichtung von allem, was der männlichen Macht im Wege steht.

In dieses Spektrum passt der Befund aus Befragungen, dass Männer klimawandelskeptischer sind als Frauen und dass sie eher zu rechtsgerichteten Parteien tendieren, die lieber von „Klimahysterikern“ reden als sich um die Folgen und die Opfer der Klimaveränderungen zu kümmern. Der FPÖ z.B. ist das Thema nicht einmal ein Absatz in ihrem Wahlprogramm wert. Viele Männer sind blind für den Zusammenhang zwischen den Profitinteressen der Fossilindustrie und deren zerstörerischen Auswirkungen auf das Weltklima. Sie identifizieren sich mit der Macht, die durch das Verbrennen von Öl entsteht, ohne zu merken, dass die Profite, die sie mit ihrem Engagement fördern, nur wenigen Privatpersonen zugutekommen, während sie selber an den Auswirkungen der Zerstörung der Erdatmosphäre leiden müssen. Sie ignorieren die Einsicht, dass diejenigen, die am wenigsten zur Klimazerstörung beitragen, am meisten davon betroffen sind, sowohl innerhalb der Staaten als auch weltweit. Und sie verstehen nicht, dass, wie im Kapitalismus üblich, Private die Profiteure der Zerstörung sind und die Allgemeinheit, also vor allem die „kleinen Leute“ die Kosten für die angerichteten Schäden tragen müssen. Die zerstörerischen Folgen für die Lebensqualität und Gesundheit von Milliarden Menschen sind den Leuten, die Tag für Tage Milliarden an der Verbrennung fossiler Brennstoffe verdienen, völlig egal und sie haben auch keine Skrupel, durch systematische Desinformation Anhänger zu finden, die sich als nützliche Idioten an die Propagandamaschinerie der Klimaleugner anhängen.

Fossile Rohstoffe und autoritäre Regierungsformen: Begehren, was beherrscht und ausbeutet

Privilegien und Profite, die durch die Ausbeutung fossiler Rohstoffe entstehen, können am besten dadurch abgesichert werden, dass ihre Nutznießer autoritäre Regierungsformen anstreben und faschistische oder andere demokratiefeindliche Parteien fördern, die sich diesem Ziel widmen. Die Verbrennerideologie dient mit dem Einsatz von riesigen Summen dem Zweck, Personen und Personengruppen zu mobilisieren, sich für die Interessen der fossilen Industrie einzusetzen. 

Dazu passt das Zitat von Michel Foucault über den Faschismus, „der uns die Macht lieben und genau das begehren lässt, was uns beherrscht und uns ausbeutet.“ Mit dieser Täuschung gelingt es, Menschen mit geringem Einkommen dazu zu bringen, Politiker zu wählen, die ihnen noch mehr wegnehmen, indem sie die Steuern der Reichen senken und die Armen belasten. Viele Menschen unterstützen die Propaganda der Ölfirmen gegen Windkraft, Wärmepumpen, Solarstrom oder E-Autos, obwohl kein Cent der 5 Milliarden $, die die Förderung fossiler Brennstoffe pro Tag abwirft, in ihre Taschen fließt und obwohl sie unter den Folgen des schleppenden Einsatzes gegen die Erderwärmung zu leiden haben. Oder sie unterstützen politische Richtungen, die mit ihrer verbrennerfreundlichen Politik aktiv das Untergraben der Lebensbedingungen auf dem Planeten fördern. Es gibt genügend Frauen, die frauenfeindliche und von toxischer Männlichkeit infizierte Propaganda oder Witze verbreiten und meinen, sie tun damit Gutes. Selbst die besessene Verherrlichung von hypermännlichen Idealen wird von manchen Frauen geteilt oder bewundert. 

Psychologisch betrachtet steckt hinter den männlichen Machtansprüchen die „tief liegende Angst angesichts der sozialen Fragilität von Maskulinität sowie das allen gemeinsame Gefühl, diesem Ideal persönlich nicht gerecht geworden zu sein.“ (Daggett S. 31) Auf das Gaspedal zu drücken und das Aufheulen des Verbrennermotors zu hören, der dem eigenen Willen gehorcht, verleiht ein Gefühl von Macht, das eine momentane Überlegenheit und Unantastbarkeit verspricht. Es sind ein überhöhtes* Selbstbild und eine Scheinsicherheit, die auf einer Weise der Zerstörung natürlicher Ressourcen beruhen, mit der zugleich die Erdatmosphäre in Mitleidenschaft gezogen wird, mit der also doppelter Schaden angerichtet wird.

* Nicht zufällig steigen die Verkaufszahlen der umweltschädlichen SUVs, in denen der Fahrer höher thront als die Konkurrenten auf der Straße.

Literatur:

Cara New Daggett: Petromaskulinität. Fossile Energieträger und autoritäres Begehren. Berlin: Matthes & Seitz 2023
Christian Stöcker: Männer, die die Welt verbrennen. Der entscheidende Kampf um die Zukunft der Menschheit. Berlin: Ullstein 2024

Freitag, 23. August 2024

Dimensionen des Glücks

Wenn es um das Glück geht, wird häufig zwischen Hedonismus und Eudaimonismus unterschieden. Beide Begriffe gehen auf die griechische Philosophie zurück. Mit Hedonismus (griech. hedoné: Vergnügen, Lust, Begierde) wird ein Glückszustand verstanden, der kurzzeitig anhält und möglichst häufig erreicht werden soll. Der psychologische Hedonismus ist eine Theorie, dass alle menschlichen Handlungen auf die Vermehrung von Lust und die Verringerung von Schmerz ausgerichtet sind.

