Samstag, 26. April 2025

Sprachverzerrung durch Macht

Die Aufgabe der Sprache liegt im Wesentlichen darin, dass sich die Menschen untereinander abstimmen – über ihre Befindlichkeiten und über die Wirklichkeit. Menschen suchen immer nach der Übereinstimmung mit ihren Mitmenschen, um sich sicher zu fühlen. Für dieses Sicherheitsgefühl ist es auch notwendig, dass es eine Übereinstimmung über die Welt im Außen gibt. Mit Hilfe der Sprache teilen wir unsere Gemütszustände und unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit. Wenn zwischen den beiden Bereichen Widersprüche aufklaffen, entstehen Unsicherheit und Verwirrung als Reaktion. 

Damit wir einander vertrauen können, brauchen wir zumindest ähnliche Einschätzungen über die Wirklichkeit. Mit jemandem, der ganz konträre Ansichten über die Welt hat als wir selber, tun wir uns schwer, Vertrauen aufzubauen. Für das Vertrauen benötigen wir auch die Verlässlichkeit, dass die Menschen um uns herum eine gewisse Beständigkeit aufweisen, dass sie also nicht jeden Tag andere Meinungen vertreten. 

Auf diese Weise regeln die Menschen den Umgang miteinander. Missverständnisse werden nach Möglichkeit ausgeräumt. Die Übereinstimmung immer wieder herzustellen, ist ein wichtiges Anliegen, weil dadurch Vertrauen und soziale Sicherheit geschaffen werden. 

Machtgesteuerte Kommunikation

Systematische Verzerrungen entstehen vor allem dann, wenn sich die politische Macht in die kommunikativen Netzwerke einmischt. Macht hat von sich aus die Tendenz, sich auszuweiten, bis ihr eine andere Macht entgegentritt. In Demokratien, sorgt die Gewaltenteilung dafür, dass es zu jeder Form der Machtausübung eine institutionalisierte Kontrolle und Grenze gibt. Damit wird die Verschmutzung der kommunikativen Kanäle möglichst gering gehalten. Sobald die demokratischen Institutionen aufgeweicht oder ausgeschaltet sind, können die machtgesteuerten Kommunikationsinhalte und –formen umso leichter die Kommunikationsräume fluten. Die Folge ist die Verkrüppelung und Verzerrung der Sprache. Denn sie dient dann nicht mehr der Verständigung und der Übereinstimmung über die Realität, sondern der Durchsetzung von Sichtweisen ohne Realitätsbezug. Abweichende Sichtweisen werden unter Strafe gestellt oder anderswie aus den Kommunikationsräumen verbannt.  Die Funktion der Sprache, nach der Wahrheit zu suchen, um eine sichere Basis der Verständigung aufzubauen, verschwindet. Stattdessen wird der Unterschied zwischen Realität und Fantasie oder Ideologie eingeebnet. Die vorherrschende Macht legt fest, was für wahr gehalten werden muss. 

Die Nazisprache und die Folgen

Die langfristigen Folgen konnten wir schon beobachten: Der deutsche Sprachraum war auf Jahrzehnte hinaus verseucht durch die Nazisprache. Da sie weiter von rechten Kreisen gepflogen wird, ist die Verzerrung der Sprache nach wie vor nicht überwunden. Erst vor kurzem verwendete ein Rechtsabgeordneter im österreichischen Parlament den Ausdruck „Umvolkung“, einen NS-Terminus mit seinem gesamten rassistischen und gewaltbesetzen Gehalt, der ohne Ordnungsruf vom ebenso rechten Nationalratspräsidenten hingenommen wurde. Auf diese Art pflegen die Rechten und Rechtsextremen das „Niemals vergessen“: Die Sprachzerstörung immer wieder wachzurufen, um die Tür zur Diktatur offen zu lassen. Sprachzerstörung ist Gesellschaftszerstörung und damit direkt auch Menschenzerstörung. 

Sprachzerstörung in den USA

In den USA können wir gewissermaßen in Echtzeit verfolgen, wie die Unterwerfung des sozialen Diskurses, in dem die Sprache der Verständigung und der Herstellung von geteilten Realitäten dienen sollte, durch gewaltsame Eingriffe dem Machtapparat unterworfen wird. Das geschieht durch Bücherverbote, Zensierung von Lehrinhalten auf Schulen und Universitäten, existenzbedrohlichen Druck auf Staatsangestellte und öffentlich Bedienstete, durch das Verbreiten von Angst bei ausländischen Studenten und Immigranten, durch das Biegen des Rechts und durch ein Trommelfeuer an Propaganda und durch offensichtliches und schamloses Lügen. Sprache wird zum Instrument einer aggressiven und autoritären Politik, die ihre Macht ausbreiten und vertiefen möchte, um niemals mehr in die zweite Reihe zurücktreten zu müssen. Hitlers wahnwitziger Plan vom „Tausendjährigen Reich“ soll hier Auferstehung feiern, zunächst darin, dass Trump eine dritte Amtszeit entgegen der Verfassung anstrebt und in dieser Zeit die Weichen stellen wird, dass die Republikaner, die auf seinen Kurs getrimmt sind, in Hinkunft jedes Mal die manipulierten Wahlen gewinnen werden.

Die Erosion der Sprache und damit des gesellschaftlichen Diskurses geschieht schleichend. Die Sprache wird sukzessive mit Gewaltvokabeln angereichert, bis diese Aufladung als normal empfunden und von immer mehr Menschen angewendet wird. Begriffe werden ihren bisherigen Kontexten entrissen und mit ideologischen Inhalten besetzt. Die Grenzen zwischen Realität und frei erfundenen Fantasiewelten werden aufgeweicht und durchlässig, sodass jede Sicherheit in der Unterscheidung zwischen diesen beiden Bereichen schwindet. Die politische Macht, die sich zur alleinigen Deutungsmacht aufschwingen will, bestimmt über das, was wirklich und unwirklich ist. Es ist eine Willkür ohne einen realen Außenpol, der korrigierend eingreifen könnte. 

Die epistemische Willkür hält sich auf Dauer allerdings nur als Wahnsinn oder mit Hilfe brutaler Macht. Irgendwann zerschellt das Fantasiegebäude an der unerbittlichen Wirklichkeit, und die Machtkonstruktionen brechen zusammen. Es dauert aber noch lange, bis die Schädigungen an der Sprache repariert sind und die Gewalt- und Machteinflüsse identifiziert und entfernt werden können.

Zum Weiterlesen:
Der Hass in der politischen Fixierung
Der Propagandatrick der Umkehrung
Taktiken zur Machtergreifung
Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff von rechts


Sonntag, 20. April 2025

Die Globalisierung von Konflikten durch die Aktivierung von Traumen

In vielen Gebieten der Welt herrscht unermessliches Leid als Folgen von gewaltsamen und langwierigen Konflikten. Das berührt auch die anderen Mitglieder der Menschenfamilie und führt oft zu einem tiefen Mitgefühl für die Opfer dieser Konflikte.

Humane Katastrophen bringen die Menschen dazu, nach Erklärungen für die Auslöser zu suchen. Denn solche Ereignisse sollten nach Möglichkeit in Zukunft verhindert werden. Die richtige Erklärung sollte dazu helfen.  Die einfachste Erklärung besteht darin, einen Schuldigen zu finden, der dann ausgeschaltet oder bestrafen werden kann. Doch führen die einfachen Erklärungen meist in die Irre. Die menschlichen Angelegenheiten sind bekanntlich immer vielschichtig und komplex.

Allerdings werden diese Konflikte zu emotional aufgeladenen Themen vereinfacht und verbreiten sich weit über die Konfliktgebiete hinaus. Dort schaffen sie zusätzliche, sekundäre Konflikte, die weitere Opfer fordern. Denn das Leid von Menschen wird in Waffen für alle möglichen politischen Interessen umgeschmiedet. Aus schrecklichen Unmenschlichkeiten werden ideologische Konstrukte gefertigt, die nichts mehr mit dem Leid der Betroffene zu tun haben, sondern anderen Zwecken dienen. Ein wichtiger Aspekt solcher Konstrukte ist es, Unbeteiligte dazu zu bringen, sich in das ideologische Freund-Feind-Schema einzugliedern, um die eigene Position zu stärken und den eigenen Hass zu rechtfertigen. 

Der Nahostkonflikt in globaler Polarisierung

Eines dieser Themen ist der Nahostkonflikt – seit es ihn gibt. Der Terrorüberfall am 7. Oktober 2023 und die darauf folgende militärische Reaktion Israels haben dieses Thema in einem unglaublichen Ausmaß emotional aufgeladen und zu massiven Polarisierungen geführt, die sich gleichsam durch die ganze Welt ziehen. Die Frontlinien verlaufen ungefähr so: Wer für Israel Partei ergreift, wird von der anderen Seite als Unterstützer eines Genozids eingeschätzt; wer sich auf die Seite der Palästinenser stellt oder die Politik der israelischen Regierung kritisiert, wird als Antisemit gebrandmarkt. 

Je mehr emotionale Aufladung herrscht, desto schwerer wird es, differenziert zu argumentieren; es geht nur mehr um die Frage: Bist du für oder gegen mich/uns? Es gibt nur eine Wahrheit, wer sie teilt, ist ein Freund, wer sie bestreitet, ist ein Feind und muss bekämpft werden. Emotionale Aufladung bedeutet immer Stress; Stress bewirkt die Vereinfachung des Denkens und die Aktivierung des Freund-Feind-Schemas. 

Aktivierung von Traumen

Solche Themen werden oft von Menschen aufgegriffen, die direkt gar nichts damit zu tun haben, weil sie andere Interessen bedienen und politischen Erfolg mit einer Parteinahme erreichen wollen. Tiefer betrachtet, nutzen sie unbewusst solche Themen, um bei den Menschen in ihrer Zielgruppe Traumareaktionen auszulösen. Denn die Energien, mit denen solche Themen emotional aufgeladen und mit Wut und Hass belebt werden, stammen aus Traumen, in denen die Person das Opfer von übermächtiger Gewalt war und meint, sich jetzt gegen diese Gewalt wehren zu müssen, um nicht wieder in die ohnmächtige Opferrolle zu geraten. Das ist also eine unbewusste Dynamik, in der sich die individuelle Traumaerfahrung mit dem kollektiven Traumafeld verbindet.

