Freitag, 20. Oktober 2023

Parteilichkeit verstärkt die Gewalt

Der aktuelle Nahostkonflikt berührt und verunsichert viele Menschen und bringt viele Fragen in den Vordergrund, die eigentlich schon lange unbeantwortet sind, aber immer wieder in den Hintergrund treten und schnell in Vergessenheit geraten. Bevor ich auf die Frage der Parteilichkeit angesichts der gegenwärtigen Situation eingehe, versuche ich darzustellen, worin die Grundregeln im menschlichen Zusammensein bei Gewaltereignissen bestehen. Unter Grundregeln verstehe ich Übereinkünfte, die für das Weiterbestehen der Gruppe oder Gemeinschaft notwendig sind, wenn es zu Regelüberschreitungen durch Gewalt geht. Diese Regeln bestehen seit Urzeiten und gelten für alle Formen von menschlichen Sozialformen. Sie hängen mit der sozialen Verfasstheit des menschlichen Seins zusammen.

Grundregeln im Umgang mit Gewalt

Wenn Mitglieder einer Gruppe Gewalttaten begehen, reagieren die anderen mit Entsetzen und Betroffenheit. Sie fühlen mit den Opfern mit und unterstützen sie. Sie verurteilen die Taten und fordern Konsequenzen für die Täter, denn Verbrechen sollen nicht ungesühnt bleiben. Die menschliche Gemeinschaft muss auch nach Akten der Barbarei weiterbestehen, und das geht nur, wenn die Taten verurteilt und die Täter bestraft werden. Die Opfer verdienen Solidarität, Trost und Wiedergutmachung. 

Bei jeder Bestrafung muss klar zwischen der Person des Täters und der Tat unterschieden werden. Es darf kein Täter entmenschlicht werden, auch wenn seine Tat unmenschlich war. Denn eine Gemeinschaft, die einem ihrer Mitglieder das Menschsein abspricht, wird selber unmenschlich. Entmenschlichung erzeugt Verunsicherung und Angst bei allen Mitgliedern, und das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl wird brüchig. Die Zugehörigkeit muss bedingungslos garantiert bleiben, selbst wenn jemand grob gegen alle Regeln verstößt. Sonst drohen der Gemeinschaft Zerfall und Anarchie. Gemeinschaftliche Gewalt ist nur zur Eindämmung von individueller Gewalt erlaubt. Z.B. darf die Polizei nur dann Gewalt ausüben, um Gewalttaten zu verhindern oder zu beenden. Eine willkürliche Gewaltausübung durch Organe der Gemeinschaft ist noch schlimmer als individuelle Gewalttaten, denn die Folgen sind Angst und Gegengewalt und die Destabilisierung der Gemeinschaft. Gewalt, die eine Gemeinschaft gegen ihre Mitglieder anwendet, muss regelkonform bleiben, sonst dient sie der Unterdrückung.

Parteilichkeit mit den Opfern

Soweit ein paar Überlegungen zum generellen Umgang mit Gewalt und ein Versuch, die Bedingungen zu beschreiben, wie menschliche Gemeinschaften mit Gewalt umgehen können, ohne die Grundlagen ihrer Gemeinschaft zu untergraben. Die aktuelle Gewalteskalation zwischen Palästinensern und Israel enthält natürlich vielfältige und komplexe Komponenten aus der Geschichte und aus den internationalen Zusammenhängen, die hier nicht erörtert werden. Ich möchte darauf eingehen, wie wir als unbeteiligt Beteiligte mit der emotionalen Belastung umgehen können, die mit jeder Gewaltausübung, die in der Menschenfamilie auftaucht, verbunden ist. Wir sind nach dem persischen Dichter Saadi Shirazi wie ein Körper, in dem jedes Glied den Schmerz spürt, wenn ein anderes Glied leidet.

Die nobelste Haltung, die wir entsprechend dieser Einsicht einnehmen können, besteht im Mitgefühl mit jedem Leid, das durch die Gewalt entsteht, ohne jeden Unterschied und ohne jede Bewertung. Die Parteilichkeit gilt den Opfern, auf welcher Seite sie auch entstehen. Zu dieser Haltung gehört die Forderung nach ausgleichender Gerechtigkeit, die die Ahndung der Gewalttaten und die Wiedergutmachung für die Gewaltopfer beinhaltet. Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden, und damit setzt die Menschengemeinschaft ein klares Signal, dass Gewalt nicht geduldet wird, sondern dass andere, gewaltfreie Formen der Konfliktbewältigung gesucht werden müssen.

Das Freund-Feind-Schema

In Konfliktfällen, bei denen wir nicht unmittelbar beteiligt sind, gibt es immer die Versuchung, eine Seite sympathischer oder rechtschaffener zu empfinden als die andere, woraus sich der Impuls ergibt, für diese Seite Partei zu ergreifen. Wer sich in einem Konflikt auf eine Seite schlägt, sollte sich allerdings bewusst sein, dass er oder sie mit diesem Schritt eine friedliche Lösung des Konflikts behindert und erschwert. Denn durch die Parteinahme wird die eigene Gewalttendenz verstärkt. Sie besteht darin, dass eine Seite als Freund und die andere als Feind gesehen wird. Der Freund ist der Gute, der Feind der Böse. Jemanden als Feind zu sehen, rechtfertigt Aggressionen, denn das Böse muss bekämpft werden. Die Gewaltbereitschaft im Inneren wird auf diese Weise genährt und gerechtfertigt. Anhänger einer Seite fordern Aggressionen und Zerstörungen, die der anderen Seite zugefügt werden sollten, und sind zufrieden, wenn diese erfolgen. 

