Samstag, 22. Dezember 2018

Demokratie und Gefühle

Wir Menschen werden stark durch unsere Emotionen beeinflusst, und wir können auch stark von außen in unseren Emotionen beeinflusst werden. Wie wirkt sich diese Konstitution auf die Demokratie aus, die vielen als die entwickelteste Form zur Regulation von Gemeinwesen gilt? Wenn das zoon politicon kein animal rationale, sondern zuallererst ein Gefühlstier ist, muss das Auswirkungen auf die Willensbildungen in Demokratien haben. 

Gefühle sind einfache Formen der Wirklichkeitsverarbeitung. Sie arbeiten im Wesentlichen nach den Kriterien von sicher/bedrohlich und sympathisch/unsympathisch. Im ersteren Fall geht es darum zu spüren, was mir für mein eigenes Überleben weiterhilft bzw. gefährdet. Im zweiten Fall schätzen wir die Chancen ab, die wir im sozialen Feld haben und die dort den Grad unserer Zugehörigkeit und Sicherheit bestimmen. 

Die Demokratie in einem modernen Staat erfordert allerdings ein hohes Maß an Rationalität. Sie ist einerseits notwendig, weil so viele Aspekte beachtet werden müssen und andererseits, weil immer wieder eigene Interessen zugunsten des Gemeinwohls zurückgesteckt werden müssen. Es braucht weiters ein Eingehen auf die Interessen und Bedürfnisse anderer, und dazu sind viele der Emotionen im Weg. Drittens können wir nur mit Hilfe unserer Rationalität zwischen unseren Gefühlen und unseren Werten unterscheiden. 

Die Gefühle entstehen aus unseren Erfahrungen mit Bedürfnissen und deren Befriedigung in der Kindheit. Daraus haben sich unbewusst gesteuerte Gewohnheiten des Fühlens entwickelt, Muster, die aus unseren frühen Erfahrungen gespeist sind, auf Schlüsselreize reagieren und unser Verhalten lenken. 

Die Werte bilden sich im Lauf unserer Lebensgeschichte aus, beeinflusst von unserer Kultur, familialen Herkunft und unseren Erfahrungen. Wir können unsere Werte jederzeit rational überprüfen und mittels unseres Denkens sowie über den diskursiven Austausch mit anderen an ihrer Widerspruchsfreiheit arbeiten. Dadurch gelangen wir zu einer standfesten und zugleich flexiblen Position, die aktuelle Entwicklungen mit den eigenen Grundeinstellungen in Verbindung bringen und daraus klare Einschätzungen ableiten und Entscheidungen treffen kann. 

Emotionen sind vage und flüchtig. Sie verändern sich dauernd und werden häufig durch die immer gleichen oder ähnlichen Auslöser aktiviert. Wir hören ein bestimmtes politisches Argument und schon läuten die inneren Alarmglocken und wir fahren mit unseren Geschützen auf, ohne Rücksicht auf die näheren Umstände und Hintergründe. Solche Muster können wir nur verändern, wenn wir uns bewusst machen, was da gerade abläuft. Dazu brauchen wir eine innere Distanz zu den Gefühlen. Mit unserem Denken können wir daraufhin überprüfen, ob unsere Reaktion angemessen ist und ob es noch Aspekte der Realität gibt, die mitbeachtet werden sollten. 

Emotionen sind auch die Triebkraft hinter allen Entscheidungen, die wir treffen. Die Rationalität vermittelt die Werte und stellt Positionen klar, zwischen denen dann die Entscheidung getroffen wird. Oftmals überlegen Leute lange hin und her, wem bei einer Wahl die Stimme gegeben werden soll oder ob überhaupt gültig gewählt werden soll. Da werden im Kopf oder in einer Diskussion Argumente abgewogen, bis dann eine Seite stärker ist, für die das Gefühl aus dem Unterbewussten das Gewicht in die Waagschale legt.

Wird die Rationalität beiseitegelassen, entscheidet nur das Gefühl, das auch von äußeren situativen Einflüssen stärker abhängig ist als das Denken. Das machen sich die Manipulatoren und Populisten zunutze, die mit vielfältigen Tricks auf das Unterbewusste der Menschen einwirken wollen, um ihre Ziele durchzubringen – im Wirtschafts- wie im Politikmarketing. Sie brauchen nicht auf die Komplexität der Wirklichkeit Rücksicht zu nehmen, weil sie an die einfachen Emotionen appellieren. Ein Psychologieprofessor aus den USA hat festgestellt, dass der gegenwärtige Präsident die Gefühle von Fünfjährigen anspricht, dass er sie auf dieser Ebene erreicht und motiviert. 