Der Eudaimonismus geht auf Aristoteles zurück, der das Glück mit dem ethisch rechten Handeln in Verbindung brachte. Wenn die Lebensführung dem Guten dient, werden nicht nur die eigenen Fähigkeiten optimal entfaltet, es stellt sich auch ein ausgeglichenes und gelassenes Gemüt ein. Gutes zu tun, trägt einen inneren Wert in sich und führt zur Übereinstimmung mit sich selbst, während böse oder schlechte Taten nicht nur Schaden anrichten, sondern auch zu einer inneren Spaltung und zum Unglück führen. 

Zwei US-amerikanische Psychologen haben eine Studie veröffentlicht, in der sie für eine dritte Dimension des Glücks plädieren. Sie berufen sich dabei auf Friedrich Nietzsche, der seinen Zarathustra im Kapitel „Der Wanderer“ sprechen lässt: „Gipfel und Abgrund – das ist jetzt in Eins beschlossen! Du gehst deinen Weg der Größe: Nun ist deine letzte Zuflucht worden, was bisher deine letzte Gefahr hieß!“ Shigehiro Oishi (Psychologieprofessor in Chicago) und Erin Westgate (Assistenzprofessorin an der Universität von Florida) sehen die Figur des Wanderers als Beispiel für ein „psychologisch reiches Leben“, das sich mit Hedonismus (Glück als Lustmaximierung) und Eudaimonismus (Glück als sinnerfülltes Tun des Guten) nicht zufrieden gibt.

Kognitive Komplexität

Nach den Studien von Oishi und Westgate geht es bei dieser Form des Glücks zunächst um „kognitive Komplexität“. Das mentale Erfassen der Vielgestaltigkeit der Phänomene, ihrer Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt ist eine Qualität, die das Wechseln von Perspektiven und das Einnehmen unterschiedlicher Sichtweisen erleichtert. Damit wird die Wirklichkeit mehrdimensional wahrnehmbar und verständlich. Einseitige Standpunkte, monotone Gedankenschleifen oder wiederkehrende emotionale Muster  werden langweilig und überflüssig. Andere Menschen werden nicht mehr auf isolierte Bewertungen festgenagelt („Herr X. ist ein Schwachkopf“), sondern in ihrer Vielschichtigkeit („Herr X. hat mir einen schlechten Rat gegeben, aber sonst ist er ein netter Mensch.“) Das Tun der Menschen, auch wenn es nicht den eigenen Normen entspricht, wird erst aus einer Vielzahl von möglichen Motiven verständlich. 

Menschen, denen diese Form des Glücks vertraut ist, lassen sich gerne überraschen und entdecken mit Vorliebe neue Aspekte an dem, was sie erleben. Oft pflegen sie eine Vielfalt an Interessen. Sie sind in ihren politischen Ansichten offen und lernfähig. Es fällt ihnen leicht, Toleranz zu üben und unterschiedliche Lebensformen oder sexuelle Orientierungen zu akzeptieren. Durch die Flexibilität in ihrem Erleben gelingt es ihnen, aus Erfahrungen, die unangenehm oder irritierend sind, einen Wert zu ziehen und einen positiven Kontext zu finden. Dadurch wird das Ertragen von Belastungen und schlechten Erfahrungen erleichtert. Krisen können als Lernchancen begriffen und genutzt werden.

Diese Form des Glücks taucht auch bei allen Formen der Kreativität auf. Der schöpferische Prozess beinhaltet Momente der Überraschung und des Entdeckens von neuen Möglichkeiten. Er erweitert den Horizont und öffnet neue Perspektiven, für die Person, die das Werk in die Welt bringt, und für alle, die es erleben. Der Vorgang des Schaffens ist häufig von einem erhebenden und mitreißenden Flow-Zustand begleitet: Das kreative Tun wird zu einem Geschehen, das das ganze Innere ausfüllt, ohne irgendeine Kontrolle durch einen kritischen Verstand. 

Die Reise in die Tiefe

Der wandernde Zarathustra ist allerdings jener, der die Reise nach innen sucht und sich mit den Abgründen des Seelenlebens auseinandersetzt: „Tiefer hinab in den Schmerz, als ich jemals stieg, bis hinein in seine schwärzeste Flut! So will es mein Schicksal.“ In dieser Seelentiefe ist das Höchste zu finden: „Aus dem Tiefsten muss das Höchste zu seiner Höhe kommen.“

Nach Nietzsche und auch nach den Lehren vieler spiritueller Meister und Mystiker kann das höchste Bewusstsein nur erreicht werden, wenn die inneren Dämonen konfrontiert werden. Es sind Schmerzen und Ängste, die in diesen Gestalten stecken. Sie müssen erfahren, durchlebt und entmachtet werden, um in die Tiefenschichten der Seele vorzustoßen und dort das höchste Potenzial freizulegen, über das Menschen verfügen. Dort findet sich eine Form des Glücks, das völlig frei ist von äußeren Bedingungen und aus einer tiefen Quelle des eigenen Seins fließt.

