Junge Menschen haben immer wieder in der neueren Geschichte gesellschaftliche Veränderungen vorangetrieben. Mit einem feineren Sensorium als die „etablierte“ Erwachsenengeneration spüren sie die Ungerechtigkeiten und Verlogenheiten im „System“ viel deutlicher. Sie vertreten einen hohen moralischen Anspruch, und daraus leitet sich bei vielen Jugendlichen das Gefühl ab, etwas tun zu müssen, um die unerträglichen Zustände zu verbessern.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand im deutschsprachigen Gebiet eine Jugendbewegung, die sich als Reaktion auf die Verstädterung und Industrialisierung verstand und unter dem Stichwort „Wandervogel“ das Naturerleben propagierte. Nach dem 1. Weltkrieg politisierten sich diese Bewegungen, teils in die pazifistische, teils in die militaristische Richtung. Die letztere mündete dann in die Hitler-Jugend im Nationalsozialismus. Daneben hatte es Jugendorganisationen der Kirchen und der sozialistischen Parteien gegeben, die dann alle verboten wurden.
Nach dem 2. Weltkrieg entstanden vielfältige Subkulturen, die sich vor allem über Mode- und Musikstile definierten – Rock’n’Roll, Pop, Hippie-Bewegung usw. Die 68er-Bewegung war andererseits eine stark politisch ausgerichtete Bewegung, die sich in den USA gegen den Vietnamkrieg und in Deutschland gegen die Versäumnisse in der Entnazifizierung einsetzte. Diese Strömungen waren durch eine Protesthaltung miteinander verknüpft, die sich gegen die bestehenden Normen und Regeln richtete. Die pubertäre Auflehnung gegen die Eltern wurde auf die Autoritäten in den Institutionen übertragen. Die Wut fand ihre Objekte in der Unglaubwürdigkeit der Mächtigen und in der Ignoranz für das Unrecht und die Benachteiligung der Schwächeren. Während weite Bereiche der Protestbewegungen von den Ideen des gewaltfreien Widerstandes beeinflusst waren, gab es an den Rändern auch gewaltbereite Gruppen.
Die Radikalität dieser Bewegungen speiste sich aus dem Impuls, in einer „falschen Gesellschaft“ zu leben. Radikal bedeutet, von Grund auf Neues zu erschaffen, sich also nicht mit kosmetischen Veränderungen zufriedengeben. Gemäß dem berühmten Diktum von Theodor W. Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen,“ machte es keinen Sinn, das Wirtschaftssystem zu reformieren, es müsste von der Wurzel aus, also radikal neu gestaltet werden.
Diese Radikalität, dass alles umgestürzt werden muss, ist Teil des uralten adoleszenten Vorstoßes, das Alte über den Haufen zu werfen und etwas ganz Neues an seine Stelle zu setzen. Es ist der Impuls, der die Gesellschaft immer wieder erneuert hat, der Impuls, der jede Form von Fortschritt auf den Weg gebracht hat. Ohne diesen Impuls wäre die Menschheitsentwicklung nie weitergekommen und an ihren eigenen Widersprüchen kollabiert. Ohne neue Ideen ist kein menschliches System überlebensfähig. Da die Widerstände der alten Ordnungen mächtig sind, müssen die Jungen radikal sein, um notwendige Veränderungen durchsetzen zu können.
Mit dem Fortschreiten des Liberalkapitalismus in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts verschwanden die Jugendproteste, offenbar hatten die jungen Leute genug zu tun, ihre berufliche Existenz aufzubauen. Speziell in den 90er Jahren, nach der Auflösung des Sowjetimperiums, schien der Liberalismus auf allen Fronten im Vormarsch und entsprach in seinem Fortschrittsbewusstsein den Idealen der Jugend. Erst die Zunahme des Bewusstseins über die fortschreitende Erderwärmung rief die jugendlichen Protestierer wieder auf den Plan.
Wieder stießen und stoßen sie auf die Gleichgültigkeit der Bürger, der in ihrer Normalität nicht gestört werden wollen. Die Macht des Faktischen ist so stark auf der Seite der Protestierer wie wohl nie zuvor – es ist allseits bekannt und dokumentiert, dass die Klimasituation jeder Kontrolle entglitten ist und die halbherzigen Maßnahmen die Erwärmung allenfalls ein wenig gebremst haben. Das einzige, was wir nicht wissen, wie schlimm die Auswirkungen sein werden. Die Ohnmacht gegenüber der bequemen oder saturierten Mehrheit, das Gegenüber jeder Protestbewegung, stachelt noch mehr zum Engagement an, hinter dem aber immer auch ein Stück Verzweiflung steckt.
Die Pathologie oder der Wahnsinn der Normalität ist das Schwergewicht, das sich gegen Fortschritt und Verantwortung stellt. Sie ist Teil von jedem Menschen, weil niemand ganzzeitig Revolutionär sein kann und sie bildet ein kollektives Feld, das von politischen Parteien gefördert wird, die sich das Motto überstülpen, für „den kleinen Mann“ oder für die „normalen Bürger“ zu sein. In Wirklichkeit heißt das, dass sie die Menschen darin unterstützen wollen, die Augen vor notwendigen Veränderungen zu verschließen, die ja auch dazu führen müssten, dass die Machtbasis dieser Parteien geschmälert wird.
Der Furor der Revoluzzer hat seine Schattenseite in der Verachtung der „Normalos“, derjenigen, die den notwendigen Wandel durch ihre Gleichgültigkeit und Schwerfälligkeit torpedieren. Die Dynamik zwischen Verachtung und Verweigerung hemmt den Erneuerungsprozess. Zwischen beiden Extremen gibt es die Pragmatiker, die wissen, dass eine totale Umkrempelung des Systems nicht geht, aber Schritte zur Erneuerung unterstützen. Wenn es den radikalen Protestierern gelingt, diese breite Gruppe für sich einzunehmen und zu motivieren, können sinnvolle Reformen stattfinden. Die Radikalität ist dann erfolgreich, wenn sie reflektiert ist, d.h. wenn sie auch die Grenzen ihres Engagements akzeptieren kann und bereit ist, ihre Ziele zu überprüfen, falls sie sich als unrichtig oder unzureichend herausstellen.
Unreflektiertes Engagement besteht in der blinden Umsetzung von Ideologien. Es dient deshalb nur einseitigen Interessen und behindert damit einen sinnvollen und lösungsorientierten Fortschritt in der Gesellschaft. Die Wut ist nur zerstörerisch, wenn sie sich ihrer Ziele nicht bewusst ist und die Umstände der Verwirklichung der Ziele nicht in Betracht zieht. Kanalisierte und umsichtige Wut hingegen kann als „heiliger Zorn“ ungerechte Strukturen und korrupte Machenschaften umstürzen. Wir brauchen also mehr reflektierte Radikalität und heiligen Zorn, denn Veränderungen vor allem zur Überlebenssicherung der Menschheit sind dringend notwendig.
Zum Weiterlesen:
Die Erweiterung der Grenzen der Normalität
Kollektive Traumen und ihre missglückte Bewältigung
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