Demagogen richten ihre Behauptungen nur nach dem Zweck, den sie erreichen wollen. Die “Wahrheit” einer Aussage wird nur mehr dadurch definiert, dass sie mit Autorität und Überzeugungskraft ausgesprochen wird. Kriterium ist die Person des Sprechers, der einen bedingungslosen Glauben an seine Deutungsautorität verlangt. Diese Form des Glaubens bringen nur Kleinkinder auf, die noch so wenig über die Wirklichkeit wissen, dass sie glauben müssen, was ihnen ihre Eltern erzählen. So wundert es nicht, wenn man in den begeisterten Augen von Populistenanhängern das kleinkindliche Staunen über die Zauberkraft ihrer Idole ablesen kann. 

Die Wahrheit von Aussagen unter Erwachsenen bezieht sich auf die Wirklichkeit: Inwieweit wird diese durch die Aussage korrekt beschrieben? Ideologien und Ideologen bedienen sich eines anderen Bezugspunkts, nämlich eben dieser Ideologie und ihres Wertesystem. Wahr sind Aussagen, die mit dem eigenen Konstrukt übereinstimmen, und wenn jemand kommt und sagt, die Realität ist aber anders, dann wird die eigene Position mit „alternativen Fakten” oder ähnlichen Verschleierungen gerechtfertigt.

Die Populisten vermitteln also ein Bild von der Wirklichkeit, das sie mit Hilfe ihrer Ideologie geschaffen (konstruiert) haben. Sie fordern ihre Anhänger dazu auf, diese Konstruktion kritiklos zu übernehmen, und diese tun dies auch, weil sie auf den Gefühlsstand von Kleinkindern regrediert sind. Kinder nehmen an, dass die Eltern immer Recht haben. Erst wenn sie größer sind, schauen sie in wikipedia nach, ob das Sonnensystem wirklich so viele Planeten hat, wie die Eltern behaupten. 

Die Nutzung der Rationalität ist anstrengend und manchmal mühsam. Gefühlsgesteuert zu sagen: Das gefällt mir und das gefällt mir nicht, ist einfach und geschieht schnell. Die „Arbeit des Begriffs”, wie sie der Philosoph Hegel genannt hat, erfordert Genauigkeit, Ausdauer, Forschergeist und die Bereitschaft zur Selbstüberprüfung. Das sind Qualitäten, die Erwachsene brauchen und über die sie auch verfügen, wenn sie ihren Aktivitäten nachgehen.  

Die Demokratie ist ein System, das diese Haltung auch in der Politik verlangt. Sie beruht auf der Annahme, dass Menschen, die ihre Arbeit verrichten, Geschäfte abschließen, Projekte verwirklichen, das tägliche Leben managen und Kinder großziehen, in der Lage sind, in Hinblick auf das Gemeinwesen die erwachsenen rationalen Qualitäten einbringen. Demokratie kann nicht funktionieren, wenn einer Masse von Kleinkindern die Entscheidung überantwortet wird, ob Krieg geführt wird oder nicht, wie es im Faschismus geschehen ist. Heute geht es um Fragen, ob es besser ist, bei einem gesamteuropäischen Gemeinschaftsprojekt mitzumachen oder nicht, ob man einem „Migrationspakt” beitreten soll oder nicht usw. Es scheint in weiten Bereichen so, und das lässt sich aus den vielfältigen Meinungskundgaben in Foren leicht herauslesen, als würden da nicht Erwachsene mit Argumenten und Wertüberlegungen diskutieren, sondern Kinder, die nur von diffusen Gefühlen geleitet sind und auch gar nicht verstehen, was sie damit anrichten. 

Viele Untersuchungen über Hassposter haben gezeigt, dass diese Menschen aus einem Zustand der Verantwortungslosigkeit heraus ihre Meldungen abschicken, ohne Rücksicht auf die Folgen – eben wie Kleinkinder, die losschreien, wenn ihnen etwas nicht passt, gleich wo und mit wem sie sind. Doch sind die Hassposter nur die Spitze eines Eisberges, den die vielen Menschen bilden, die ungeprüfte „Fakten” und Theorien übernehmen und mit dem Brustton der Überzeugung und Empörung weitergeben. 