Identifikation mit den Opfern

Im Nahostkonflikt gibt es auf beiden Seiten viele Opfer, aber das eigene Trauma bewirkt bei Unbeteiligten, sich mit einer Seite der Leidenden zu identifizieren und für diese Seite mit allen Mitteln zu kämpfen. Stellvertretend für das eigene erlittene Opfersein sollen die aktuellen Opfer aus ihrer bedrohlichen Position befreit werden und damit soll ein Sieg über das Böse, das ursprünglich die Schuld am eigenen Trauma getragen hat, erreicht werden. 

Als Folge dieser Ausbreitung der Konfliktfelder entstehen Konfliktgräben auf der ganzen Welt, und die Parteien mit all ihren Stellvertretern stehen sich wie zwei steinzeitliche Heerhaufen in mörderischer Absicht gegenüber – die einen drohen mit der Keule des Genozids, die anderen mit der Keule des Holocausts. Dazu kommt, dass alle, die da nicht mitmachen wollen, gezwungen werden sollen, Partei zu ergreifen, oft nach dem Motto: Bist du nicht bedingungslos für uns, dann bist du unser Feind. Damit wird weit abseits der Konfliktgebiete eine Debattenkultur erschaffen, die die Grausamkeit der realen Kriege in die ganze Welt trägt, von Aggressionen aufgeladen ist und mehr und mehr Menschen in ihren Bann zieht.

Natürlich gibt es die verschiedensten Interessensgruppen und Lobbys, die daran arbeiten, dass politische Konfliktthemen emotional aufmunitioniert werden. Sie wollen die Traumawunden für sich nutzen, die tief in der Psyche der meisten Menschen verankert sind. Die Propaganda dieser Gruppen ist schon geschult darin, die Sprache zu finden, mit denen die individuellen und kollektiven Traumen getriggert und aktiviert werden. Wenn dazu noch eine Lösung oder gar ein Erlöser präsentiert wird, gelingt es leicht, Anhänger zu finden und an die eigene Gruppierung zu binden. Einmal eingefangen, ist es für die Zielobjekte dieser Masche schwer, wieder zu einer eigenen Meinung und einer ausgewogenen Sichtweise zurückzufinden. 

Die sogenannten sozialen Medien tragen viel dazu bei, diese Rekrutierungsmanöver noch effektiver zu gestalten, denn ihre Algorithmen sind darauf eingestellt, die entsprechenden Traumaschleifen zu verstärken und zu vertiefen, wenn sie ihnen einmal durch das Nutzerverhalten auf die Spur gekommen sind. Sie verschärfen die Polarisierung und die Überzeugung, dass es überlebenswichtig ist, auf der einen Seite zu stehen und die andere zu verdammen.

Die Macht des Traumas in Verbindung mit den von der Propaganda angebotenen Abwehr- und Verlagerungsstrategien ist so dominant, dass das Feindbild zu einem Teil der eigenen Identität wird, ja werden muss, denn für das Unterbewusste sichert die Klarheit über die Gefahr und die „wirklichen“ Bösewichter das Überleben.

Schnell wird das Opfer-Täter-Retter-Dreieck vervollständigt: Zunächst findet die Identifikation mit dem Opfer statt, z.B. mit den Palästinensern im ausgebombten Gaza-Streifen oder mit israelischen Familien, die um das Leben einer Geisel bangen. Dann werden die Täter namhaft gemacht, und die Wut und der Hass aus der eigenen Traumawunde werden auf sie gerichtet. Schließlich bietet sich ein Retter an, z.B. ein Politiker, der kompromisslos und vehement für eine Seite des Konflikts engagiert ist, oder eine Partei, die die eigene Sichtweise auf die Opfer- und Täterrolle teilt.

Der Ausstieg aus solchen Dynamiken fällt enorm schwer und kann meist ohne Hilfe von außen nicht gelingen. Eine solche Hilfe ist nur dann wirksam, wenn sie auf die emotionale und nicht auf die rationale Ebene der Bindung an eine bestimmte Position in einem konfliktreichen Thema eingeht. Jemanden von seiner Überzeugung, die stark in die eigene Identität aufgenommen wurde, abzubringen, ist umso schwieriger, je stärker die emotionale Aufladung ist.  Die Identifikation mit der Opferseite und mit dem Hass auf die Täterseite dient der Abwehr des emotionalen Schmerzes, der mit dem erlittenen Trauma verbunden ist. Die Aggressionen, die auf die Täter in der aktuellen Thematik gerichtet werden, stammen aus den Kräften, die zum Überleben des Traumas beigetragen haben und müssen deshalb aufrechterhalten bleiben. Darin liegt der Grund, warum immer wieder nach neuen Quellen und Bestätigungen für die Wut- und Hassgefühle gesucht werden. Es darf keine Schwäche zugelassen werden, weil sie an das Ausgeliefertsein, an die Verletzlichkeit und an den Schmerz erinnern würde, an die schamerfüllte Ohnmacht in der ursprünglichen Traumaerfahrung.

Zum Weiterlesen:
Kollektive Traumen und ihre Folgen


Donnerstag, 17. April 2025

Der Hass in der politischen Fixierung

Ein Kennzeichen der rechten Politikorientierung besteht in der Hassfixierung. Es gibt solche Phänomene auch auf dem linken Spektrum, doch sind sie dort weniger ausgeprägt und meistens differenzierter. Viele Rechtsextreme begnügen sich mit ein paar Feindbildern, die mit ihrem Hass belegt werden. Sie wollen stark und mächtig sein, und gehasst wird alles, was mit Schwäche assoziiert ist: Verletzlichkeit, Freundlichkeit, Ehrlichkeit, Kompromissfähigkeit und alles, was als woke verschrien ist. Selbst die zentrale menschliche Tugend des Mitgefühls wird als Ausdruck verweichlichter Moral umgedeutet. Also fühlen sie sich allen überlegen, die die Schwäche nicht so hassen wie sie selber. Sie sind die einzigen, die die wirkliche Gefahr kennen, die der Menschheit droht: Schwache Menschen (die „Herdenmenschen mit ihrer Sklavenmoral“ in Nietzsche’s Diktion), die sich zusammenrotten und den Starken ihren Willen aufzwingen wollen. Deshalb wird die Demokratie verachtet und gehasst. Sie hat den einzigen Nutzen, die „wirklich Starken“ an die Macht zu bringen, und dann wird die richtige Ordnung mit der Unterdrückung von allem Schwachen hergestellt. Das war die Vorgehensweise der Nationalsozialisten 1933 und das ist das Projekt 2025, nach dem gerade die USA umgekrempelt werden.

Die Objekte des Hasses sind also die Schwachen, gleich ob es Frauen, Liberale, Sozialisten, Ausländer oder Angehörige von Minderheiten sind. Ein polnischer Rechtspolitiker hat vor einiger Zeit vor den westlichen (=verweichlichten) Vegetariern und Radfahrern gewarnt, so als wären der Verzicht auf das Fleischessen und das Radfahren eine Gefahr für die gesunde Stärke der Polen. Selbst wichtige Maßnahmen zum Klimaschutz werden aus dieser politischen Richtung bekämpft und als Zeichen von Schwäche gedeutet. Auch biologischer Landbau wird manchenorts, z.B. in konservativ regierten Staaten der USA abgewertet – aktuell gibt es Fälle, in denen Bio-Bauern von der Polizei gezwungen werden, chemische Keulen gegen Schädlinge einzusetzen, obwohl diese auch biologisch bekämpft werden können. Mit Giften wird die Umwelt belastet, was den rechtsgerichteten Politikern egal ist. 

Nur Schwachen kann eine Klimaveränderung etwas anhaben, sollte es überhaupt jemals dazu kommen und die ganze Sache nicht eine Erfindung von gekauften Wissenschaftlern sein. Viele behaupten, dass Klimaschutzmaßnahmen nur zur Unterdrückung der Menschen eingesetzt werden, indem sie Änderungen in der Lebensweise verlangen, die als Zwang erfahren werden. 

In der Coronazeit wurde selbst das Maskentragen und Impfen als Schwäche gedeutet und abgelehnt – viele Rechte brüsteten sich mit ihrem „starken Immunsystem“, um sich den Schutzmaßnahmen nicht unterordnen zu müssen. Natürlich hat das Virus vor solchen Einstellungen nicht Halt gemacht und so manches eingebildetes Immunsystem überwunden, was bei den betroffenen stolzen Maßnahmengegnern dann unweigerlich Schamgefühle ausgelöst hat, die dann verdrängt und in Hass umgewandelt werden mussten.

Die Wurzeln

Der Hass wird offen möglich, wenn die Unverschämtheit ausreichend entwickelt ist. Sie stammt aus einer erlernten Fähigkeit zum Unterdrücken und Überspielen der Schamgefühle. Diese Konditionierung stellt eine Reaktion auf in der Kindheit erlittene Beschämungen dar, als Gegenwehr gegen Herabwürdigungen, als Ausgleich für Abwertungen. Ehrlichkeit wird verachtet, wenn die Eltern das Kind oft belogen haben. Empathie wird als Schwäche gedeutet, wenn sie selber nie erfahren wurde. Verletzlichkeit wird zum Tabu, wenn sie zu Erniedrigungen geführt hat. Freundlichkeit wird abgelehnt, wenn sie in echter Form nie empfangen werden konnte.

Der Hass gilt im Grund den Personen aus der eigenen Lebensgeschichte, die dem Kind all diese wesentlichen emotionalen Grundlagen der Menschlichkeit vorenthalten haben. Darum kennt die innere Landkarte solcher Menschen viele weiße Flecken, die mit Hass gefüllt wurden. Der emotionale Schmerz, der mit der erzwungenen Einprägung der Unverschämtheit verbunden ist, ist so überwältigend, dass an der Haltung des Hasses und an der Verachtung seiner Objekte um allen Preis festgehalten werden muss. 

Die Identifikationsfiguren für Stärke und Kraft hingegen werden verehrt, auch um jeden Preis – sie können selber Schurken, Lügner, Verächter oder Dummköpfe sein, sie können selbst ihre Anhänger auf den Leim führen oder ihnen nach Strich und Faden das letzte Hemd ausziehen – sie bleiben auf dem Podest der Verehrung. Denn die wahren Bösewichter sind fix in der eigenen Psyche verankert. Verschwörungstheorien und faktenferne Fantasien, die von den Führungsfiguren als eigentliche Wahrheiten verbreitet werden, dienen zur Stabilisierung der Fixierung.