Oishi und Westgate haben ihre Studie mit amerikanischen Studenten gemacht. Sie ist deshalb nur beschränkt aussagekräftig, was die Motive und Glücksstrategien der Menschen anbetrifft. Auch scheint der Begriff des Eudaimonismus, den sie verwenden („Glück durch Sinn und Bedeutsamkeit“), wenig mit dem Glücksverständnis von Aristoteles zu tun zu haben. Und schließlich finde ich den Begriff des „psychologischen Reichtums“ als nicht sehr glücklich gewählt. Zwar ist es nachvollziehbar, dass Psychologen ihrer Wissenschaft die höchste Bedeutsamkeit zumessen, doch scheint das Phänomen, das sie untersucht haben, weit über die Psychologie und ihr Fachgebiet hinauszugehen. Außerdem sollte nicht der Eindruck erweckt werden, dass man ein Psychologiestudium für diese Form des inneren Reichtums braucht.

Geo-Artikel zu dem Thema

Zum Weiterlesen:
Das Geheimnis der Lebensfreude
Das individuelle Glück und die Ungeheuerlichkeit des Leids
Der Mythos vom verlorenen Glück


Mittwoch, 21. August 2024

Die politische Korrektheit

Im Hintergrund und Umkreis der erörterten Begriffe von wokeness, kultureller Aneignung und cancel culture steht die political correctness. Hier geht es vor allem darum, Diskriminierungen in der Sprache zu vermeiden. In vielen sprachlichen Ausdrücken schwingen negative Bewertungen mit, die bei den angesprochenen Gruppen Verletzungen auslösen und deshalb vermieden werden sollten. Die Idee besteht darin, durch die Änderung von Sprachgewohnheiten das Bewusstsein zu ändern, das dann zur Aufhebung von sozialen Benachteiligungen führen könnte. 

Wie bei ähnlichen Bestrebungen, die von liberalen oder linksgerichteten Intellektuellen initiiert wurden, entstanden auch beim Thema der politischen Korrektheit bald kulturpolitische Auseinandersetzungen, bei denen konservative und rechte Kreise sich dagegen zur Wehr setzten, Gewohnheiten zu verändern. Wie bei anderen verwandten Themen trat auch hier der Effekt auf, dass irgendwann der Ausdruck selber abgewertet oder lächerlich gemacht wurde. Wer sich politisch korrekt verhalten will, sei ein „Hypermoralist“, der/die nur die anderen zu kleinlichen, umständlichen oder absurden Formulierungen zwingen will. Diese Kreise sprechen sich in der Regel zwar nicht direkt für Diskriminierungen aus, lassen aber in ihrem Kampf gegen Sprachveränderungen jeden Respekt vor den benachteiligten Personen vermissen.

Das Gendern

Bekannt und weit verbreitet ist die Debatte um das Gendern, das den rechtsgerichteten Politiker*innen ein Dorn im Auge ist, sodass in den österreichischen Bundesländern, in denen die FPÖ mitregiert, ebenso wie in Bayern das Gendern im amtlichen Bereich verboten wurde. Auf die Zusammenhänge zwischen dem Kampf gegen das Gendern und für die Aufrechterhaltung des Patriarchalismus bin ich an anderer Stelle eingegangen. 

Benennungen und Status

Eine andere Kritik an der politischen Korrektheit weist darauf hin, dass die Veränderung des Sprachgebrauchs nichts an den Diskriminierungen ändert und höchstens verschleiert, dass es sie nach wie vor gibt. Es erweckt den Anschein, als wäre eine „Raumpflegerin“ sozial oder ökonomisch besser gestellt als eine „Putzfrau“ oder als hätten „Sexarbeiterinnen“ mehr Prestige als „Prostituierte“ oder gar „Huren“. Andererseits können solche Sprachveränderungen dazu führen, das Selbstgefühl der betroffenen Personen zu heben, indem sich z.B. ein „facility manager“ wertvoller und respektvoller behandelt fühlt als ein „Kloputzer“.

Manche politisch korrekte Bezeichnungen sind mittlerweile im Großen und Ganzen unbestritten, wie z.B. die Ächtung des Begriffs „Neger“, der im Duden mit einem besonderen Hinweis versehen ist, der auf den diskriminierenden Bedeutungsinhalt hinweist. Oft ist an solchen Stellen nur mehr vom N-Wort die Rede. Sinti und Roma werden nicht mehr als Zigeuner bezeichnet; die Eigenbenennung einer ethnischen Gruppe soll immer den Vorrang vor oft abwertend verwendeten Fremdbezeichnungen haben. Ähnliches gilt für die Inuit. Diese Beispiele zeigen Fortschritte in der Bewusstheit in der Achtung von Minderheitenrechten, die sich gegen konservative Widerstände durchgesetzt haben.

Politische Korrektheit in Hinblick auf die Vergangenheit

Ob allerdings der Gebrauch dieser inzwischen verpönten Ausdrücke auch auf die Vergangenheit übertragen werden sollte, wird heftig debattiert. In Österreich ging es z.B. um den Kinderbuch-Klassiker „Hatschi Bratschi Luftballon“ von Franz K. Ginzkey (erstmals 1904 erschienen), in dem Schwarze und Türken rassistisch abgewertet vorkommen. Soll das Buch deshalb nicht mehr verkauft werden? Es gibt jetzt abgewandelte und entschärfte Versionen, aber auch die ursprüngliche Fassung kann mit einem Begleitheft erworben werden, in dem auf die zeitbedingten ethnischen und rassistischen Blindheiten aufmerksam gemacht wird.

In Deutschland gab es vor zwei Jahren eine große Aufregung, weil die Winnetou-Filme angeblich nicht mehr im Fernsehen gezeigt werden sollten. Manche befürchteten einen Kahlschlag nationaler Kulturgüter im Namen der politischen Korrektheit und deckten sich rechtzeitig mit Karl-May-Ausgaben ein, sodass die Winnetou-Bände für einige Zeit an die Spitze der Bestsellerliste kamen. Von einem Politiker wurde sogar ein „Winnetou-Gipfel“ verlangt: Die Koalitionsparteien müssten damit den Häuptling „retten“ und der Kanzler dort „endlich Flagge zeigen“. Schließlich stellte sich heraus, dass die Filme weiterhin gezeigt und die Bücher ungehindert lieferbar sind, und die Debatte verlief im Sand.

