Montag, 29. September 2025

Ethik aus der Steinzeit in der Rechtspropaganda

In der Debatte um Charlie Kirk sollte es weniger darum gehen, den Charakter des Attentatsopfers zu beurteilen (ob er ein „Guter“ oder ein „Böser“ war), sondern eher darum, was aus der Form der Propaganda, die er für rechtskonservative und rechtsextreme Richtungen in den USA betrieben hat, gelernt werden kann und was passiert, wenn diese Propaganda in die Politik eingreift. 

Die Basis der Werthaltungen und der Ethik und Theologie der von Kirk vorgebrachten Argumente und Argumentationslinien liegt weit zurück auf einem vormodernen, voraufklärerischen Niveau, genauer gesagt, vor der jungsteinzeitlichen Wende vor ca. 10 000 Jahren. Man kann deshalb mit Fug und Recht sagen, es handelt sich um ein steinzeitliches Moralverständnis. Das ist keine Abwertung, sondern eine historische Zuordnung. Dennoch wurde dieser Ansatz mit einer selbstüberzeugten Naivität vorgebracht, die zweieinhalb tausend Jahre der Geistesgeschichte souverän ignoriert. Das Gehirnschmalz einer großen Zahl von geistigen Größen und mutigen Erforschern der Grenzen des Wissens scheint angesichts der Ergüsse von Kirk und ähnlichen Propagandisten sinnlos vergeudet. 

Dieses skurrile Phänomen wäre weiter nicht erwähnenswert, hätte diese Art des Denkens und Wertens nicht Millionen von begeisterten Anhängern und wäre sie nicht die staatstragende Ideologie der weit nach rechts abgedrifteten US-Administration. Wir wissen aus der Geschichte des Faschismus und des Nationalsozialismus, dass vormoderne Ideologien zusammen mit hochmodernen Technologien eine explosive Mischung bilden, die letztendlich in Grausamkeiten und Gewaltorgien münden. Die menschliche Vernunft ist in einer beständigen gedanklichen Weiterentwicklung im Lauf der menschlichen Geschichte entstanden. Diese Entwicklung zu vernachlässigen, rächt sich, weil der Bezug vor allem zur sozialen Wirklichkeit verlorengeht. Ohne Vernunft bleibt die Emotionalität als Hauptquelle der Wahrheitsfindung, der Wirklichkeitserkennung und der Moral, und dafür ist sie nur sehr eingeschränkt brauchbar. 

Ohne Vernunft keine Ethik für komplexe Gesellschaften

Für die Regelung der sozialen Belange einer Menschheit, die über 8 Milliarden Personen umfasst, ist unsere Emotionalität nicht ausgestattet. Die Evolution hat sie für kleinere Gruppen ausgeformt, in denen sich die einzelnen Mitglieder gut kennen (face-to-face). In solchen Großfamilien haben die Menschen und ihre direkten Vorfahren über Millionen von Jahren gelebt. Erst seit der Jungsteinzeit sind übergeordnete soziale Gebilde entstanden, Fürstentümer, Staaten und Großreiche, in denen neue ethische Normen eingeführt werden mussten, die nicht durch die Grundemotionen abgedeckt waren.

Denn die Grundemotionen (Angst, Scham, Zorn, Traurigkeit, Freude und Interesse) dienen nur dazu, das soziale Leben in überschaubaren Gruppen zu regulieren. Für größere Verbände reichen die hormongesteuerten Gefühle nicht aus. Zum Beispiel hat das als Liebeshormon bekannte Oxytocin die Schattenseite, neben Liebesgefühlen für die Nächsten feindselige Gefühle gegen Fremde auszulösen. Um also von der Fürsorge für die Nahestehenden zum Respekt für Unbekannte und Fremde zu kommen, brauchen wir die Fähigkeiten höher entwickelter Gehirnteile, vor allem das Frontalhirn mit seiner komplexen Denkfähigkeit. Wir erkennen zwar ohne Nachdenken, was ein Mensch und was ein Tier ist, aber es ist nicht selbstverständlich, dass wir den unbekannten Menschen, denen wir begegnen, die gleiche Achtung und den gleichen Respekt entgegenbringen wie unseren Familienmitgliedern.

Von der Nächsten- zur Feindesliebe

Es ist der Schritt, der in der Bibel als Entwicklung von der Nächsten- zur Fremden- und gar zur Feindesliebe beschrieben ist. Buddha hat von einem universellen Mitgefühl gesprochen, das allen fühlenden Wesen gebührt. Um auf dieses weiter entwickelte moralische Niveau zu gelangen, benötigen wir die höheren Denkleistungen, mit deren Hilfe wir schließlich auch abstrakte Modelle wie die allgemeinen Menschenrechte oder den sozialen Ausgleich mit Benachteiligten und Schwächeren in der Gesellschaft verstehen können. 