Dem Führer sind viele Anhänger sinnloserweise bis in den Tod gefolgt. Bei ähnlich gestrickten Autokraten wie Donald Trump brauchen wir uns nicht zu wundern, dass ihm viele blind folgen und frenetisch Beifall schreien, was immer er gerade macht oder von sich gibt. Aber von der knappen Mehrheit, die ihn gewählt haben, fallen immer mehr ab von seiner Linie, denn nicht alle unterliegen der Hassfixierung. Nicht wenige haben den Blick auf die Realität bewahrt und können abschätzen, was der Abbau der Demokratie und die Abkehr von vielen Grundwerten kosten wird.

Zum Weiterlesen:
Ein Gruselkabinett an der Spitze der USA
Elon Musk: "Empathie - eine Schwäche der menschlichen Zivilisation"


Montag, 14. April 2025

Ein Gruselkabinett an der Spitze der USA

Als Donald Trump nach seiner Wahl die Kandidaten für die neue Regierung vorstellte, haben viele Medien zum Ausdruck „Gruselkabinett“ gegriffen, angelehnt an das „Cabinet von Dr. Caligari“, einem Horror-Stummfilm aus dem Jahr 1920. Das Gruseln rief die Ansammlung von Personen hervor, die der wiedergewählte Präsident nominierte und die mittlerweile im Amt sind, denn sie treten wie die Personifizierungen der wichtigsten menschlichen Schattenseiten auf, als Verkörperungen von Lastern und Todsünden. Sie stellen die gesamte Bandbreite menschlicher Untugenden recht offensichtlich und unverblümt zur Schau, befreit von jeder Scham.

All die üblen Seiten des Menschseins sind in diesem Pandämonium vertreten: Gier (nach Macht, Geld und Ruhm), Neid (auf andere Machthaber und deren Skrupellosigkeit), Überheblichkeit (Verachtung von Andersdenkenden), Geiz, Völlerei (in Form von erpresserischen und ausbeuterischen Fantasien von Eroberungen und Bereicherungen), Zorn (als Hass auf alles, das sich dem Machtstreben nicht bedingungslos fügt), Trägheit (als stolz vor sich hergetragener geistiger Beschränktheit und Dummheit) sowie Wollust (es scheint, als gälte eine Vorgeschichte mit sexuellen Übergriffe für Männer als Eintrittskarte in ein hohes Regierungsamt, während Frauen ein hohes Maß an Verehrung für Trump und einen ausgeprägten Hass auf seine Gegner aufweisen müssen, wenn sie es zu etwas bringen wollen). Dazu gesellen sich noch Zynismus, Empathielosigkeit, Heuchelei, Irreführungen und Lügen, sowie die Anwendung von struktureller Gewalt

Jede Untugend und jeder menschfeindliche Charakterzug ist durch Abwehrstrategien geschützt, damit die Scham den Stolz, also die Selbstachtung, nicht übermannen kann. Mit diesen früh erlernten Hilfen gelingt es, sich einen Deut um die Folgen der eigenen Handlungen zu scheren und stur bei der einmal eingeschlagenen Richtung oder Charakterprägung zu bleiben, koste es, was es wolle. Es kümmert diese Leute auch nicht, was Andersgesinnte über sie denken, denn wer andere Werte und Einstellungen hat, ist nur ein verachtenswerter Idiot. Auch wenn sie sich wie Narren aufführen, vertrauen sie darauf, dass es genug Leute gibt, denen das imponiert und die ihnen zujubeln und sie verehren. 

Das einzige, was sie fürchten, ist der Verlust ihrer Akzeptanz bei den Gleichgesinnten. Deshalb versuchen sie, alle Register der Medienorgeln zu ziehen und mit lautem Dauergetöse den öffentlichen Raum zu füllen, Wechselseitig verstärken sich die Protagonisten und ihr Publikum, sodass die Verrücktheiten dauernd neue Blüten treiben – treiben müssen, da das eingeschworene Publikum nach neuen Unverschämtheiten, nach neuen Tabubrüchen, nach neuen Frechheiten lechzt. Stellvertretend agieren die Protagonisten alles aus, was sich die Applaudierenden verbieten, weil sie zu feige sind oder sich zu schwach und ohnmächtig fühlen..

Dieses Muster sorgt dafür, dass sich beide Seiten der Dynamik immer weiter von der Realität entfernen, sowohl von der naturgesetzlich bestimmten als auch von der sozialen zwischenmenschlichen. An die Stelle von Naturgesetzen treten Verschwörungstheorien und die soziale Welt wird mit dem Säen von Hass entzweit und auseinander getrieben. Je mehr Misstrauen entsteht, desto leichter ist die Machtausübung.

Allerdings ist die Lebensdauer solcher Dynamiken begrenzt, weil die Illusionen, die durch jede Realitätsferne erzeugt werden, irgendwann an der Wirklichkeit zerbrechen. Politiker können ihre Wähler für dumm verkaufen und sich an ihrer Gutgläubigkeit an Geld und Macht bereichern; die Verblendung endet spätestens dort, wo die Folgen verantwortungs- und schamloser Entscheidungen ins eigene Leben eingreifen und als Leid spürbar werden und nicht mehr übersehen oder verdrängt werden können: Arbeitslosigkeit, sinkender Wohlstand, verschlechtertes Gesundheitssystem, zunehmende soziale Spannungen, wachsende Ängste über die Zukunft.

Hier ein paar Beispiele aus dem Regierungsteam von Trump: 

Pete Hegseth, der Verteidigungsminister

Nur knapp ging seine Normierung durch, weil einige republikanische Senatoren gegen ihn wegen seiner fehlenden administrativen Erfahrungen stimmten. Diese Sorge war nicht unberechtigt, denn Hegseth ist für die „Signal-Gate“-Affäre verantwortlich (ein Journalist wurde irrtümlich zu einer hochgeheimen Kriegsplanung eingeladen). Darauf folgte gleich die nächste Affäre: Der Minister hatte seine dritte Frau an vertraulichen Gesprächen mit ausländischen Verteidigungsministern teil nehmen lassen.

Schon als Fernsehkommentator bei Fox News ist er durch radikale Positionen aufgefallen: Er hat sich kritisch gegenüber „woken“ Offizieren im Militär geäußert und die Entlassung aller Offiziere angekündigt, die sich für Diversity-programme engagiert haben. Er leugnet den Klimawandel und bezeichnet die Klimaforschung als „linke Verschwörung“. Die Genfer Konventionen zum Schutz von Zivilpersonen im Krieg sind für ihn Übereinkommen aus Zeiten, in denen Kriege anders geführt worden seien; die US-Regierung werde sich nicht an Regeln halten, die von internationalen Organisationen aufgestellt würden. Er sagte, dass es die einzige Aufgabe der US-Armee sei, zu töten. Er hat sich auch für die Begnadigung von US-Kriegsverbrechern eingesetzt. 

2017 soll er eine Frau sexuell angegriffen haben; es kam zu einer finanziellen Abgleichung mit Verschwiegenheitsklausel. Zum Vorwurf des Ehebruches (er hatte eine sexuelle Beziehung mit seiner jetzigen Frau, als er noch mit der vorigen verheiratet war) sagte er vor dem Militärausschuss, Jesus Christus habe ihm persönlich verziehen, und so sei er mit Gott und der Welt im Reinen und könne das Pentagon leiten, damit Amerika Kriege nicht nur endlos führen müsse, sondern gewinnen möge. Er trägt das Motto der Kreuzritter (Deus vult) als Tätowierung. 

Pam Bondi, die Justizministerin

Sie ist in mehrere Korruptionsverfahren verwickelt und hat schon während der Stimmauszählungen bei der Wahl von 2020 von Wahlbetrug gesprochen, ohne Beweise vorzulegen.

Robert F. Kennedy Jr., der Gesundheitsminister

Kennedy hat eine eigenartige Obsession mit Tierkadavern. Von Trump wurde er als „dümmster aller Kennedys“ bezeichnet, bevor er von den Demokraten zu den Republikaner gewechselt hatte. Seine Impfgegnerschaft hat schon nach ein paar Wochen in seinem Amt eine Reihe von Opfern gefordert. Während der schweren Grippewelle im Februar 2025 wurde die Werbung für Grippeimpfungen gestoppt. Stattdessen sollte auf die Risiken der Impfung verwiesen werden. Bei einer Masernwelle im Süden der USA verharmloste der Minister zunächst die Krankheit, die inzwischen schon einige Todesopfer unter Kindern bewirkt hat, und verbreitete dann eine Reihe von Falschaussagen und warb für Gegenmittel, die entweder nicht wirksam sind oder selber Schäden anrichten. So empfahl er Vitamin A, und in der Folge bekamen dann viele Kinder Anzeichen einer Vitamin-A-Toxizität. Er möchte die Ursache von Autismus herausfinden und hat dafür eine Studie in Auftrag gegeben, die in einem halben Jahr die Ergebnisse vorlegen soll, was bei Fachleuten nur Kopfschütteln hervorruft, weil es sich um eine äußerst komplexe Störung handelt. Vermutet wird allerdings, dass die Studie das Wunschergebnis liefern soll, dass nämlich Autismus die Folge von Impfungen wäre. Kennedy ist zum dritten Mal verheiratet.

Marco Rubio, der Außenminister

Nach seiner Amtsübernahme wurden sofort alle Pässe mit der Geschlechtsbezeichnung X annulliert, also alle transgeschlechtlichen Personen hatten plötzlich keinen gültigen Pass mehr. 

Er entschied sich, die Mittel für USAID (United States Agency for International Deveolpment) drastisch zu kürzen, obwohl er von Beamten der Behörde gewarnt worden war, die schätzten, dass bei einer Streichung der USAID-Programme in den nächsten zehn Jahren eine Million Kinder wegen schwerer Unterernährung unbehandelt bleiben würden, bis zu 166.000 Menschen an Malaria sterben würden und weitere 200.000 Kinder durch Polio gelähmt würden. Seine Meinung zu China ist: „Sie haben sich auf unsere Kosten durch Lügen, Betrug, Hacking und Diebstahl zu einer globalen Supermacht hochgearbeitet.“

Kristi Noem, die Heimatschutzministerin 

Sie ist eine Vertreterin der konservativen Tea-Party-Bewegung und tritt deshalb gegen Schwangerschaftsabbrüche und gegen die gleichgeschlechtliche Ehe sowie für ein unbeschränktes Recht auf Waffenbesitz ein. Sie leugnet den menschengemachten Klimawandel. In ihrer Autobiografie berichtet sie, dass sie mehrere Tiere erschossen hat, darunter eine Ziege, die ihren Kindern immer hinterhergejagt sei, sowie ihre Hündin, weil diese während einer Fasanenjagd nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war.