Historische Bedingtheiten

Wer mit einigem historischen Verständnis ausgestattet ist, kann solchen Debatten wenig Sinnvolles abgewinnen. Die Vorurteile und Stereotypen, die in früheren Zeiten selbstverständlich waren,  haben sich überlebt, auch wenn das noch nicht allen aktuellen Zeitgenoss*innen bewusst geworden ist. Wir erkennen einen Fortschritt in der Achtung von anderen Kulturen und Traditionen, von Hautfarben und unterschiedlichen sexuellen Orientierungen. Dieser Fortschritt soll mit den Hinweisen auf politische Korrektheit weiter vorangetrieben werden. Historisch denken heißt, alle kulturellen Hervorbringungen als Ausdruck einer bestimmten historischen Epoche, eines Zeitgeistes mit all seinen Beschränkungen zu verstehen. Deshalb ist in solchen Fällen nur ein Mehr an geschichtlichem Reflektieren notwendig und nicht das Korrigieren von klassischen Texten. Es ist bekannt, dass Karl May ein guter Geschichtenschreiber war und spannende Romane verfassen konnte, aber nicht, dass er über ein toleranteres Weltbild verfügt hätte als der Durchschnitt seiner Zeitgenoss*innen. Die Bücher von Ginzkey sind eben auch Zeitdokumente und führen uns vor Augen, mit welchen Brillen unsere Vorfahren die Welt erlebt haben.

Sich sprachlich und auch sonst politisch korrekt zu verhalten, ist Ausdruck der Toleranz und des Respekts vor den Rechten von Randgruppen, Minderheiten und anderen benachteiligten Gruppen. Wie alles Menschliche hat auch die politische Korrektheit ihre Grenzen und stellt kein Allheilmittel gegen soziale Ungerechtigkeiten dar. Aber sie setzt Maßstäbe für die Verbesserung des ethischen Umgangs in der Gesellschaft, die wir beachten sollten, wenn wir unseren Mitmenschen achtungs- und würdevoll begegnen wollen. 

Zum Weiterlesen:
Gendern und die Wunden des Patriarchats
Woke - ein Beispiel für politische Aneignung
Das Reizthema LBTQ und der Patriachalismus
Das N-Wort und die politische Korrektheit


Freitag, 16. August 2024

Kulturelle Aneignungen im Kapitalismus und in der Kulturentwicklung

Im Reigen der neueren Begriffe in der kulturpolitischen Debatte fehlt jetzt noch jener der „kulturellen Aneignung“. Dieser Begriff ist eng mit der Kolonisationsgeschichte verbunden, geht aber auch darüber hinaus. Er kommt vom englischen Cultural Appropriation, und das heißt so viel wie widerrechtliche Aneignung oder Inbesitznahme, was soviel bedeutet wie kultureller Diebstahl. Die gebräuchliche Übersetzung ins Deutsche klingt harmloser und wird deshalb häufig missverstanden.

Die Sensibilisierung in den westlichen Gesellschaften für dieses Thema hat in den westlichen Gesellschaften vor ungefähr 40 Jahren im Kreis der Kultur- und Sozialwissenschaften begonnen und  ist nun in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Auch die Erkenntnisse in der Aufarbeitung der Kunsträubereien durch die Nationalsozialisten haben zur Bewusstheit für diese Thematik beigetragen und dazu geführt, dass entwendete Kulturgüter an die ursprünglichen Eigner zurückgegeben wurden. Probleme treten vor allem dort auf, wo Kulturgüter unter Ausnutzung von asymmetrischen Machtverhältnissen angeeignet werden und die Ursprungskultur verschwiegen oder verachtet wird. 

Das Thema kulturelle Aneignung kann viele Emotionen entfesseln, weil es bei Schwarzen, indigenen Menschen oder People of Color Erinnerungen an traumatisierende Erfahrungen mit rassistischen Abwertungen weckt. Diese Empfindlichkeit spiegelt die Lasten des Kolonialismus wider, der bis heute wirksam ist und dessen Ideologie besagte, dass die Weißen allen anderen Rassen überlegen sind. Die vor allem von Europa ausgehende koloniale Expansion zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert hat nicht nur mit der Sklaverei und der Ausplünderung von Bodenschätzen unendliches Leid hervorgebracht und viele Kriege angezettelt, sie hat auch eine große Zahl von indigenen Kulturen und Traditionen ausgerottet oder schwer beschädigt. Das, was den Weißen von den einheimischen Kulturgütern als interessant oder hübsch erschienen ist, haben sie einfach mitgenommen und stolz in unsere Museen gestellt.

Viele weiße Personen, die von den Gräueln des Kolonialismus nichts wissen oder wissen wollen, können die verletzten Gefühle der Vertreter indigener Völker oft nicht nachvollziehen und verstehen die Empfindlichkeiten nicht. Es fehlt an historischer Aufklärung über die Schneisen an Gewalt und Ausbeutung, die durch die Kolonialmächte quer durch die südlichen und östlichen Kontinente geschlagen wurden. Die Verachtung und Arroganz, mit welcher die Kolonialherrn alle nicht-weißen Menschen behandelt und misshandelt haben, wirken bis heute als kollektive Traumen nach und nähren die Scham- und Wutgefühle bei den betroffenen Menschen, die sich dann an jeder neuen Form der hochmütigen weißen Ignoranz aufs Neue entzünden. Der Respekt für jede Form von Kultur ist erst in letzter Zeit in den westlichen Ländern langsam gewachsen und schwächt den strukturellen Rassismus, den es nach wie vor in unseren Breiten und in Übersee gibt und der auf viele Normen und Sichtweisen hierzulande einen subtilen Einfluss ausübt.