Wir verfügen zwar über die Grundfähigkeit zur Empathie, zur Einfühlung in andere Lebewesen, also zum Nachvollziehen dessen, was sich im Gefühlserleben der Mitmenschen abspielt. Diese Fähigkeit ist uns nur zugänglich, wenn wir uns in einem entspannten Zustand befinden. Sind wir mit uns selbst in einer guten Verbindung, fällt es uns leicht, mitzubekommen, wie die Leute um uns herum gerade ticken. So können wir auch helfend und unterstützend eingreifen, wenn sich jemand in Not befindet. Über diese Fähigkeit verfügen schon Kleinkinder. Es braucht aber die Mitwirkung des frontalen Großhirns, um das Mitgefühl auf einen größeren Kreis von Menschen und schließlich auf die ganze Menschheit oder den ganzen Kosmos ausweiten zu können. 

Moralische Unreife aus Angst

Jeder Rechtsruck, also jedes Vordringen von vor-aufklärerischen Ideologien zeigt, dass viele Teile der Gesellschaft entweder noch nicht reif sind für dieses Niveau von Ethik und gesellschaftlicher Verantwortung oder dass sie unter dem Druck von Ängsten auf ein niedrigeres Niveau zurückgefallen sind. Die Anfälligkeit für rechte und rechtsextreme Propaganda ist nur bei Menschen gegeben, die auf ihre Vernunft verzichtet haben oder sich ihrer nicht bedienen können. Mit der fehlenden Reife ist gemeint, dass die kognitive Bildung und die Herzensbildung fehlen, die notwendig sind, um die vermeintliche Absolutheit der eigenen Standpunkte hinterfragen zu können. Die Fähigkeit zur Reflexion muss geübt werden, damit sie in die eigenen Einstellungen und Werthaltungen einfließen kann. Wer nie in den Genuss einer mittleren oder höheren Schulbildung gekommen ist, wird sich mit komplexeren Formen des moralischen Urteilens schwertun. Wer nie die Macht der Traumatisierungen verstanden hat, die die Fähigkeit zum Mitfühlen schwächt,  und der nie die Chance hatte, an ihnen zu arbeiten, bleibt gefangen im Käfig der Selbstbezogenheit. In unseren Breiten sind es deshalb vor allem die aus Traumatisierungen stammenden Ängste, die die Menschen auf einfachere Stufen in der Ethik zurückfallen lässt, für die es genügt, Empathie mit sich selbst zu haben und vielleicht auch noch mit vertrauten Mitmenschen. 

Die Verursachung von Daueraufregung, die Empörungsökonomie, hat genau den Sinn, die Aktivierung der erweiterten Empathie zu unterbinden. Versetze deine Mitmenschen andauernd in Angst, indem du ein drohendes Katastrophenszenario nach dem anderen vor ihnen ausbreitest, und schon sind sie ihres Mitgefühls enthoben, was sie dann im Notfall nicht zögern lässt, auch über Leichen zu gehen. Denn für Feinde, die einen bedrohen, braucht es kein Verständnis, sondern ein hartes Vorgehen.

Herzensbildung als Voraussetzung für die vernunftgeleitete Ethik

Je einfacher das Niveau der moralischen Argumentation ist, desto leichter kann es mit Angst aufgeladen werden. Denn die kritischen Instanzen, die prüfen können, ob den Ängsten reale Bedrohungen gegenüberstehen, stehen nicht zur Verfügung, weil sie eben gerade von den Ängsten blockiert werden. Es wird dann gewissermaßen aus dem Bauch heraus entschieden, ob eine Angst berechtigt ist, die jemand im Außen anstößt. Der Bauch kann allerdings die Wirklichkeit nicht erforschen, sondern trifft seine Einschätzungen auf der Grundlage von früher eingeprägten Angsterfahrungen.

Aus dieser Perspektive ist es damit vor allem die Herzensbildung unerlässlich, denn Menschen orientieren sich auch wider besseres Wissens nach rechter Propaganda. Unter Herzensbildung verstehe ich die bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten und Schamgefühlen, die uns daran hindern, in unseren moralischen Urteilen und Haltungen über die engsten Kreise von vertrauten Menschen hinaus zu wachsen. Wenn es uns gelingt, das, was unser Herz verhärtet hat, weich werden zu lassen, dann sind wir in der Lage, unser Mitgefühl dorthin zu richten, wo es am notwendigsten gebraucht wird, zu den Leidenden und Schwachen in unserer Nähe und überall sonst.

Zum Weiterlesen:
Die Empörung - Motivation und Polarisierung
Intensitätssuche und Gewalt


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