Inklusion, Antirassismus, Frauenrechte, Toleranz und Gleichbehandlung sind Leitinhalte für den Fortschritt in der Humanität, wie er spätestens seit der Aufklärung verstanden wird. Eine menschliche und menschenwürdige Gesellschaft muss möglichst vielen Menschen einen sicheren Raum für die Entfaltung ihrer Individualität bieten. Jede Person soll so leben können, wie sie will und wie es für sie gut ist, und soll dafür geachtet werden, solange nicht die Grenzen anderer Personen verletzt werden. So lautet das Credo der Liberalität und das soziale Programm der Moderne ist daraus abgeleitet. Eine moderne Gesellschaft schließt möglichst viele unterschiedliche Lebensformen mit ein und gewährt ihnen Rechte und Sicherheiten, während eine vormoderne Gesellschaft durch Vorurteile, willkürliche und gewaltsame Ausgrenzungen, durch strikte Über- und Unterordnung, Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten gekennzeichnet ist.
Der Fortschritt in der Toleranz und in der Ermöglichung von Freiheit ist spätestens seit dem Ende des Mittelalters, ausgehend von West- und Mitteleuropa weltweit im Gang. Es herrscht in vielen Ländern Glaubens- und Religionsfreiheit, Minderheiten genießen Schutz, verschiedene sexuelle Orientierungen werden geachtet usw. Es gibt Länder, die in dieser Entwicklung weit hinten nachhinken, und es sind immer wieder Bewegungen aufgetreten, die diese Entwicklung bekämpfen und zurückschrauben wollen, z.B. die faschistischen Ideologien im 20. Jahrhundert oder das Modell der illiberalen Demokratie nach Viktor Orbán in Ungarn. Aber auf lange Sicht betrachtet, setzt sich die Freiheitsidee immer wieder gegen alle Widerstände durch. Wir können also mit einigem Recht behaupten, dass Hegels Optimismus in Bezug auf den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit Bestätigung in den Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte findet.
Eine aktuelle Verwerfung und Verzerrung dieser Bestrebungen hat der Politikwissenschaftler Yasha Mounk als Identitätssynthese gekennzeichnet und in seinem jüngsten Buch „Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee“ beschrieben. Diese Strömung ist vor allem in den USA sehr wirksam und hat in den letzten Jahren weite Bereiche der den Demokraten nahestehenden linksintellektuellen Szene beeinflusst. Da viele kulturelle Entwicklungen mit Zeitverzögerung aus den USA nach Europa exportiert werden, lohnt es sich, dieses Phänomen näher zu betrachten. Es hat seine Hintergründe in verschiedenen Bereichen der sozialen Unterdrückung, vor allem durch Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Kolonialismus.
Postkoloniale Philosophie
Zu den Begründern dieser Ideologie zählen Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak. Sie sind postkoloniale Denker – Said mit palästinensischer und Spivak mit indischer Herkunft. Said erklärte in seinen Studien die Art und Weise, wie westliche Autoren den Orient beschrieben haben, als Formen der Machtausübung und der kolonialen Unterdrückung. Er rief zur Diskursanalyse nach Michel Foucault auf. Damit ist gemeint, dass die Hintergründe von jedem Wissens, das erworben und verbreitet wird, durch politische Macht, z.B. durch den Kolonialismus, beeinflusst sind. Die Verbreitung des Wissens stärkt dann die Macht. Wenn diese Hintergründe analysiert werden, gelingt es, sich dieser Macht zu entziehen und das machtgeprägte, z.B. koloniale Denken zu schwächen.