Strittige Fälle der kulturellen Aneignung

Die UNESCO hat schon 1970 ein Abkommen verabschiedet, mit dem der Handel mit Kulturgütern unterbunden und das nationale Erbe des jeweiligen Landes geschützt werden soll. Dennoch gibt es immer wieder Fälle der kulturellen Aneignung, bei denen die Rechte der ursprünglichen Besitzer nicht geachtet werden. 

Ein Beispiel bilden die Dreadlocks. Sie stammen aus der Rastafari-Bewegung schwarzer Jamaikaner und wurden als Symbol der Unterdrückung und des Protestes dagegen getragen. Als sie zum Modegag für Leute wurden, die alle westlichen Freiheiten genießen und zu den Profiteuren des Kolonialismus zählen, reagierten viele mit antikolonialem Hass. 

Der Hip-Hop als Musikrichtung diente zunächst und ursprünglich der Wiedergabe der Lebenswelt schwarzer Menschen, die Texte waren vor allem gegen Diskriminierung und Benachteiligung gerichtet. Als auch Weiße mit diesem Musikstil Geld machten, fühlten sich die schwarzen Hip-Hopper bestohlen und ihres Protestmittels beraubt.

In Mexiko soll erstmals die kulturelle Aneignung unter Strafe gestellt werden. Der Anlass besteht darin, dass westliche Modelabels Webmuster der indigenen Bevölkerung  ungefragt und ohne Kompensation für ihren Profit verwendet haben. Diese Muster haben für die Bevölkerung eine hohe kulturelle und religiöse Bedeutung.

Kapitalismus und kulturelle Aneignung

Der Kapitalismus breitet sich ungehemmt aus, wenn er nicht durch staatliche Gesetze oder zwischenstaatliche Abkommen eingeschränkt wird. Er inhaliert auch alle kulturellen Güter, aus denen Profit geschlagen werden kann, wie z.B. eine verkitschte Mozartmelodie, die im Einkaufszentrum zu konsumieren anregen soll. Das mexikanische Beispiel schlägt in die gleiche Kerbe. Kulturgüter werden zu Waren und dienen der Ankurbelung der kapitalistischen Prozesse, bei denen an irgendeiner Stelle der Reichtum angehäuft wird und anderswo schrumpft.  Die Traditionen werden eingeebnet und gleichgeschaltet, sodass sich die mondänen Einkaufsstraßen in den Metropolen durch nichts mehr voneinander unterscheiden: Die Modeketten, die mit ihren Schaufenstern locken, sind überall auf der Welt die gleichen, ebenso wie die Melodien, die drinnen dudeln. 

Zwar gibt es immer wieder Kunstwerke, die der Vermarktung voraus sind, aber irgendwann werden sie eingeholt, außer sie sind so widerspenstig wie die Zwölf-Ton-Musik oder der Free-Jazz. Den Kulturtraditionen und indigenen Kulturen ergeht es nicht anders. Irgendwann werden ihre passablen Elemente entdeckt und in eine neue Modeströmung eingebaut, in der sie ihre ursprüngliche Aussagekraft verlieren. Sobald die nächste Welle kommt, werden sie wieder vergessen, und ein Stück Ursprünglichkeit ist für immer dahin. Die Profitkarawane zieht weiter und schert sich nicht darum, wer sich verletzt und wütend fühlt. Staatliche Gesetze können dieses Treiben da und dort eindämmen, aber alle Kulturgüter, die durch solche Maßnahmen aus dem Sog der Vermarktungsdynamik herausgehalten und eigens geschützt werden, verhalten sich zur Ursprungskultur wie Zootiere zu ihren wild lebenden Artgenossen. 

Keine Kultur ohne Aneignung

Es gibt keine Kulturentwicklung ohne die Übernahme von Kulturelementen aus anderen Traditionen. Kultur lebt vom Austausch und von gegenseitiger Befruchtung an den Grenzen der Kulturräume. Jeder Kulturschaffende gewinnt seine neuen kreativen Impulse aus dem, was andere bereits geschaffen haben. Allerdings ist es auch Teil der Kultur, denjenigen Respekt und Anerkennung zu zollen, denen man die eigenen Schöpfungen zu verdanken hat.  Dort, wo dieser Akt der Bescheidenheit und Dankbarkeit versäumt wird, kann man von ungerechtfertigter und unmoralischer Aneignung sprechen. 

Der antikoloniale Affekt ist verständlich, der in Bezug auf viele Kulturschöpfungen aus benachteiligten Kulturräumen und –traditionen ausbricht, wenn sie ungefragt kopiert und in entfremdende neue Kontexte eingebettet oder zu Profitzwecken vermarktet werden. Solche Wutgefühle genügen aber nicht dafür, die Kulturentwicklung insgesamt einzuschränken. Die Freiheit, die diese Entwicklung braucht, ist wesentlich für ihr Gedeihen, und ihr Gedeihen ist wesentlich für den Fortbestand der Gesellschaft und letztlich für das Wohlbefinden der Menschen. In dieser Entwicklung finden immer mehr Traditionen und Kulturräume ihren mitgestaltenden Platz, indem sie in ihrer Eigenart und ihrem Eigenwert anerkannt und zugleich zu einem kommunikativen Austauschprozess eingeladen werden. Auch indigene Kulturtraditionen haben nicht nur einen historischen Wert, der bewahrt werden sollte, sondern auch ein inneres Veränderungspotenzial als Reaktion auf die verändernden Rahmenbedingungen und auf die historischen Prozesse, in denen sich alle Traditionen befinden. 

