Dienstag, 31. Oktober 2023

Über die Notwendigkeit und die Grenzen der Parteinahme

Wie im letzten Blogartikel beschrieben, sollte in einem Konfliktfall die Parteilichkeit mit den Opfern die oberste Leitlinie sein. Es gibt Konflikte, in denen die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern eindeutig ist, z.B. zwischen Eltern und kleinen Kindern, und solche, in denen die Rollen von vornherein uneindeutig verteilt sind und von Situation zu Situation unterschieden werden muss, was gerade gilt, z.B. zwischen Geschwistern.  Wenn in einer patriarchalen Struktur Konflikte zwischen Männern und Frauen ausbrechen, sind die Männer die Täter, weil sie durch die Struktur eine mächtigere Position innehaben, und die Frauen Opfer. Wo sich die patriarchalen Rollen auflösen, verschwimmen die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, die Rollen werden austauschbar.

Übertragen auf Konflikte in Organisationen: Bei hierarchischen Strukturen sind die Täter in der Regel oben auf der Ordnungsleiter und die Opfer befinden sich weiter unten. Bei Konflikten zwischen Mitarbeitern auf der gleichen Hierarchieebene gibt es wiederum keine klare Unterscheidung. Bei zwischenstaatlichen Konflikten ist der Staat, der einen anderen angreift, der Täter. Beispiele für solche zwischenstaatliche Angriffskriege sind: Der Angriff Österreich-Ungarns auf Serbien 1914, der Angriff Hitler-Deutschlands auf Polen 1939 und auf die Sowjetunion 1941, der Angriff der USA auf den Irak 2003 und der Angriff Russlands auf die Ukraine 2022.

Bürgerkriege in einem Staat sind meist weniger eindeutig, während Aufstände und Befreiungskonflikte klare Machtverteilungen aufweisen: Es wehren sich die Opfer von Unterdrückung gegen die vorherrschende Macht.

Es gilt also die Regel: Wo die Macht ungleich verteilt ist, werden im Konfliktfall diejenigen mit mehr Macht zu den Tätern und diejenigen mit weniger zu den Opfern. In solchen Fällen ist die Parteinahme mit den Opfern angebracht und wichtig, um ungerechte Strukturen in gerechtere überzuführen.

Jede Parteinahme in einem Konflikt fördert das Gewaltpotenzial, wie im letzten Blogbeitrag argumentiert wurde. Wenn die Lage eindeutig ist, wenn also klar ist, wer der Täter und wer das Opfer ist, gilt die Parteilichkeit den Opfern und steigert damit das Gewaltpotenzial, aber auf der Seite der Schwächeren. Die Gewalt, die durch die Parteinahme mobilisiert wird, kommt den Opfern zugute. Als die Schwächeren brauchen sie Unterstützung und Beistand. Die Täter, die Gewalt ausüben, müssen durch Gegengewalt in die Schranken gewiesen werden; freiwillig werden sie ihre Machtpositionen nicht hergeben. Die Parteinahme zielt auf einen Ausgleich der Kräfte und auf die Verringerung ungleicher Machtverhältnisse, die immer zur Benachteiligung der Schwächeren führt. Gerechtere Formen der Machtverteilung sind zugleich menschlicher, weil sie dem menschlichen Bedürfnis nach Fairness entsprechen und einer größeren Zahl von Menschen mehr Möglichkeiten verschaffen.

Der Nahostkonflikt und die Parteilichkeit

Der schwere Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern liefert ein Beispiel für die Austauschbarkeit der Rollen. In der langen, mindestens hundert Jahre dauernden Konfliktgeschichte sind beide Seiten unzählige Male zu Opfern und Tätern geworden. Gewaltakte folgen auf Gewaltakte, und es gibt keinen Maßstab, nach dem eine Eindeutigkeit in der Rollenverteilung gefunden werden könnte. Es ist nicht auszumachen, wer gut und wer böse ist,  und deshalb ist jede Parteilichkeit willkürlich und anmaßend und pumpt mehr Gewalt in eine Seite des Konflikts. In der jüngsten Entwicklung ist die palästinensische Hamas zunächst zum Täter geworden, und die Parteinahme gilt den Opfer dieser Aggressionen. In der Logik dieses Konflikts haben sich dann die Rollen vertauscht, und die Palästinenser wurden zu den Opfern der israelischen Aggressionen, die Anteilnahme und Unterstützung verdienen.

Viele Solidarisierungen mit einer Konfliktpartei sind von tiefgehenden und oft unbewussten historischen und psychologischen Wurzeln gesteuert. In den Konflikt untrennbar hineinverwoben ist aus europäischer Sicht die unheilvolle Geschichte des Antisemitismus bis zum Holocaust. Die systematische ideologische Judenfeindschaft ist eine Erfindung Europas, zunächst als religiöser Antisemitismus im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, und ab dem 19. Jahrhundert der rassische Antisemitismus, der den Juden rassische Merkmale andichtete, die sie zu bösen Menschen machten.

Ausgrenzungen und Abwertungen von Teilen der eigenen Gesellschaft lösen immer starke Scham- und Schuldgefühle aus, erst recht, wenn sie zu gewaltsamen Ausbrüchen bis zur physischen Vernichtung führen. In den Träger- und Täterländern der nationalsozialistischen Judenvernichtung, Deutschland und Österreich, besteht deshalb eine massive Scham- und Schuldbelastung, die mehr oder weniger erfolgreich in den letzten Jahrzehnten aufgearbeitet wurde, aber immer noch einen unparteilichen Blick auf die Konfliktlage erschwert. Für die Geschichte Österreichs ist es übrigens bezeichnend, dass einzig der Jude Bruno Kreisky als Bundeskanzler in den siebziger Jahren eine diplomatische Brücke zu den Palästinensern schlagen konnte. Von dort aus öffnete sich in weiterer Folge der Weg zu den hoffnungsvollen Projekten für eine Zwei-Staaten-Lösung in Palästina zwanzig Jahre später, denen aber leider kein Erfolg beschieden war.

Gibt es Aussichten?

Was ist die Perspektive? Erst wenn die Parteilichkeit mit den Opfern globale Ausmaße annimmt, die überwiegenden Mehrheiten in den Konfliktgebieten bildet und die Parteilichkeiten für eine der Konfliktseiten übertrifft und in den Schatten stellt, besteht die Hoffnung, die Konfliktparteien zu einem Einlenken zu bringen. Es ist die überwältigende Macht der Menschlichkeit, die es verbietet, dass es in irgendeiner Form zu Menschenrechtsverletzungen und Opfern an Leib und Gesundheit kommt. Sie muss jede Form der Gewaltanwendung wirksam und nachhaltig unterbinden. Es sind die Kräfte des Friedens, die über die Parteinahme mit den Opfern die Fahne der Menschlichkeit so lange hochhalten, bis genügend Menschen verstanden haben, dass es sinnlos ist, weitere Menschenleben zu opfern und dass der Konflikt so beigelegt wird, dass beide Seiten einen Gewinn daraus ziehen.

Zum Weiterlesen:
Parteilichkeit verstärkt die Gewalt

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