Sie ist jetzt verantwortlich für alle Abschiebungen, ob diese nun rechtmäßig sind oder nicht. Tausende Menschen in den USA, die einer geregelten Beschäftigung nachgehen, erhalten dieser Tage ein automatisiertes Schreiben, dass sie in sieben Tagen das Land verlassen müssen. Betroffen sind Migrant:innen aus Venezuela, Haiti, Mexiko, Kuba, Afghanistan – Menschen auf der Flucht vor Diktaturen, Armut, Banden, Hunger. Menschen, die nicht illegal eingereist sind, sondern durch ein staatliches Verfahren mit einem Funken Hoffnung eingelassen wurden.

Sean Duffy, der Verkehrsminister

Er bestritt einen Zusammenhang zwischen einzelnen Gewalttaten von White-Supremacy-Anhängern und führte das Attentat von Tucson, bei dem die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords schwer verletzt wurde, auf linke Ideologie zurück. Es wird ihm deshalb vorgeworfen, rechtsgerichtete Gewalttaten zu verharmlosen.

Bei Amtsantritt beseitigte er alle Vergünstigungen beim Kauf von E-Autos und kündigte an, dass jene Gebiete, in denen mehr Eheschließungen und Geburten sind, bei Förderungen bevorzugt werden. Auch er leugnet den Klimawandel. 

Kash Patel, der FBI-Direktor

Er vertritt verschiedene Verschwörungstheorien, u.a. dass die Drahtzieher vom Angriff auf das Kapitol 2020 IFB-Leute gewesen wären. Er glaubt an einen „tiefen Staat“, dem das Handwerk gelegt werden müsse, ebenso wie an das „Russia investigation origins counter-narrative“, also an eine „Theorie“, dass sich nicht russisch gesteuerte Internettrolle in die Wahl von 2016 eingemischt hätten, sondern dass es sich um ein Komplott aus dem „tiefen Staat“ handle, das Trump schaden wolle. 

Zum Weiterlesen:
Elon Musk: "Empathie - eine Schwäche der menschlichen Zivilisation"


Freitag, 11. April 2025

Weltmacht ohne Mitgefühl

Bei einer geleiteten Meditation in der Natur, an der ich kürzlich teilgenommen habe, wurde ein Text vorgelesen, in dem neben vielen schönen und erhebenden Worten zweimal „Amerika“ erwähnt wurde. Mir wurde in dem Moment bewusst, wie sehr sich das Wort „Amerika“ in wenigen Wochen in meiner Gefühlswahrnehmung von neutral bis leicht positiv in einen extrem schlechten Bereich verschoben hat. Es löst Gefühle von Ekel bis Abscheu, Ärger und Unsicherheit aus.

Mir ist klar, dass Amerika viel, viel mehr als die USA ist und auch, dass das, was gegenwärtig in diesem Land geschieht, von vielen US-Bürgern abgelehnt wird. Aber die Mächtigsten im Land zählen auch zu den Mächtigsten auf dieser Welt, und ihre Einstellungen und die daraus folgenden Handlungen haben zum Teil massive Auswirkungen auf große Teile der Weltbevölkerung. Darum kann es uns nicht egal sein, was in den Machtzentren der USA abläuft und welche Absichten jene haben, die an den Schalthebeln sitzen.

Mein erstes Amerikabild war geprägt von den Erzählungen der Erwachsenen in meiner Kindheit, und das war überwiegend positiv, vor allem im Gegensatz zu den Russen, die als barbarisch und bedrohlich geschildert wurden – eine Mischung aus realen Erfahrungen mit vergewaltigenden russischen Soldaten und solchen, die die Armbanduhren in der Bevölkerung abkassierten und aus der Nazi-Propaganda, die viel Hass und Angst auf die „bolschewistischen Untermenschen“ schürte.

Über das Bild der zuckerlverteilenden amerikanischen Besatzungssoldaten legte sich später das des „hässlichen Amerikaners“, gespeist aus den Bildern und Debatten um den Vietnamkrieg. Der US-General, der damals drohte, ganz Vietnam „zurück in die Steinzeit“ zu bomben, steht als Symbolfigur für ein rücksichtsloses und gewaltbereites Land, dem viele damals wünschten, mit ihrer überheblichen und menschenverachtenden Politik zu scheitern, was auch in Vietnam geschah und als kollektives Trauma bis heute im Selbstbild der US-Amerikaner nachwirkt. Auch weltweit hat dieser Krieg zu einem Prestigeverlust für die Staaten geführt. Das Misstrauen gegen die machtgierigen Amerikaner ist bei vielen Linksgerichteten weit verbreitet und tief verwurzelt. Es spielt beispielsweise bei der Beurteilung der Ursachen des Ukrainekrieges mit. Die Sichtweise, dass in diesem Fall Russland als Angreifer die alleinige Verantwortung und Schuld am Kriegsausbruch trägt, wird von vielen Linken, auf der Grundlage eines notorischen Misstrauens in die Machtambitionen der USA, in Frage gestellt. Es gibt aus diesem Blickwinkel verschiedene Narrative, die in den USA und der von ihr dominierten NATO die Hauptverursacher dieses blutigen Konflikts sehen.

Die Ambivalenz, Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit des Amerikabildes, die sich in meiner Beurteilung im Lauf der wechselhaften Geschichte der letzten Jahrzehnte niedergeschlagen hat, ist nun durch die jüngsten Ereignisse übertönt worden. Es scheint kaum zu glauben, wie schnell die Demokratie in den USA kollabieren kann, wenn ein selbstbesessener Präsident skrupellos sein autoritäres Programm durchzieht. Es ist viel die Rede von einer Schockstarre, in die die nunmehrige Opposition und die Zivilgesellschaft gefallen wären, überrollt vom Dauerfeuer aus dem Weißen Haus. Aber nun mehren sich die Anzeichen von Widerstand – mit wenig Aussicht auf Erfolg.

Für viele Generationen von Menschen auf der Welt galten die USA über lange Zeit als Symbol einer Freiheitsverheißung. Doch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat zur Zeit nur eine etwas weniger brutale Kopie von Hitlerdeutschland zu bieten: Militärische Hochrüstung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Machtlosigkeit des Parlaments, Gängelung der Justiz, aggressive Außenpolitik, Rassismus und Ausgrenzung von Minderheiten.

Macht ohne Verantwortungsübernahme

Die USA sind aus der Menschheitsgemeinschaft ausgeschert, weil sie laut gegenwärtiger Regierung auf keinen Fall mehr Verantwortung tragen wollen außer für die von der eigenen Ideologie diktierten engstirnigen Maßnahmen, die angeblich Amerika groß machen sollen. Bei der Erdbebenkatastrophe in Myanmar sind die amerikanischen Hilfsteams ausgeblieben, vor Ort waren die Chinesen und Russen, die in dieser Hinsicht die USA an gelebter Empathie weit in den Schatten gestellt haben.

Der US-Regierung ist der Preis egal, der durch ihre Maßnahmen bezahlt werden muss – in der eigenen Bevölkerung, die unter dem Kahlschlag in der Verwaltung und im Gesundheitssystem sowie unter den Folgen der Zollpolitik leiden muss. Noch weniger schert man sich darum, wie es dem Rest der Welt mit den willkürlichen Maßnahmen geht (das bettelarme Bangla-Desh wird mit 74% „Strafzöllen“ belegt, weil es mehr Waren nach den USA liefert als umgekehrt, denn dort können sich nur wenige einen Tesla oder einen Whiskey kaufen. Tausende werden dort um ihre Arbeit und ihre Existenz gebracht). Soviel offensichtliche Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit haben in der Geschichte der Menschheit nur skrupellose Diktatoren gezeigt, die allesamt letztlich katastrophal gescheitert sind, eine Spur der Zerstörung hinterlassend.

Macht ist in der Regel mit Verantwortung verbunden, viel Macht mit viel Verantwortung. Diese einfache Gleichung war den bisherigen Präsidenten der USA zumindest ansatzweise bewusst. Der jetzige Präsident fühlt sich offenbar nicht mehr daran gebunden und kehrt sie um: Je mehr Macht, desto weniger wird die Verantwortung für die Folgen der Machtausübung wahrgenommen, sowohl im eigenen Land als auch auf der ganzen Welt. Die Folgen sind bei weitem nicht abschätzbar, aber nach dem, was sich jetzt schon abzeichnet, sind die Aussichten trübe. Die Ökonomen sagen einhellig, dass es bei dem entfachten Zollkrieg nur Verlierer gibt; diese Erkenntnis gilt vermutlich für all die anderen Politikbereiche ebenso, in denen sich die Zerstörungswut des Präsidenten und seiner Gefolgsleute austobt.

Aus Katastrophen lernen

Die Erfahrung mit Rückschritten und Rückfällen in vormoderne, um nicht zu sagen primitiv barbarische Formen der Politik im Lauf der neueren Geschichte zeigt, dass nach der Überwindung der dadurch ausgelösten Katastrophen neue Anläufe zu mehr Menschlichkeit und zur Übernahme von globaler Verantwortung unternommen wurden. Jede Katastrophe löst unweigerlich Lernprozesse aus; mit mehr Vernunft und Bewusstheit könnte oder sollte es freilich die Menschheit schaffen, auch ohne Katastrophen die notwendigen Lernschritte zu setzen.

Die Beseitigung der Empathie, also der Mitmenschlichkeit im Bewusstsein der gegenseitigen Verantwortung für das Wohlbefinden der jeweils anderen, schlägt irgendwann hart auf dem Boden der Realität auf. An diesem Punkt wird plötzlich in aller Deutlichkeit bewusst, worum es eigentlich geht in den menschlichen Angelegenheiten. Wie ein Verbrecher, der im Gefängnis versteht, dass ihn das Ausleben des Bösen nicht glücklich gemacht hat, erkennen viele Menschen im Scheitern, dass sie sich im verantwortungslosen Verfolgen der Selbstsucht nur tiefer in die Selbstbezogenheit verstricken, die irgendwann unweigerlich in Verzweiflung und Sinnlosigkeit endet. Die Tragik der menschlichen Geschichte liegt darin, dass diese Erkenntnis oft erst zugänglich wird, wenn alles, was das Ziel der egoistischen Bestrebungen war, in Trümmer zerfallen ist. Das Ego will sich erst verabschieden, wenn es alles ruiniert hat, was es sich erträumte. Wo die Identifikation mit dem Ego so mächtig ist, gelingt ein Ausbruch aus seinen Fängen nur im Scheitern, im Zusammenbruch; tragisch wird es dann, wenn viele andere in diesen Strudel hineingezogen werden, wie z.B. im Ende des Großdeutschen Reiches in den Ruinen und Schuttbergen der deutschen Städte.