Andererseits ist es ein wesentlicher Teil der Kulturentwicklung, die bewertungsfreie Anerkennung aller Kulturschöpfungen und kulturellen Traditionen zu fördern, die die Menschheit je hervorgebracht hat. Wir sind Teil einer Weltkultur, die aus allen Quellen der Kreativität der Menschen auf dieser Erde schöpft und in ihrer Gesamtheit Wirkungen auf alle Menschen entfaltet. Jede Abwertung irgendeiner kulturellen Tradition bedeutet einen Rückschritt in der Kulturentwicklung. Die Debatten um die kulturelle Aneignung machen auf diese Dimension aufmerksam und dienen deshalb selber als Teil dem kulturellen Fortschritt.


Sonntag, 11. August 2024

Cancel-Culture und künstlerische Freiheit

Ich gehe weiter in der Begriffserkundung neuerer Worte, die in der kultur-politischen Debatte benutzt werden und Kontroversen auslösen. Worum geht es bei Cancel-Culture? 

Wie Julian Nida-Rümelin, Philosoph und Autor schreibt, wurde das „canceln“ zunächst (2014) als spaßiger Ausdruck dafür gebräuchlich, dass man jemanden aus der Bekannten- oder Freundesliste streichen will, der abwegige Meinungen vertritt. Aus dem Film „New Jack City“ (1991) wurde ein Zitat übernommen: Selina: „You’re a murderer, Nino. I’ve seen you kill too many people, Nino.” Nino Brown: “Cancel that bitch. I’ll buy another one.” 

Das Wort wurde aber dann bald von Randgruppen aufgegriffen und benutzt, um gegen Diskriminierungen aufzutreten. Personen, die für Verletzungen von Menschenrechten und für menschenverachtende Ideologien verantwortlich gemacht werden, sollen geächtet und, soweit es sich um KünstlerInnen handelt, die öffentlichen Auftritte boykottiert oder verboten werden. Damit soll der Fortschritt in der Toleranz und gesellschaftlichen Offenheit gefördert werden. Die Debatte dreht sich vor allem um Fragen von Sexismus und Rassismus, ähnlich wie die Themen, die mit dem Woke-Begriff verbunden sind. Es sollen Menschen, die den Idealen der Emanzipation und sozialen Gerechtigkeit nicht folgen, durch öffentlichen Druck zum Umdenken gebracht werden. Dabei wird über den Anlassfall hinaus immer auch für eigene Anliegen Aufmerksamkeit erzeugt. Es geht also grundsätzlich um die Erweiterung und Sensibilisierung der Moral und des gegenseitigen Respekts, Grundlagen für jede freie Demokratie, Anliegen, die anhand von einzelnen Vorkommnissen thematisiert werden.

Inzwischen hat sich um diesen Begriff eine komplexe Debatte entwickelt. Auf der einen, der konservativen Seite, wird eine Überempfindlichkeit beklagt, mit der kleinste Kleinigkeiten oder missverstandene Äußerungen zum Aufschreien von Massen führen können. Die Folge bestünde dann darin, dass sich niemand mehr etwas zu sagen traue, aus Angst, sich einem shitstorm in den sozialen Medien auszusetzen. Es ginge in der Debatte nicht mehr um bessere Argumente, sondern um die richtige moralische Einstellung, und der rationale Diskurs bleibt auf der Strecke. Damit werde schließlich der Zensur Vorschub geleistet. Oft wird dann wehleidig gejammert: „Da darf man ja wohl gar nichts mehr sagen.“ Natürlich darf in einer freien Gesellschaft jeder alles sagen, nur muss man mit ablehnenden Reaktionen rechnen, wenn sich andere Menschen oder Menschengruppen durch eine Äußerung verletzt fühlen, oder wenn das, was gesagt wird, der Vernunft oder der Ethik widerspricht. Das ist das Wesen einer offenen Debatte. Die Nutzung des Rederechtes ist unter den Bedingungen der Meinungs- und Redefreiheit nur eine Frage der Zivilcourage.

Deshalb wird auf der anderen, der liberalen Seite darauf aufmerksam gemacht, dass es um einen Kampf in der Meinungsführerschaft geht, der mit der konservativen Kritik an einer Cancel-Culture angefeuert wird. Notwendige kritische Stimmen gegen Ungerechtigkeiten könnten mit dem Cancel-Vorwurf abgewehrt werden. Ähnlich wie beim Woke-Begriff ist auch die Cancel-Culture inzwischen zum fixen offensiven Bestandteil rechtsorientierter Propaganda geworden. Z.B. wird der Begriff im rechten US-Sender Fox News wesentlich öfter verwenden als auf den liberalen Sendern CNN oder MSNBC. 

Vertreter auf beiden Seiten des Debattenspektrums befürchten aus unterschiedlichen Gründen die Einschränkung des öffentlichen Diskurses und damit eine Gefährdung der bürgerlichen Freiheiten und der Demokratie. 