Wir sollten uns bewusst sein, dass solche Aktionen und Haltungen, die allein von unbewussten Gefühlen gesteuert sind, die Demokratie untergraben und destabilisieren. Wir sollten uns bewusst sein, dass es in unserer Verantwortung liegt, solche Einstellungen in uns selber zu überprüfen und andere auf ihre ideologischen Engstellen aufmerksam zu machen. Demokratie ist ein gemeinschaftliches Projekt, das der permanenten Anstrengung des Diskurses und der rationalen Auseinandersetzung bedarf. Diese Anstrengung muss jeder aufbringen, der ein solches System will. Wer es nicht will, sollte sich über die Alternativen bewusst sein: Autoritäre Lenkung oder Chaos. Beides kennen wir aus der Geschichte, und wir leiden noch immer an den Folgen dieser Katastrophen.

In der aktuellen Oper „Die Weiden”, in der es um Populismus und Manipulation geht, heißt es: „Dreitausend Jahre Denken, und jetzt das?” Die Jahrtausende der Geistesgeschichte enthalten Schätze, die wir nutzen sollten, um unser Gemeinwesen so einzurichten, dass möglichst viele Menschen in ihm ein gutes Leben führen können. Für dieses Ziel ist es notwendig, die vielfältigen Qualitäten der Rationalität einzusetzen und unsere Gefühle zu verstehen und zu distanzieren. 

Der berühmte englische Psychoanalytiker Donald Winnicott hat 1952 geschrieben, dass die frühe Kindheitsentwicklung bestimmt, ob Demokratie möglich wird oder nicht. „Denn diejenigen, die gehemmt werden in der Entwicklung ihres Selbst, wirken destruktiv der Demokratie gegenüber.” 

Das bedeutet auch, dass jede Arbeit an der Entwicklung des Selbst ein aktiver Beitrag zur konstruktiven Weiterentwicklung der Demokratie darstellt. Und es ist dringend notwendig, dass an den Voraussetzungen für diese Entwicklung gearbeitet wird – von allen Teilnehmern an der Demokratie und noch mehr von den Hauptverantwortlichen, eben den gewählten und von den Staatsbürgern bezahlten Politikern. Denn wer als Politiker in die eigene ideologische Tasche arbeitet und nicht fürs Gemeinwohl, ist korrupt.  

1 Kommentar:

  1. Lieber Wilfried
    danke für deinen interessanten Text.
    Mir kommen ein paar Ergänzungen, wenn ich ihn lese. Du schreibst:
    Die Demokratie in einem modernen Staat erfordert allerdings ein hohes Maß an Rationalität....

    Ja, das ist definitiv so, UND gleichzeitig wäre das für mich zu wenig im optimalen Fall. Denn rationales Denken ist für mich in erster Linie intellektbezogen und begrenzt - der Yang-Pol. Die intuitive Weisheit ist Yin und verbunden mit allem was ist - ist das unbegrenzte Wissen, das von innen her erfahren wird.

    Und auch um die intuitive Weisheit ins Spiel zu bringen braucht es die innere Distanz zu den eigenen Emotionen, wie du es auch erwähnst.

    Intuitive Weisheit schließt für mich globale Verantwortung und Nachhaltigkeit automatisch mit ein. Und es braucht Übung den Zugang zum weiblichen Anteil des Wissens wahrzunehmen.

    Viele jahrtausendelang wurde die Weisheitsgöttin Sophia in unterschiedlichen Kulturen verehrt, bis die Kirchenväter aus ihr den "Heiligen Geist" machten!

    Gerade in unserer heutigen Zeit braucht es für mich gerade zum Lösen der globalen Herausforderungen Ratio und intuitive Weisheit, denn mit reiner Intelligenz sind die anstehenden Themen nicht mehr zu lösen...allein, wenn ich an die Nanopartikel in unseren globalen Kreisläufen denke, die bis in unser Blut vorgedrungen sind...

    Die intuitive Weisheit hat auch da Lösungen parat, für die die Ratio noch gar nicht offen ist - so wie ich das spüre.

    mit einem herzlichen Gruß
    Selina


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