Mit unserer genetischen Grundausstattung kommen wir nicht über unser Ego hinaus, das sich höchstens auf ein Gruppenego ausweitet: Das Bindungshormon Oxytocin wirkt nur im vertrauten Umkreis und schürt Misstrauen gegen alles Fremde. Studien haben herausgefunden, dass die Empathie mit Machtgewinn schwächer wird. Je mehr Geld, desto mehr Macht, desto weniger Empathie – so will uns offenbar die Natur. Sie hat allerdings nicht mit den riesigen Anhäufungen von Geld und Macht gerechnet, die in der modernen Zeit durch den Kapitalismus möglich wurden. Die Natur hat uns allerdings auch eine enorme Lernfähigkeit mitgegeben, die wir nutzen können, um unsere Vernunft auszubilden. Sie ist in der Lage, das Ego und seine selbstdestruktiven Impulse zu durchschauen und zu überwinden.

Erst wo die Vernunft das Ego einzuschränken vermag, wird ein Handeln möglich, das von Verantwortung getragen ist. Die Vernunft vermag über den Tellerrand der eigenen individuellen und kollektiven Bedürfnisse schauen und ist offen für ein universelles Mitgefühl, also für ein Verständnis des Leides der gesamten Menschheit.

Zur Universalität des Mitgefühls:
Natan Sznaider: Politik des Mitgefühls. Die Vermarktung der Gefühle in der Demokratie. 
Weinheim: Beltz Juventa, 2021

Zum Weiterlesen:
Musk: "Empathie - eine Schwäche der westlichen Zivilisation"
Der heroisierte Verzicht auf Empathie
Der Propagandatrick der Umkehrung
Taktiken zur Machtergreifung
Muster der rechtsorientierten Propaganda

Samstag, 29. März 2025

Der Propagandatrick der Umkehrung

Die Medien präsentieren Tag für Tag schauerliche Geschichten aus der ältesten Demokratie der Welt. Unverfroren wird der Propagandatrick der Umkehrung genutzt, um die eigenen Machtgelüste zu befriedigen. Z.B. wehren sich die Grönländer gegen einen Anschluss an die USA. Doch behaupten die republikanischen Politiker, dass den Grönländern nur Gutes aus einem Anschluss erwachsen könne.  Der Präsident will seine imperialistischen Gelüste als Sicherheitsgewinn für die Welt verkaufen, während er die Sicherheit seines Landes durch die Aufkündigung der Freundschaft zu Kanada und Europa massiv beeinträchtigt. Es wird behauptet, dass Millionen US-Amerikaner Pension bekämen, die gar nicht mehr am Leben sind, dabei liegt die Fehlerquote unter 1 %, es sind also höchstens ein paar Tausend.  Führende Politiker tauschen sich in einem Chatroom über eine Militäraktion aus, und ein Journalist war irrtümlich dazu eingeladen. Als das Ganze publik wird, wird der Journalist beschimpft, statt dass die Ursachen des peinlichen Fehlers gesucht werden usw.

Wissentlich das Falsche zu sagen, ist mit Scham belegt. Mit dem Trick der Schuldumkehr wird die Person diskreditiert, die einem auf die Schliche kommt, um sie als die eigentlich Böse vorzuführen. Wenn republikanische Politiker von demokratischen Vertretern oder Journalisten auf ihre Wahrheitsverdrehungen und Lügen hingewiesen werden, ist bei den Fernseh- oder Videoaufnahmen leicht zu merken, wie sie die Scham packt und wie sie beginnen, sich zu drehen und zu winden, um dem Netz dieses Gefühls zu entrinnen. Dann kommt die erlösende Umkehrungsfloskel und die Gesichter frieren wieder ein. Auch beim aktuellen US-Präsidenten ist ein kurzes Unbehagen erkennbar, wenn er etwas Unangenehmes gefragt wird, bis sein Gehirn die Verdrehung produziert, mit der er sich aus der Schlinge der Scham winden kann: Es war alles nicht so, sondern ganz anders, und wer behauptet, es wäre so gewesen, ist ein Lügner und Verdreher. 

In der Welt von verkehrten Wahrheiten und verdrehten Werten

Mit Verkehrung ins Gegenteil wird in der Psychoanalyse die Umkehrung eines Triebbedürfnisses in sein Gegenteil bezeichnet. Beispielsweise verhält sich jemand besonders nett zu der Person, die er nicht mag oder sogar hasst. Es handelt sich um einen inneren Abwehrmechanismus gegen Gefühlsäußerungen, die sozial nicht akzeptiert sind oder negative Konsequenzen nach sich ziehen würden. Wer diese Strategie in der Kindheit angenommen und im Unterbewusstsein abgespeichert hat, kann sie dann als Erwachsener in verschiedensten Situationen anwenden, um sich aus einer unangenehmen Lage herauszureden. Das Schamgefühl hindert daran, zu sich und zu eigenen Fehlern zu stehen, also wird der Fehler in der inneren Bewertung in eine gute Tat umgewandelt oder jemand anderer als fehlerhaft angeprangert.

Realitätsverlust als Preis

Der Preis von Abwehrmechanismen besteht immer im Realitätsverlust. Die Wirklichkeit wird so zurechtgedreht, dass sie zu den eigenen Bedürfnissen passt. Auf diese Weise wird der innere Konflikt beruhigt, der aus dem Schamgefühl erwachsen ist. Die Wirklichkeit wird nur mehr durch den Filter dieser Verdrehung wahrgenommen, und jeder, der diesen Filter nicht teilt, muss bekämpft und abgewertet werden, damit die eigene verzerrte Sichtweise bestehen bleiben kann. 

Mit Hilfe dieser Abwehrstrategie gelingt es, sich als gut darzustellen, wenn man eine schlechte Tat begangen hat. Das Sich-selbst-als-gut-Darstellen ist eine erlernte Zurechtbiegung, die immer dann angewendet wird, wenn dieses Gutsein von anderen in Frage gestellt wird. 

Da dem Versteller der Mechanismus der Umkehrung vertraut ist, nimmt er an, dass alles Gute in Wirklichkeit nur verstelltes Böses ist. Er selber hat gelernt, damit zu leben und unter Umständen sogar mit dieser Taktik Erfolg zu haben. Er weiß freilich, dass das ganze Gebäude seines Selbstwertes nur auf Sand gebaut ist. Um mit dieser Unsicherheit zurechtzukommen, hilft ihm der Zynismus, zu behaupten, dass all die anderen, die sich so gut vorkommen, als die eigentlich Bösen entlarvt werden müssen. Die Entfernung zur Realität wird dadurch noch viel größer.

Nietzsches Umwertung aller Werte

Der Vorreiter dieser Haltung war Friedrich Nietzsche. Er hat die Umwertung aller Werte gepredigt, ausgehend von der Heuchelei der scheinbar Guten und Gutmütigen, unter deren manipulativer Macht er in seiner Kindheit gelitten hat. Gutes zu tun wäre eigentlich nur der Ausdruck von Schwäche. Er hat diese Haltung als Sklavenmoral beschrieben, während die ursprünglich geltende Herrenmoral, die durch Stärke, Mut und Selbstbestimmung gekennzeichnet ist, vor allem durch das Christentum entmachtet worden wäre. Der Hauptduktus seines Denkens, das er mit virtuoser Sprachgewalt zu Papier gebracht hat, war die Ausformulierung der Abwehrform der Verkehrung ins Gegenteil. 

Die Ideologie der „dunklen Aufklärung“

Darin liegt der Grund für die Übernahme vieler seiner Theorien in das Ideologiegebäude des Nationalsozialismus. Wir erleben zurzeit eine Art Renaissance dieser Ideologie, im Gewand des 21. Jahrhunderts, d.h. weniger mit offensiv brutaler Gewalt, dafür umso gründlicher. Der Blogger Rainer Hofmann kennzeichnet diese Richtung, wie sie in den USA zur Dominanz gelangt ist: „Die Ideologie wirkt wie ein Gemisch aus Silicon-Valley-Zynismus, faschistischer Ästhetik und feudaler Machtfantasie. Sie will keinen Diskurs. Sie will Kontrolle. ... Was sie planen, ist keine Regierung. Es ist ein Konzern mit Exekutivgewalt. Eine Maschine. Und sie läuft bereits.“

Die Macht liegt nicht bei Schlägertruppen, sondern bei den Beherrschern der Algorithmen, mit denen die Meinungen gesteuert und die Ideologie in Wahrheit umgemünzt wird. Sie beruht auf dem Geld von Milliardären, die die Propagandisten und Politiker finanzieren, die dann einer elitären Regierungsform zum Durchbruch verhelfen sollen. Das „Volk“ wurde so gut zurechtgerichtet, dass es auf demokratische Weise den Totengräbern der Demokratie die Macht verliehen hat.

Nun wird das Terrain freigeräumt für eine systematische Verkehrung ins Gegenteil, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Dagegen ist der nationalsozialistische oder der SED-Propagandaapparat primitiver Schnee von gestern. Auch die russischen Wahrheitsverdrehungen wirken plump im Vergleich zu der Welle an Desinformation, Machtmissbrauch und Manipulation, die tagtäglich neue Bestätigungen für die Richtung liefert, in die die neuen Mächtigen im mächtigsten Land der Welt mit aller Konsequenz und voll von Zynismus fortschreiten.

Verdrehungen rückgängig machen

Wenn wir nicht in den Sog dieser Entwicklung geraten wollen, brauchen wir eine wache Unterscheidungskraft, die uns zeigt, wo die Wahrheit verzerrt und verdreht wird, wo das Gute als Böses und das Böse als Gutes angepriesen wird, wo Fantasien als Fakten verkauft werden und schließlich auch das Hässliche als das Schöne präsentiert wird. Wir erleben einen gigantischen Versuch der Umwertung aller Werte, finanziert von Techmilliarden, angestiftet von verbohrten Ideologen und verbreitet von verblendeten Meinungsmachern in den Zentren der sogenannten sozialen Medien. Die Moral wird umgeschrieben, sodass sie den Zielen der Macht und der oligarchischen Interessen untergeordnet werden kann. Die Wahrheitsfindung wird ebenfalls von den Mächtigen gesteuert, die darüber bestimmt, was wahr und was falsch ist. 