Cancel-Culture und Rache

Es gehört zu den menschlichen Schwächen, anderen, die einen auf die Nerven gehen oder durch ihr Reden und Tun verletzen, Schaden zufügen oder sie bestrafen zu wollen. Der Impuls zur Rache ist uns allen bekannt. Zugleich ist es wichtig, diesen Impuls einzudämmen, um nicht Böses mit Bösem oder noch Böserem zu vergelten, um also Konflikte nicht zu eskalieren, sondern mit gegenseitigem Respekt lösen. Vor allem ist es wichtig, dass Inhalte und Personen unterschieden werden. Wenn im Namen von mehr Gerechtigkeit und Toleranz Personen angegriffen werden, die offenbar oder nur scheinbar diese Ideale verraten, geht die Rache zu weit und erzeugt neues Unrecht und vermehrt die Intoleranz. Eine Künstlerin beispielsweise, die Bemerkungen machte, die als antisemitisch verstanden werden könnten, wird anderswo nicht mehr eingeladen, erleidet also einen geschäftlichen Schaden, ohne dass über die Stichhaltigkeit der Vorwürfe ausreichend diskutiert wird. Immer wieder wird im Namen der Cancel-Culture über das Ziel hinaus geschossen, was nicht zur Bewusstseinsbildung führt, sondern nur zur Vertiefung von kulturellen und politischen Frontenstellungen. Denn sobald es zu solchen Vorfällen kommt, melden sich die Vertreter der unterschiedlichen Richtungen zu Wort, mit dem Ziel, den Anlass für ihre eigenen Ziele im Meinungswettstreit zu nutzen.

Die Racheimpulse und das Bewusstsein über ihre Gefahren gibt es schon lange. Sie kommen überall im politischen Spektrum vor. Neu ist es, dass solche Entgleisungen als Cancel-Culture benannt werden. Mit dem neuen Begriff wird das Konfliktpotenzial aufgeladen. Konflikte erhalten eine neue Dimension, eine Meta-Ebene, bei der es nicht mehr um das ursprüngliche kontroversielle Thema geht, sondern um die Behauptung im Kampf um Positionen in der politischen und kulturellen Landschaft. 

Künstlerische Freiheit und Cancel-Culture

Es steht jedem Veranstalter frei, ein- oder auszuladen, wen er oder sie will. Es steht jedem Besucher frei, Veranstaltungen zu besuchen oder nicht; wenn aber im Sinn der Cancel-Culture Vorverurteilungen vorgenommen werden oder wenn auf Grund von öffentlicher Aufregung und nicht nach sorgsam abgeklärten Vorwürfen Kulturschaffende ausgeladen und damit zu Objekten politischer Debatten und Konflikte gemacht werden, dann werden genau die Grenzen überschritten, die durch die Cancel-Culture gewahrt werden sollten.

Mit dem Gaza-Krieg hat die Cancel-Culture neue Höhepunkte erreicht. Proisraelische Kulturinstitutionen oder solche, die nicht antiisraelisch wahrgenommen werden wollten, konnten nun keine Leute einladen, die sich nicht klar proisraelisch outeten und mussten mit Boykottaufrufen von propalästinensischen Kreisen rechnen, und vice versa. Statt die öffentliche Debatte mit verschiedenen differenzierten Sichtweisen zu beleben und aufzulockern, kam es zu einer bedauerlichen Verarmung der kulturellen Streitkultur. In solchen Vorgängen erhebt die politische Sphäre einen Machtanspruch über die kulturelle Sphäre und beraubt sie damit der Freiheiten, die sie für ihre Kreativität braucht. Kultur, die in ihrem Schaffen der Politik untergeordnet ist, verliert ihre künstlerische Potenz und provokative Aussagekraft, das kann am Beispiel jeder Diktatur belegt werden.

Politische Konflikte heizen also die Cancel-Culture jedes Mal wieder neu auf, seit sie thematisiert wurde. Der künstlerische und kulturelle Bereich verliert dadurch mehr und mehr an Chancen, gerade solche Konflikte aus ungewohnten Perspektiven zu beleuchten und andere Aspekte bewusst zu machen, die übersehen werden. Es wird zunehmend von Kunstschaffenden verlangt, dass sie sich klar politisch positionieren, und das stellt eine Bevormundung und eine Einschränkung der künstlerischen Freiheit dar.

Zum Weiterlesen:
Woke - ein Beispiel für politische Aneignung


Freitag, 2. August 2024

Woke - ein Beispiel für politische Aneignung

Ein Etikett geistert in den Debatten im kulturell-politischen Bereich herum, schillernd und wandelbar, in Verwendung für moralische Imperative und für pauschale Abwertungen. Es taucht als Selbstzuschreibung für eine tolerante und auf Ungerechtigkeiten sensibilisierte Werthaltung auf und wird zunehmend eher als verallgemeinerte Fremdzuschreibung für gegnerische politische Orientierungen gebraucht.

Es geht hier um das „Woke“-Sein. Der Duden definiert"woke" als: „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung."

Der Begriff war ursprünglich gegen rassistische Diskriminierung gerichtet, als Aufruf an die Angehörigen von Minderheiten oder benachteiligten Gruppen, bezüglich der Verletzungen von Menschenrechten wachsam zu sein und sich für die Verbesserung der eigenen Situation zu engagieren. Der Begriff ist in den 19-dreißiger Jahren in afro-amerikanischen Kreisen entstanden und ist in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zunehmend in den öffentlichen Diskurs gekommen. Dabei wurde die Begriffsverwendung ausgeweitet und auf jede Form von Diskriminierung (rassistisch, sexistisch, sozial) angewendet. Seitdem hat sich die Bedeutung des Begriffes in verschiedene Richtungen verändert. Als Tendenz kann beobachtet werden, dass sich immer weniger Menschen selbst als „woke“ bezeichnen, während der Begriff umso mehr als Fremdbezeichnung verwendet wird. Konservative oder rechtsorientierte Gruppierung nutzen ihn in einem abwertenden und abwehrenden Sinn, um Tendenzen zu bekämpfen, die ihnen nicht gefallen oder vor denen sie Angst haben. Die „wokeness“ bezeichnet inzwischen eher eine Grenzlinie im aktuellen Kulturkampf als eine klare politische Einstellung und Werthaltung.