Das verinnerlichte Feindbild billigt und unterstützt das stellvertretende Ausüben von Rache, nach dem Motto: Recht so, den Feinden muss Leid zugefügt werden, sie sind so böse. Gewalt muss mit Gewalt beantwortet werden. Was die Bösen angerichtet haben, muss solche Konsequenzen haben, dass sie niemals wieder auf die Idee kommen, Böses zu tun. Der nächste Schritt wäre, aktiv auf einer Seite mitzuwirken und so die eigene Gewaltbereitschaft mit dem Gefühl der Rechtschaffenheit ausleben zu können.

Das Freund-Feind-Denken entwirft eine binäre Struktur. Jedes binäre Schema enthält eine Polarität und erzeugt damit eine Polarisierung, die eine angstgeladene Spannung enthält. Solche Spannungen sind mit einer Gewaltbereitschaft verbunden, die jederzeit explodieren kann. Weltpolitische Konflikte sind immer Auswuchs aus historischen Verwicklungen und ungelösten Spannungen, die sich dann immer wieder entladen, solange es zu keiner nachhaltigen Friedenslösung kommt. Die Frage, wer den Konflikt begonnen hat und damit die Hauptschuld trägt, ist in solchen Fällen sinnlos. Deshalb dient ein Freund-Feind-Schema, das über die komplizierte Situation gebreitet wird, nur den eigenen unbewussten Rache- und Hassimpulsen. Schwarz-Weiß-Muster sind bequemer und verhelfen zu einer einfachen Orientierung, während die Auseinandersetzung mit der Komplexität immer wieder zu Ungewissheiten und Uneindeutigkeiten führt. Wir wollen ein klares und eindeutiges Bild, und wenn es ein solches nicht gibt, basteln wir es uns selbst, damit wir uns leichter tun und die Unklarheit nicht aushalten zu müssen. Wir blenden alles aus, was nicht in das Schema passt, und sammeln all das, was unser Schema bestätigt. Eindeutige Orientierungen geben uns Sicherheit, allerdings um den Preis der Realitätsverzerrung.

Die Wurzeln der Gewaltbereitschaft

Psychodynamisch betrachtet gilt eine latente Gewaltbereitschaft immer anderen Personen, denen gegenüber wir uns früher ohnmächtig gefühlt haben. Die Racheimpulse stammen aus Erfahrungen, einer ungerechten und willkürlichen Macht ausgeliefert zu sein, ohne Chance, sich zu wehren. Das Gefühl, Opfer einer übermächtigen Gewalt zu sein, führt dann zur Identifikation mit einer Konfliktpartei, deren Schicksal an das eigene erinnert. 

Als wir klein waren, konnten wir uns nicht für Demütigungen rächen, sondern mussten sie ertragen und die Verletzungen uns begraben. Solche Erfahrungen melden sich, wenn wir im Außen Geschichten von Tätern und Opfern hören. Dann finden wir schnell heraus, wer die Guten und wer die Bösen sind, und ergreifen für die Guten Partei, um sie zu ermutigen, den Bösen Leid zuzufügen und freuen uns, wenn das gelingt. Wir merken dabei nicht, dass die aggressiven Gewaltimpulse eigentlich Personen in unserer Geschichte gelten und offene Rechnungen aus unserer Kindheit begleichen sollen. Der Bündnispartner im Außen, die Konfliktpartei, mit der wir uns identifizieren, soll dafür sorgen, dass die Rache durchgeführt wird.

Mit der Parteinahme wird also der Konflikt weiter befeuert. Aus dieser Sicht gibt es nur einen Lösungsweg, nämlich die gewaltsame Zerstörung oder Unterwerfung des Gegners. Im langen Atem der Geschichte kommt irgendwann der Moment, wo diese Gewalt wiederum ihre Rächer findet. Gewalt gebiert Gewalt, ist aber selber nicht in der Lage, der Gewalt ein Ende zu setzen. Darum ist der Schritt aus der Parteilichkeit in eine Haltung des Mitgefühls für alle Leidenden ein Beitrag zur Entschärfung des Konflikts.

P.S. Was bedeuten diese Überlegungen für den Ukraine-Russland-Krieg?
Natürlich ist es wichtig, für die Opfer auf beiden Seiten Mitgefühl zu haben. Aber die Gewalt ist klar von Russland ausgegangen als Überfall auf ein freies Land, das damit zum Opfer einer ungerechtfertigten Aggression wurde. Die Haupttäter und Hauptverantwortlichen sitzen in der russischen Regierung und sollten zur Rechenschaft gezogen werden, was aber leider nicht möglich ist. Denn es gibt keine übergeordnete Instanz, die die Täter vor Gericht stellen kann. Parteinahme für die Ukraine heißt, sie gegen die fortlaufende Gewalt zu stärken. Natürlich braucht die massive Gewalt des Angreifers Gegengewalt, um sie in die Schranken zu weisen und die gesamte Bevölkerung der Ukraine nicht der Willkür der Angreifer auszuliefern. Deshalb ist hier eine Parteinahme für das Opfer des Angriffs und für den schwächeren Teil des Konflikts notwendig und sinnvoll. Täter sollen nicht ermutigt werden, mit ihrem aggressiven Potenzial weiteren Schaden anzurichten. Es gibt in diesem Fall und bei ähnlich gelagerten Beispielen keine andere Möglichkeit, als Gewalt durch Gegengewalt einzudämmen.

Zum Weiterlesen:
Krieg und Scham


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