Spivak beschäftigte sich in ihren Literatur- und Philosophiestudien mit den westlichen Klischeebildern von der Zurückgebliebenheit der östlichen Kulturen gegenüber dem Westen. Obwohl es kaum noch Kolonien gibt, wirke der Kolonialismus in den mentalen Konstrukten weiter. Die daraus gebildeten Identitäten, die darüber Auskunft geben sollen, was ein dunkelhäutiger, östlicher Mensch gegenüber einem weißhäutigen, westlichen wäre, sind nach wie vor maßgebend und führen zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung. Die dominierten Gruppen sollten dagegen ein Gruppengefühl (Wir-Gefühl) finden, aus dem heraus sie ihre eigene (statt einer zugeschriebenen) Identität entwickeln können. Auf der Grundlage dieser Identitätspolitik entstehen politische Forderungen z.B. nach Anerkennung, Ausgleich der Unterdrückung, Änderungen in Bildungsprozessen usw. Ein Instrument dieser Politik stellt die „positive Diskriminierung“ (auch: affirmative action) dar, bei der die negative Benachteiligung durch eine gezielte Bevorzugung ersetzt werden soll. Die unterdrückte Minderheit soll also besondere Vorteile gewährt bekommen.
Strategischer Essentialismus
Spivak hat den Begriff des strategischen Essentialismus in die Debatte eingebracht, mit dem ein Widerspruch der Identitätspolitik überwunden werden soll. Viele Wesenszuschreibungen wurden und werden zur Diskriminierung verwendet, z.B. die Abwertung von Frauen als intellektuell weniger begabt als die Männer. Damit die Macht solcher von den Mächtigen zur Absicherung ihrer Macht vorgenommenen Zuschreibungen gebrochen werden kann, sollen sich die Unterlegenen ihrer Identität besinnen und sie in der eigenen Gruppe bestärken: Frauen schließen sich in feministischen Kreisen zusammen und stellen ihre selbstgebildete Identität der zugeschriebenen entgegen. Allerdings handelt es sich wiederum um eine Wesensbeschreibung: „Frauen sind intelligent“. In der Realität gibt es unter den Frauen, wie auch unter den Männern, intelligentere und weniger intelligente. Es gibt also keine Essenz, kein Wesen der Männer und der Frauen, sondern nur Annahmen, Konstrukte darüber, wie Männer und wie Frauen sind. Jede Annahme führt zu verzerrten Wahrnehmungen und damit zu sozialen Konflikten. Deshalb müssen Wesensbegriffe einer Diskusanalyse unterzogen und aufgelöst werden. Andererseits gelingt die Emanzipation, also die Befreiung von Zuschreibungen, nur über die Ausbildung einer Identität, die aus strategischen Gründen, also zur Durchsetzung von politischen Forderungen gebildet werden muss. Die Erkenntnisse über die Mechanismen der Unterdrückung können dort am besten gewonnen werden, wo die Gruppe unter sich ist, also wo die Sichtweisen der Unterdrücker möglichst ausgeschlossen sind (vgl. die Standorttheorie, die im nächsten Blogartikel erläutert wird). Solange die Unterdrückung weiter besteht, bräuchte es solche sicheren Orte für die Wissensgewinnung und für die Ausformung von politischen Strategien.
Die Identitätssynthese
Mounk versteht unter der Identitätssynthese ein Konglomerat aus Ideen und intellektuellen Traditionen: „Es kreist um die Rolle, die Kategorien der Identität wie ‚Rasse‘, Gender und sexuelle Orientierung in unserer heutigen Welt spielen.“ (Mounk S. 29)
Mounk kennzeichnet die Identitätssynthese mit sieben Haltungen:
1. Skepsis gegenüber der objektiven Wahrheit
2. Diskursanalyse ausschließlich für politische Ziele
3. Identitätskategorien dürfen essentialistisch sein, wenn das politischen Strategien hilft.
4. Pessimismus bezüglich der westlichen Gesellschaften
5. Unterstützung von Institutionen, in denen die Behandlung entsprechend der Gruppe erfolgt
6. Intersektionale Form des politischen Aktionismus
7. Skepsis zu Verständigung zwischen unterschiedlichen Identitätsgruppen (S. 95f)
Skepsis und Pessimismus
(ad 1 und 4): Mit dem Stichwort Postmoderne werden die philosophischen Schulen der Dekonstruktion bezeichnet: Etablierte Konzepte werden auf ihre sozialen Prägehintergründe durchleuchtet, damit der Raum für neue Sichtweisen geschaffen wird. Ein Hauptvertreter dieser Richtung, der französische Philosoph Michel Foucault, lehnte jede Form von objektiver Erkenntnis ab. Der jeweilige Standpunkt, von dem die Erkenntnis ausgeht, ist von sozioökonomischen Faktoren geprägt, die immer nur zu einem Teil analysiert und reflektiert werden können. Jeder Anspruch auf objektive Erkenntnis wäre wieder nur ein Machtanspruch.