Ein Aspekt in dieser Begriffsentwicklung scheint mir interessant und typisch für verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen zu sein. Ursprünglich als Aufforderung zum Erkämpfen und Wahren von Minderheitsrechten der Afroamerikaner geprägt, wurde das Wort verallgemeinert und immer detaillierter auf alle möglichen Aspekte von sozialer Benachteiligung angewendet. Der Katalog an Einstellungen, die notwendig waren, damit sich jemand als „woke“ bezeichnen konnte, wurde ständig erweitert. Damit verlor der Begriff an direkter Schlagkraft und wurde zu einer allgemeinen Bezeichnung für eine offene und inklusive Position im kulturellen und politischen Spektrum. Ab diesem Punkt hat er die Gegner solcher Entwicklungen auf den Plan gerufen, und sie hatten ein Schlagwort, unter das sie alles subsummieren können, was sie an den kulturellen Veränderungen verhindern wollen.

Der Begriff ist also als Abwehrwaffe gegen gesellschaftliche Veränderung in das Repertoire von rechtsgerichteten Politikern gelangt. Gewissermaßen ist dem Begriff eine koloniale Aneignung widerfahren, ein Prozess, der in solchen Zusammenhängen immer wieder aufscheint und kritisch registriert wird: Ein Wort mit emanzipativem Gehalt und Impuls wird seinem ursprünglichem Zusammenhang entnommen und auf andere Anliegen angewendet, um diesen mehr Gewicht zu verleihen. Durch die Erweiterung der Anwendung verliert der Begriff an Kraft. Zugleich wächst die Gegnerschaft, denn jedes neue Anliegen hat neue Gegner. Sie nehmen das Wort auf und nutzen es als Etikett für ihre Gegenaktionen. Es wird in der Folge zur Überschrift für alles, was nach der Meinung der Gegner in die falsche Richtung geht. Ein Wort, das ursprünglich als Ermutigung zur Befreiung aus Umständen mit Ungerechtigkeit und Unterdrückung gedient hat, hat sich in diesem Prozess in einen Begriff zur Abwehr dieser Befreiung und damit zur Aufrechterhaltung von Benachteiligung und Unterdrückung verwandelt.

Zum Beispiel wurde durch die Verallgemeinerung der „wokeness“ die Verwendung einer gendergerechten Sprache zu einem Zeichen für die Unterstützung emanzipativer Bestrebungen. Wer korrekt gendert, ist „woke“. Andererseits: Wer gegen die Verwendung der genderkonformen Sprache ist, und das sind konservative und rechte Kreise, lehnt nicht nur das Gendern ab, sondern, indem es als „woke“ abgewertet ist, zugleich die anderen in diesem Begriff zusammengefassten Befreiungsanliegen. Es lehnen also Leute, die gegen das Gendern sind, auch die anderen emanzipativen Anliegen ab, obwohl sie vielleicht explizit gar nicht gegen eine Aufhebung der Diskriminierung von schwarzen US-Bürgern sind. Aber weil der Begriff als negativ konnotiertes Codewort in den Diskurs eingebracht wird, werden implizit alle bestehenden Unterdrückungsbedingungen bekräftigt. Wer gegen das Gendern in Schrift und Rede auftritt, indem er es als „woke“ Spinnerei kritisiert, argumentiert nicht nur gegen bestimmte Sprechformen, sondern zugleich gegen alle anderen emanzipatorischen Bewegungen. Auf diese Weise ist die „wokeness“ eine begriffliche Waffe gegen die Weiterentwicklung von Freiheitsrechten geworden und wird fleißig in die diversen Propagandakanäle eingespeist.

Die vielfältigen emanzipativen Bewegungen haben ihren inneren Sinn und ihre Wichtigkeit, weil das Leiden von den betroffenen Gruppen verringert oder beseitigt werden muss. Für die Findung und Förderung von Wegen zur Befreiung hat der Begriff der „wokeness“ inzwischen jede Aussagekraft verloren. Die Konfliktlinie verläuft nach wie vor zwischen denen, die die bestehenden Privilegierungen verteidigen wollen, und jenen, die für die Erweiterung und Vertiefung von Freiheitsrechten eintreten. Die Konflikte müssen zu allen Anliegen, die von Gruppen aufgebracht werden, die sich benachteiligt fühlen, ausgestritten werden. Viele Unterdrückungsverhältnisse konnten im Lauf der Geschichte aufgehoben werden, viele warten noch darauf, und neue werden laufend benannt und angeklagt. Das ist der Prozess der gesellschaftlichen Emanzipation, der seit Beginn der Menschheit im Gang ist. Er wird aktuell da und dort zurückgefahren, auch unter Verwendung des angeeigneten Woke-Schlagwortes. Aber ist gibt überall immer wieder Menschen, die daran glauben und sich dafür einsetzen, dass allen Menschen die grundlegenden menschlichen Geburtsrechte zugestanden werden müssen.