Es gibt den Fortschritt in der Moral und es gibt die Fortschritte trotz der Rückfälle in vormoderne Machtstrukturen. Doch war der Gegenwind gegen die Errungenschaften der Aufklärung mit der Durchsetzung fundamentaler Menschen- und Freiheitsrechten noch nie so stark und so mächtig wie in unseren Tagen. Die Herausforderung stellt sich für alle, die die Fackel des Fortschritts weitertragen wollen: Das Böse zu benennen, auch wenn es sich als Gutes verkleidet hat; das Falsche zu kritisieren, auch wenn es sich als das Wahre zeigt; die Macht in die Schranken zu weisen, wenn sie die Freiheiten einschränken und die Privilegien der Mächtigen ausbauen will; die Zuversicht aufrechtzuerhalten, die den langen Atem und die Kraft gibt, die Zeiten der „dunklen Aufklärung“, wie die Ideologie heißt, durchzustehen und der Wirkmacht des Lichts der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen. Jede Verdrehung soll zurechtgerichtet werden, jedes zweifelhafte Faktum soll seine Überprüfung finden, jede Flucht von Tätern in die Opferrolle soll ihre Aufdeckung erfahren. Es sind herkulesartige Herausforderungen, den „Saustall des Augias“, den Mist in den Kommunikationsräumen zu beseitigen. Wir können sie gemeinsam meistern.

Quelle: Blog von Rainer Hofmann

Literatur: Sylvia Sasse:Verkehrungen ins Gegenteil. Über Subversion als Machttechnik. Matthes und Seitz, Berlin 2023

Zum Weiterlesen:
Fortschritte trotz Rückschritten
Moralischer Fortschritt
Taktiken zur Machtergreifung
Muster der rechtsorientierten Propaganda


Donnerstag, 27. März 2025

Respiratorische Philosophie im Überblick

Der Atem ist der Anfang und das Ende. Der Bogen jedes menschlichen Lebens wird durch den Atem eingeleitet und endet mit dem Atem. Von atmenden Menschen gezeugt und geboren, setzt nach der Geburt der erste Atemzug ein und markiert den Beginn des selbständigen Lebens. Die Atmung fließt weiter, bis zum letzten Ausatemzug. 

Diese Erkenntnis bildet den Ausgangspunkt für die respiratorische Philosophie. Ich beziehe mich im Folgenden auf Petri Berendtson, einen Hauptvertreter dieser philosophischen Richtung. Er nennt seinen Ansatz eine phänomenologische Ontologie des Atems. Er sieht das menschliche Leben nicht nur als „In-der-Welt-Sein“, wie es Martin Heidegger formuliert hat, sondern viel grundlegender als „In-der-Welt-Atmen“. Die Begegnung mit dem Sein ist immer eine Begegnung mit dem Atem, bzw. geschieht diese Begegnung im Atem. Damit ist der Atem das Sein, in dem die Seinserfahrung stattfindet.

Im Atem geschieht folglich vor jeder Wahrnehmung (die in der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty im Zentrum steht) und vor jedem Denken (nach Descartes) der Vollzug des Seins. Wir atmen, auch wenn wir nichts wahrnehmen (z.B. im Tiefschlaf) oder wenn wir nichts denken. Dieses atmende „In-der-Welt-Sein“ geschieht vor jeder Bewusstheit und Reflexion, und jede Bewusstheit, jede Reflexion ist atmend. Also wird der „wahrnehmende Glaube“ (foi perceptive) von Merleau-Ponty in der respiratorischen Philosophie zum atmenden Glauben. Dieser Glaube hat nichts mit Religion zu tun. Er bezeichnet vielmehr eine vorbewusste Überzeugung, dass die Welt da ist, bestätigt mit jedem Atemzug. Die Erkenntnis, dass es eine Welt gibt, ist immer zugleich die Erkenntnis, dass es eine atmende Welt ist, in der wir atmend existieren. Der atmende Glaube ist kein bloß psychologisches Phänomen, sondern eine existentielle Struktur – wir existieren nur durch und mit der Luft, die durch das Atmen zu unserer Lebensquelle wird.

In der Atmung erfahren wir, dass das Innen und Außen nicht strikt getrennt sein können. Das atmende In-der-Welt-Sein ist durch ein beständiges Ineinander-Übergehen von innen und außen gekennzeichnet. Die ein- und ausströmende Luft ist zugleich Eigenes wie Fremdes, immer ineinander vermischt.  Mit jedem Atemzug werden das Innere zum Äußeren und das Äußere zum Inneren. Das Leben ist ein dynamischer Austauschprozess, bei dem die Atmung die grundlegende Gestaltung vornimmt und das Medium bildet, in dem alles stattfindet. Wir sind in jedem Moment in der Welt und die Welt ist in uns, durch die Luft, die in uns einströmt und aus uns entweicht. Die Luft, die wir aufnehmen, verändert uns, und wir verändern die Welt um uns mit der Luft, die wir ausatmen. 

Das atmende In-der-Welt-Sein ist ein verkörpertes Sein, denn die Atmung ist ein physiologischer Vorgang, der ohne einen Körper nicht stattfinden kann. Auf der anderen Seite erschöpft sich der atmende Lebensvollzug nicht in einem leiblichen Prozess, sondern enthält zugleich einen immateriellen Anteil. Denn jeder Atemzug ist ein Informationsaustausch. Jedes Luftmolekül, das in uns über die Atmung gelangt, enthält Informationen, die in uns empfangen und verarbeitet werden; jedes ausgeatmete Teilchen wiederum gerät in die äußere Welt und entfaltet dort seine Wirkung. Wir kennen diesen Informationsgehalt der Luft, wenn wir Gerüche wahrnehmen, doch enthält sie noch viel mehr andere Dimensionen, von denen uns die meisten nicht bewusst sind und die dennoch Wirkung in uns entfalten. 

In den östlichen Philosophien ist viel von diesen unsichtbaren Energien die Rede, sei es als  Qi im Taoismus oder als Prana im Hinduismus. Diese beiden Begriffe sind eng mit der Atmung verbunden. Die respiratorische Philosophie verbindet also auch westliche und östliche Denktraditionen.

Literatur:
Petri Berendtson: Phenomenological Ontology of Breathing: The Respiratory Primacy of Being. Rutledge 2023


Sonntag, 16. März 2025

Musk: "Empathie - eine Schwäche der westlichen Zivilisation"

Wenn Elon Musk ein Milliardär wäre, der skurrile Dinge von sich gibt, wäre das nicht besonders bedenkenswert. Gegenwärtig ist dieser Mann allerdings nicht nur der reichste, sondern auch einer der mächtigsten Menschen auf dieser Welt, durch die Stellung, die ihm der US-Präsident gegeben hat. Die Einsichten, die er offenherzig teilt, sind aber nicht bloß Privatmeinungen, die man als folgenlose Spinnereien eines verzogenen Rotzers abtun könnte, sondern entsprechen einer Geisteshaltung, die vor allem in den rechten Kreisen weit verbreitet ist, denen er angehört. Es ist übrigens wenig bekannt, dass Musk aus der Ahnenreihe einschlägig vorbelastet ist: Der Großvater mütterlicherseits, Joshua Haldemann, war Anhänger der Herrschaft der Weißen, Rassist und Antisemit. Er hielt Südafrika bis zum Fall des Apartheitregimes für den „Himmel der weißen christlichen Zivilisation“ und pflegte nach Medienberichten Nazi-Traditionen.

In einem Podcast-Gespräch mit Joe Rogan, einem bekannten US-Podcaster, teilte Musk nicht nur die seltsame Theorie, dass die Demokraten daran arbeiteten, so viele Einwanderer ohne Papiere wie möglich ins Land zu holen, damit sie die US-Regierung für immer übernehmen können. „Wenn sie noch vier Jahre hätten, würden sie genug Illegale in den Swing-States legalisieren, um die Swing-States zu Nicht-Swing-States zu machen“, sagte Musk zu Rogan. “Sie wären einfach blaue Staaten. Dann würden sie ... die Präsidentschaftswahl gewinnen; sie würden das Repräsentantenhaus, den Senat und die Präsidentschaft gewinnen.“ Diese Theorie hat deshalb keine Grundlagen, weil Illegal Eingewanderte nicht wählen dürfen. Also handelt es sich um eine Verschwörungstheorie, ein Hauptthema der rechten Propaganda. Leider wird das Gegenteil angebahnt: Die Agitatoren von Trump und Musk arbeiten daran, die Demokratie in den USA zu untergraben und die Gewaltenteilung auszuhebeln, um die Herrschaft der Republikaner auf Dauer zu stellen. 

Was aber noch bedenkenswerter ist, ist Musks Einstellung zur Empathie. Er meint, dass Mitgefühl für den Einzelnen der Gemeinschaft teuer zu stehen kommt. In Hinblick auf den Schritt Kaliforniens, auch Menschen ohne Papiere, die für das einkommensschwache Medi-Cal-Programm in Frage kommen, eine Krankenversicherung anzubieten, meinte er: „Wir haben es mit einer zivilisatorischen selbstmörderischen Empathie zu tun“. Einerseits meint er, dass man sich um andere Menschen kümmern sollte, aber zugleich auch dass die Empathie die Gesellschaft zerstört. „Die grundlegende Schwäche der westlichen Zivilisation ist Empathie, die Ausbeutung von Empathie“, sagte Musk. „Dort wird ein Fehler in der westlichen Zivilisation ausgenutzt, nämlich die Empathie-Reaktion.“ Empathie, sagte er, sei zur Waffe gemacht (“weaponized”) worden - offenbar nur eine Waffe gegen die Feinde der Empathie.

Mit krassen sozialen Statusunterschieden und Schlechterstellungen geht ein kollektives Schamgefühl einher. Soziale Strömungen in der Politik, die das Auseinanderdriften zwischen arm und reich sowie zwischen mächtig und ohnmächtig ausgleichen will, geraten im Weltbild von Musk zu Ideologien der schädlichen Übertreibung der Empathie. Es kreuzen sich bei diesem Angriff auf die Empathie rechte und neoliberale Abwertungen von den Schwächeren in der Gesellschaft. Zur neoliberalen Ideologie zählt die Verachtung von jenen, die weniger leisten oder weniger leistungsfähig sind. (Der Maßstab für Leistungen liegt dabei im monetären Erfolg, deshalb gelten z.B. die Leistungen von alleinerziehenden Personen nicht.) Es wird deshalb z.B. Druck ausgeübt, die Arbeitslosenunterstützung möglichst gering zu halten, damit die Betroffenen gedrängt werden, schnellstens wieder Leistungen zu erbringen. In der rechtsgerichteten Propaganda wird der Neid auf jene geschürt, die angeblich für Wenig- oder Nichtstun vom Staat erhalten werden oder im Krankheitsfall Hilfe bekommen. Es soll die Angst geschürt werden, dass einem diese Leute etwas wegnehmen, was einem zustünde. In diese Kerbe schlägt die Angstmache vor Migranten, die ebenfalls als Gefahrenträger für den eigenen Wohlstand dargestellt werden.

Empathie als Grundbedrohung

Musk geht noch weiter: Empathie ist nicht nur eine Schwäche von moralinsauren Linken, sondern sie führt zum Selbstmord der Zivilisation. Sie bedroht also die Grundlagen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Sie sei zur Waffe gemacht worden. Aus diesem Bedrohungsbild leuchtet ein, mit welchem Furor Musk die Institutionen des Staates demolieren will, als müsste möglichst schnell alles, was den Bazillus der Empathie in sich trägt wie Entwicklungshilfe- oder Gleichberechtigungsprogramme vernichtet werden.

Diese Besessenheit rührt daher, dass Musk Empathie mit Barmherzigkeit oder Mitmenschlichkeit verwechselt. Empathie impliziert nicht bestimmte Handlungen, sondern bezeichnet einen inneren Zustand, bei dem das Leid anderer Menschen im eigenen Gefühlsleben wahrgenommen wird. Wohl kann die Empathie zu einem Tun führen, aber nicht notwendigerweise. 

Der Hass auf die Empathie, den Musk, stellvertretend für viele Gleichgesinnte, zum Ausdruck bringt, kann nur durch einen Mangel an erfahrener Empathie erklärt werden. Wer nie oder viel zu wenig Mitgefühl für die eigenen Schwächen und Mängel bekommen hat, kann andere Menschen mit Schwächen und Mängeln nur verachten und muss sie aus der Gesellschaft ausschließen oder an den äußersten Rand drängen. Außerdem wird für ihn die Empathie zum gefährlichsten Gift, denn sie trägt dazu bei, dass die Schwachen und Mangelhaften einen geachteten Platz in der Gesellschaft einnehmen können

Das Kapern von Begriffen der Menschlichkeit

Es steht zu befürchten, dass ein Schlüsselbegriff für ein gutes menschlicheres Zusammenleben in Misskredit gebracht wird und damit der Entwicklung Vorschub geleistet wird, deren Fahnenträger mit dem Pathos des heroisierten Empathieverzichts zu Initiatoren von Unmenschlichkeiten werden. Eine in vorhergehenden Blogbeiträgen beschriebene Taktik rechter und rechtsextremer Publizisten und Politiker besteht ja im Aufgreifen von Begriffen mit prosozialem oder emanzipativem Gehalt, die ihrer ursprünglichen Bedeutung entkleidet, umgedeutet und dann gegen die Aufrechterhaltung der Menschlichkeit in Stellung gebracht werden. Eine Gesellschaft, in der die Empathie in Verruf gerät, reißt die Dämme gegen die brutalen Machtkämpfe von schrankenlosen Egoisten nieder. In diesem Zusammenhang wird jetzt häufig Hannah Arendt zitiert: „Der Tod der menschlichen Empathie ist eines der frühesten und deutlichsten Zeichen dafür, dass eine Kultur gerade der Barbarei verfällt.“

Wie es auch bei anderen Begriffen dringlich erforderlich ist, sollten wir alles tun, um die Werte der Mitmenschlichkeit und der gegenseitigen Fürsorge, für die wir die Fähigkeit zur Empathie brauchen, aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. Wir dürfen uns auf keinen Fall die Begriffe, mit denen wir das Gute vom Bösen unterscheiden, von radikalisierten Propagandisten wegnehmen lassen. 

Zum Weiterlesen:
Der heroisierte Verzicht auf Empathie
Der Angriff auf den Wahrheitsbegriff
Verschwörungstheorien und Realitätstauglichkeit
Taktiken zur Machergreifung

Hier zur Videofassung


Freitag, 14. März 2025

Moralischer Fortschritt

Gibt es Fortschritte in der Moral? Verändern sich die Einsichten und Überzeugungen der Menschen über das, was gut und was nicht gut ist, im Lauf der Zeit, und erfolgen solche Veränderungen in einer linearen Richtung, wie es für den Fortschrittsgedanken maßgeblich ist? Ich greife im Folgenden Gedankengänge von Thomas Nagel auf, der in den USA Philosophie lehrt. 

Es gibt Fortschritte in den Naturwissenschaften, die von der Art sind, dass etwas, das als Wahrheit entdeckt wird, und die Entdeckung besteht darin, zu erkennen, dass diese Wahrheit schon immer bestanden hat, bevor sie enthüllt wurde. Der Umfang der Erde am Äquator war immer ca. 40 000 Kilometer, selbst zu einer Zeit, wo niemand eine Ahnung von der Kugelgestalt der Erde hatte. Bei der Moral ist das anders. Sie handelt von dem „wofür wir Gründe haben, es zu tun und nicht zu tun.“ (Nagel 2025, S. 43)

Moralische Einstellungen sind einem Wandel unterworfen, sowohl im Lauf der Lebensgeschichte einer Person als auch im Rahmen von Gesellschaften. Zum Beispiel gilt heute die Sklaverei als Unrecht und die Ausbeutung von Sklaven als moralisch verwerflich. In der Antike, in der sich schon die Philosophen mit diesem Phänomen auseinandergesetzt haben, ist man nicht zu diesem Schluss gelangt. Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die Sklaverei schlecht ist und abgeschafft werden muss. Nachträglich betrachtet, wundern wir uns, warum Denker in der Vergangenheit die Ausbeutung von Menschen durch Menschen nicht kritisiert haben, sondern einfach als gegeben hingenommen haben, als ein Schicksal, das manche erleiden und andere nicht. Aber offensichtlich sind besondere Zeitumstände erforderlich, um soziale Selbstverständlichkeiten auf ihre Moralität hin reflektieren zu können.

Es gibt offenbar einen Fortschritt in der Moral, der durch politische und gesellschaftliche Veränderungen vorbereitet wird. Wo diese Veränderungen noch nicht eingetreten sind, gibt es noch immer Sklaverei; wo so aber stattgefunden hat, erscheint sie zutiefst unmoralisch.

Die neuen ethischen Einsichten ergeben sich aus den geänderten ökonomischen Bedingungen. In der industrialisierten Wirtschaft ist die Sklaverei nicht mehr notwendig und unter Umständen sogar fortschrittshemmend. Darum verbreitete sich die neue moralische Sichtweise der Ablehnung der Sklaverei quer durch die Gesellschaft.

Einen ähnlichen Zusammenhang können wir bei der Entwicklung der Frauenrechte sehen. Solange die Wirtschaft im Agrarbereich und im Handwerk auf Familienstrukturen aufgebaut war, war eine strikte Zuschreibung der Geschlechtsrollen erforderlich – fixe Aufgaben, die die Männer zu leisten hatten, und andere, die den Frauen zukamen, sowie eine klare Grenze dazwischen. Im Gefolge der Industrialisierung wurden diese Formen der Arbeitsteilung obsolet. Dazu kam, dass durch die Einführung von Maschinen die Körperkraft immer unwichtiger wurde; dieser Hauptunterschied zwischen Männern und Frauen spielt kaum mehr eine Rolle. In der modernen Gesellschaft können Frauen alle Männerberufe übernehmen, Männer alle Frauenberufe. Deshalb gibt es auch keine objektiven Gründe mehr, warum Frauen in irgendeiner Weise benachteiligt werden dürften. Während früher wie selbstverständlich gegolten hatte, dass Männer mehr Rechte in der Gesellschaft beanspruchen dürften, gibt es für diese Ungerechtigkeit heutzutage keine moralischen Begründungen mehr.

Es gibt bei den Fortschritten in der Moral immer Vorreiter, oft sind es von Diskriminierung und Ausgrenzung Betroffene, häufig auch Intellektuelle, die vorpreschen und deren Meinungen dann allmählich von der Bevölkerungsmehrheit übernommen werden. In der Regel sind es Jüngere, die schneller auf neue Ebenen der Toleranz wechseln, als Ältere, die eher an traditionellen Werten festhalten.

Jede Zeit braucht die ihr gemäße Moral, um ein höheres Maß an Stabilität zu gewinnen als die vorige. Die Natur der Evolution bewirkt, dass die Komplexität mit jeder neuen Ebene, die erreicht wird, erhöht wird. Vermehrte Komplexität führt zunächst zu Instabilität. Die Moral ist einer der Faktoren, die zur Stabilität auf der sozialen Ebene beitragen, also dazu, dass das Netz der menschlichen Interaktionen möglichst reibungsfrei mit neuen Gegebenheiten zurechtkommt. Deshalb ist auch eine komplexere Form der Moral notwendig, um den fragiler gewordenen Umständen gerecht zu werden.

Eine weitere Entwicklungsrichtung der Evolution verläuft in die Breite, in Form von sich erweiternden Kreisen. Das Stichwort der Globalisierung beschreibt diesen Prozess auf der ökonomischen Ebene. Ähnlich verlaufen solche Prozesse aber auch in Hinblick auf die moralischen Werte. Ein Beispiel bildet die zunehmende Achtung der gleichgeschlechtlichen Liebe und von entsprechenden Lebensformen, die noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar erschien. Vor allem die männliche Homosexualität stand unter Strafandrohung und wurde gesellschaftlich geächtet. Inzwischen haben viele Länder gleichgeschlechtliche Ehen oder eheähnliche Lebensgemeinschaften rechtlich anerkannt, und das Schwul- oder Lesbischsein wird zu einer akzeptierten Variante. Es gibt noch viele Länder, in denen dieser Schritt noch nicht vollzogen wurde, aber andererseits kommt es bei rechtsgerichteten Parteien in westlichen Ländern immer weniger vor, dass sie homosexuelle Orientierungen angreifen. Deren Hassparolen gelten mittlerweile vor allem den Transpersonen. Vermutlich bildet die Entwicklung der Toleranz für solche Personen die nächste Hürde, die die moralischen Urteile im Bereich der menschlichen Geschlechtlichkeit nehmen werden.

Eine Folge der Globalisierung ist die gesteigerte Mobilität, nicht nur durch Wander- und Fluchtbewegungen, sondern auch durch persönliche Beziehungen über die Kontinente hinweg. Kulturen vermischen sich zusehends und entwickeln sich dadurch weiter, was immer wieder Widerstände hervorruft und Widersprüche erzeugt; dennoch ist diese Entwicklung nicht aufzuhalten, und sie erzwingt die Weiterentwicklung der Moral. Sie muss so weltweit werden wie ihre Subjekte, die Menschen, die global miteinander verknüpft sind. Zugleich muss sie auf alle Rücksicht nehmen, die durch die Komplexität der Entwicklungen überfordert sind. Doch handelt es sich bei den Hauptproblemen, mit denen wir befasst sind, um weltweite Probleme, und sie können ohne eine weltweite, also alle Menschen einschließende und von allen geteilte Ethik nicht gelöst werden. Wir stehen an der Schwelle zu diesem neuen Niveau der Moral.

Nagel schreibt dazu: „Heute ist diese Vorstellung von Gerechtigkeit durch die Zunahme globaler Vernetzung und die Mobilität von Bevölkerungen einem enormen Druck ausgesetzt. Durch die Ungleichheit im internationalen Vergleich stellt sich offenbar die Frage der grundsätzlichen Gerechtigkeit, auf die wir keine überzeugende Antwort haben. Es ist die folgende Frage: Können wir Prinzipien für die internationale oder globale Steuerung finden, die moralisch und institutionell mit unserer Vorstellung von innerstaatlicher oder gesellschaftsinterner Gerechtigkeit vereinbar sind?“ (Nagel 2025, S. 105)

Quelle: Thomas Nagel: Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt. Berlin: Suhrkamp 2025

Hier zur Videofassung

Zum Weiterlesen:
Die Notwendigkeit der universalen Ethik
Keine Nachhaltigkeit ohne soziale Konfliktlösung

Donnerstag, 6. März 2025

Fortschritt trotz Rückschritten

Wenn Rechtsparteien an die Macht kommen, sorgen sie dafür, dass es in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu Rückschritten kommt. Weiterentwicklungen in den Menschenrechten, in den Frauenrechten, in der Anerkennung von Minderheiten, Experimente in der Kultur und Kunst werden abgedreht, zusammengestutzt oder vom Geldhahn abgeschnitten. Unter der Losung „Zurück zur Tradition“ werden liberale Errungenschaften beseitigt, wie nach der Märzrevolution 1848, nach deren gewaltsamer Niederschlagung alle neuen Freiheitsrechte abgeschafft wurden. Es dauerte damals in Österreich 20 Jahre, bis die liberalen Rechte dann als Grundrechte in die Verfassung aufgenommen wurden. In der Slowakei können wir aktuell beobachten, wie die offizielle Kulturlandschaft umgekrempelt wird, indem alle staatlichen Posten mit fachfremden Parteigängern der Kulturministerin besetzt werden, die das Kulturleben auf traditionelle und national geprägte Ausdrucksformen beschränken will.

Was auch immer Politiker veranstalten, ändert nichts daran, dass der Fortschritt weitergeht: In den Wissenschaften, in der Technik und in der Ökonomie. Auch die sozialen Beziehungsformen entwickeln sich weiter. Manche dieser Prozesse können durch politische Maßnahmen verlangsamt werden, manche andere zeitweilig und regional unterbunden und unterdrückt werden; gänzlich aufgehalten können sie nicht werden. Denn die Menschen verfügen über ein unbegrenztes Potenzial an Neugier und Kreativität, das sich ausdrücken und verwirklichen will, gleich unter welchen politischen Verhältnissen sie leben. 

In der gesamten Menschheitsgeschichte gibt es Phasen der stürmischen Weiterentwicklung in manchen Gebieten, wie z.B. im antiken Griechenland oder im Wien der Zwischenkriegszeit.  Es gibt auch Phasen des scheinbaren Stillstandes oder der Rückentwicklung, wie z.B. im Biedermeier, als die Reformen der französischen Revolution rückgängig gemacht wurden. Aber selbst in diesen Zeiten haben sich andere Entwicklungsstränge beschleunigt, z.B. die Industrialisierung oder die Weiterführung der Klassik in die Romantik in der Literatur und Musik. 

Der Fortschrittsmotor Kapitalismus

Der Kapitalismus kennt keine Rückschritte. Sein Wachstumsprinzip ist das Mehr und Noch Mehr. Die politischen Rahmenbedingungen wirken bestenfalls modulierend auf diese Dynamik ein. Sie können das Tempo, die Richtung und die inhaltliche Gestaltung beeinflussen, nicht aber den Wachstumsdrang selbst. Nach dem Zweite Weltkrieg lag die Wirtschaft in den zerstörten Gebieten darnieder, doch bahnte sich dann ein Wirtschaftsaufschwung samt noch nie dagewesener Wohlstandsmehrung an. 

Das kommunistische Sowjetexperiment hatte ja das Ziel, die Macht der kapitalistischen „Naturgewalt“ zu brechen und eine Wirtschaftsform unter durchgängiger politischer Kontrolle zu etablieren. In China gab es unter Mao Zedong ähnliche Bestrebungen. Das Gesamtergebnis dieser Experimente (neben dem hohen Blutzoll, den sie angerichtet haben) liegt darin, dass die ökonomische und technische Entwicklung dennoch weiterging, nur wesentlich langsamer, sodass die Länder des „real existierenden Sozialismus“ bei dessen Ende in fast allen Bereichen der Wirtschaft weit hinter dem Niveau der westlichen Länder hinterherhinkten. China hat in den 1980er Jahren die politische Kontrolle der Wirtschaft aufgegeben und dadurch konnte dort der Kapitalismus schnell aufholen. 

Der Preis, den Kapitalismus durch politische Eingriffe aufzuhalten, ist also hoch. Darin bestand der Lernprozess, und viele Theoretiker und Politiker wechselten vom Kommunismus zum Sozialismus oder zur Sozialdemokratie, weil sie erkannten, dass der Kapitalismus nicht einfach abgeschafft werden kann, sondern eingehegt werden muss. Denn ein Kapitalismus, der überhaupt nicht durch politische Einflüsse reguliert wird, richtet sich gegen die Menschen, indem sie ungeschützt ausgebeutet werden. Er braucht also Rahmenbedingungen und Regulierungen, wie ein Fluss, der nicht am Fließen gehindert werden soll, sondern dessen Verlauf so gestaltet wird, dass Hochwässer am wenigsten Schaden anrichten. Allerdings sollte diese Metapher mit Vorsicht genossen werden, weil der Kapitalismus ein menschengemachtes Phänomen ist und keine Naturgewalt. Wir machen also durch unsere ökonomischen Handlungen den Kapitalismus, und wir können ihn durch das, was wir tun oder unterlassen, beeinflussen und gestalten.

Die Verlangsamung des Lernens durch Machteinflüsse

Das Problem bei politischen Bremsversuchen des Fortschritts besteht darin, dass die in der Politik involvierten Machtstrukturen zur Verlangsamung nicht nur der sozialen und ökonomischen Prozesse, sondern auch der Lernvorgänge insgesamt führen. Das Sowjetimperium hat siebzig Jahre gebraucht, bis es möglich war, die Lehren aus dem, was schiefgelaufen ist, zu ziehen, und bis heute leidet Russland an seiner Zurückgebliebenheit und versucht, diese Schmach durch kriegerische Zerstörungen wettzumachen.

Die Pathologie der Macht besteht darin, dass die Mächtigen sie nicht loslassen können. Damit verhindern sie Weiterentwicklung und Lernen. Macht, die zum Selbstzweck geworden ist, versucht verzweifelt, das Rad der Geschichte aufzuhalten, die ganze Kraft fließt in diese mühsame und letztlich fruchtlose Anstrengung. Aus der Sicht der Mächtigen muss alles so bleiben, wie es ist, denn nur so kann die Macht erhalten werden. Wer zu viel lernt, wird gefährlich für die Mächtigen.

Die Bremsung der gesellschaftlichen Lernvorgänge durch autoritäre Staatsformen und Diktaturen wird durch das Vorantreiben von Spaltungen verstärkt. Einzelne Bevölkerungsgruppen werden gegeneinander ausgespielt; damit wird Misstrauen und Konkurrenz in der Gesellschaft gesät. Die angstgetriebenen Energien fließen weniger in Erneuerungsprozesse als in die Aufrechterhaltung des eigenen Status. Je mehr Unsicherheit in der Gesellschaft herrscht, desto schwerer hat es die Kreativität. Je mehr Traumen das kollektive Bewusstsein durchziehen, desto weniger Kräfte stehen für das Lernen und Weiterentwickeln zur Verfügung.

Die Demokratie als Nährboden für Lernprozesse und Kreativität

Die Demokratie wurde unter anderem zu dem Zweck erfunden, die Macht von Einzelpersonen zu begrenzen und zu kontrollieren. Dadurch soll das Festklammern an der Macht (Putin regiert seit 25 Jahren, Lukaschenko seit 31) und das Einzementieren von Ideologien unterbunden werden. Andererseits werden Räume garantiert, in denen sich die Lern- und Weiterentwicklungsprozesse entfalten können. Diese Räume sollen weitgehend frei von Herrschaft sein, sodass eine vernunftgeleitete Diskurs-, Forschungs- und Kreativkultur gedeihen kann.

Die Demokratie wird von rechten Ideologen und Politikern bekämpft und von vielen Menschen weniger geschätzt, weil sie sich mit ihren Problemen und Interessen nicht ausreichend repräsentiert fühlen. Sie stellt – mit all ihren Schwächen – die reifste Form der Machtausübung dar. Sie ist ein Produkt des Fortschritts sozialer Kompetenzen und ethischer Reflexionen und sie enthält in sich die Motive zu ihrer beständigen Verbesserung.

Momentan erkennen wir in vielen Bereichen Rückschritte – vergessen wir aber nicht den größeren Bogen und den langen Atem der Geschichte. Fortschritte verzögern sich manchmal, und in solchen Zeiten reifen die Kräfte für das Weitergehen im Verborgenen. Wir wissen noch nicht, was die gegenwärtigen Entwicklungen zum Fortschritt beitragen, weil es so ausschaut, als würde die halbe Menschheit um Stufen auf der zivilisatorischen Leiter zurückfallen (überall wird aufgerüstet, was nur geht, Demokratien verwandeln sich mir nichts dir nichts in Autokratien). Aber jedes Chaos evolviert irgendwann zu einer neuen Ordnung mit mehr Spielräumen und Möglichkeiten. Die Errungenschaften der Menschlichkeit, die da und dort mit Füßen getreten werden, gehen nicht verloren. Wir können ihre Banner tragen und möglichst viele ermutigen, es uns gleich zu tun. Vertrauen wir auf die Macht des Fortschritts, die die Kraft der Bewusstseinsevolution in sich trägt.

Zum Weiterlesen:

Demokratie in der Krise?
Das Erlernen der Demokratie in der Kindheit

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