Im Zusammenhang mit dieser Skepsis gegenüber objektiven Wahrheiten ist das Denken von Foucault auch von einem Pessimismus bezüglich der westlichen Gesellschaften geprägt, in denen es nach seiner Meinung keinen Fortschritt in der Bewusstseinsentwicklung, im Moralverständnis oder in der Verbesserung von ungerechten sozialen Strukturen geben kann. Vielmehr gebe es nur die Illusion von Fortschritten, die sich bei näherer Betrachtung als Täuschung herausstellen. Die Illusion befördert dann wiederum das Festhalten an nicht erkannten Machtprivilegien.
(ad 5): Der Staat soll benachteiligte Gruppen besonders unterstützen. Wie oben beschrieben, wird die „positive Diskriminierung“ zur Aufhebung von Unterdrückung gefordert. Allerdings hat die Bevorzugung einer Gruppe in der Regel die Benachteiligung anderer Gruppen zur Folge, und damit ist der Nährboden für soziale Konflikte gelegt. Denn sobald eine Gruppe Vorrechte bekommt, melden sich die anderen und fordern die gleichen Rechte. So einleuchtend es erscheinen mag, dass Benachteiligte mehr Unterstützung brauchen als Besserstehende, so sorgfältig muss darauf geachtet werden, dass andere Diskriminierungen vermieden werden.
Mit Intersektionalismus ist gemeint, dass sich verschiedene Formen der Unterdrückung gegenseitig verstärken, z.B. dass schwarze Frauen wegen ihres Geschlechts und wegen ihrer Hautfarbe benachteiligt werden. Deshalb sollten die Mitglieder von politischen Bewegungen umfassend gegen Diskriminierungen auftreten. Oft werden dann Anliegen mitvertreten, die nicht in den eigenen Bereich gehören, wie z.B. Greta Thunberg, die als Vertreterin der Klimabewegung Im Gazakrieg für die Palästinenser Stellung bezogen hat. Die Autorität, die in einer Thematik erworben wurde, wird in andere Bereiche übertragen, obwohl Sachkompetenz und politische Erfahrung fehlen. Die Anhängerschaft greift die Anliegen häufig mit ihrem Engagement auf, ohne die Sachverhalte näher zu prüfen.
(Ad 7): Die Plausibilität dieser These ruht hier auf der Tatsache, dass Betroffene besser Bescheid über ihre Situation haben als Außenstehende. Dennoch kann auch dieser Punkt zu Missverständnissen führen, die im nächsten Blogbeitrag näher beleuchtet werden.
Die Dehnungen von klassischen liberalen Forderungen auf radikalere und extremere Sichtweisen, wie sie in der Ideologie der Identitätssynthese nach Mounk auftreten, können einerseits die Sensibilität vor allem bei den betroffenen Randgruppen oder Benachteiligten verstärken, wirken aber andererseits als Treibstoff für soziale und politische Konflikte. Es hilft beim Verstehen des Erstarkens der Rechtsparteien, die gegen alles „woke“ und Liberale polemisieren, dass die Ambivalenz und Radikalität der Identitätsideologie Ängste und Abwehrreaktionen auslösen – Wasser auf die Mühlen sowohl der Konservativen wie der Rechts- und Rechtsextremparteien.
Damit wird es schwieriger, die berechtigten Anliegen der emanzipativen Bewegungen in der Demokratie durchsetzbar zu machen. Denn die Mehrheiten liegen in den meisten Fällen bei denen, die die Überlegenheitspositionen innehaben, und nur dann auf Einfluss und Macht verzichten wollen, wenn sie sich über den gesamtgesellschaftlichen Nutzen sicher sein können. Und dazu liefert die Ideologie der Identitätssynthese keine Unterstützung.
Quelle: Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta 2024 – engl. Original: The Identity Trap 2023
Zum Weiterlesen:
Die Standpunkttheorie und ihre Schwächen
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen