Einsamkeit und Alleinsein
Die Einsamkeit ist ein schwerwiegender Leidenszustand. Sie hat nichts mit dem Alleinsein zu tun. Wer alleine ist, ist mit sich beschäftigt und kann mit sich selbst reden. Es kann ein produktiver Zustand sein, in dem neue Ideen entstehen oder einfach die Stille genossen wird. Im Alleinsein wissen wir, dass wir leicht jemanden für ein Gespräch finden können, wenn wir es brauchen. Wir fühlen uns sicher mit uns selbst und in unserer sozialen Umgebung.
Die Einsamkeit dagegen wird belastend und quälend erlebt. Denn sie ist ein Zustand der Beziehungslosigkeit, der oft mit einer gestörten Beziehung zu sich selbst einhergeht. Da wir im Gespräch miteinander kommunikative Wirklichkeiten erschaffen, führt der Mangel an solchen Wirklichkeiten zum Zweifel an sich selbst, zu einem Verlust an Wirklichkeit und damit auch an Wirksamkeit. Dazu kommt der Sinnverlust: Sinn kann nicht aus Mangel entstehen, sondern aus dem Austausch mit anderen und aus der wechselseitigen Bestätigung, die wir uns dabei geben. Oft wird also die Einsamkeit von Gefühlen der Irrealität und der Sinnlosigkeit begleitet und erzeugt Depressionen.
Verlassensein und nicht gesehen werden
Die Wurzel der Einsamkeit liegt in einem Verlassenwerden. Jemand, der einem sehr wichtig war, ist weggegangen. Diese Erfahrung müssen alte Menschen machen, die ihre Lebenspartner verlieren. Oft sterben sie bald nach dem Tod des Partners, vor allem, wenn es ihnen nicht gelingt, neue soziale Kontakte aufzubauen, die ihrem Leben Orientierung und Sinn geben.
Die tiefere Wurzel liegt allerdings meist in sehr frühen Erfahrungen. Seit den Forschungen zur Bindungstheorie nach John Bowlby wissen wir, dass Kleinkinder verlässliche und resonante Beziehungen zu Erwachsenen brauchen, um sich sicher zu fühlen und um gesund aufwachsen zu können. Resonanz bedeutet dabei, dass die erwachsene Person die Bedürfnisse des Kindes verstehen und adäquat darauf reagieren kann. Dann fühlt sich das Kind erkannt und in seinem Sein bestätigt. Fehlt diese Resonanz, so entsteht ein Einsamkeitsgefühl, auch wenn andere Menschen da sind: „Niemand sieht mich.“ Und: „Niemand kann mich trösten.“ Diese frühe Einsamkeit ist mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht verbunden. Das Kind hat den Eindruck, verlassen worden zu sein, ohne Chance, die lebenswichtigen Kontakte wiederbeleben zu können. Aber auch die Scham ist eine mächtige Begleiterin dieser schlimmen Erfahrungen. Denn das Unbewusste zieht den Schluss aus dem Nichtgesehenwerden: „Ich bin so verlassen, weil ich es nicht wert bin, von anderen wahrgenommen genommen zu werden.“ Ein existenzielles schamerfülltes Unwertgefühl prägt sich in die Seele ein.
Eine noch tiefere Quelle der Einsamkeit taucht bei Menschen auf, die im Mutterleib einen Zwilling verloren haben. Sie waren von der Empfängnis an mit einem anderen Menschenwesen aufgewachsen, in einer intensiven Beziehung. Und dann ist etwas Grauenhaftes passiert – das Zwillingsgeschwister ist verloren gegangen, ist verschwunden, und plötzlich klafft ein riesiges Loch. Es kommt zu Gefühlen von Angst, Verwirrung, Wut und Scham, und schließlich bleibt nur mehr die Einsamkeit als quälender Zustand.
Die Wiederbelebung von frühen Einsamkeitserfahrungen
Verlusterlebnisse, die später im Leben auftreten, beleben solche Früherfahrungen des Verlassenwerdens aufs Neue, und all die Gefühle von Einsamkeit, Ohnmacht und Sinnlosigkeit tauchen mit voller Wucht auf und können Erwachsene aus ihrer Lebensbahn herausreißen. Oft hindert sie die aus den Mangelerfahrungen erworbene Bedürftigkeitsscham daran, therapeutische Hilfe zu suchen. Denn die Kompensation aus der kindlichen Erfahrung der Missachtung besteht darin, das Leben alleine schaffen zu müssen.
Das wichtigste Heilungsmittel, das die Psychotherapie anbieten kann, ist die bedingungslose und wertschätzende Beziehung. Sie dient dazu, den Mangel an Resonanz durch Empathie aufzufüllen und das Fehlen des Wahrgenommenseins durch aufmerksames Zuhören auszugleichen. Dadurch kann das Leiden an der Einsamkeit durch eine neue Erfahrung der zugewandten und liebevollen Präsenz überschrieben werden. Die Schamgefühle lösen sich auf, wenn das Gegenüber vermitteln kann, dass das eigene Sein geschätzt wird und dass alle Gefühle in Ordnung sind.
Einsamkeit als Wurzel für Autokratien
Die Philosophin Hannah Arendt hat den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Totalitarismus erforscht. Sie war der Auffassung, dass die Einsamkeit eine wesentliche Bedingung für die Entstehung von totalitären Regimen darstellt. Solche Herrschaftsformen entstehen auf dem Boden von gesellschaftlicher Zerrüttung, durch die Brüchigkeit von sozialen Bindungen, die durch sozioökonomische Krisen hervorgerufen werden. Wenn die Menschen den Eindruck haben, dass ihre Regierungen nicht mehr in der Lage sind, die bestehenden Probleme zu lösen, geraten sie in Zustände von Hilflosigkeit und Ohnmacht, bei denen autokratische Herrschaftsformen als einziger Ausweg erscheinen.
Außerdem sind Menschen, wenn sie sich einsam und verlassen vorkommen, leichter manipulierbar. Es fehlt ihnen an kritischer Reflexion, die nur im Dialog entstehen kann, und an einer konstruktiven Selbstbeziehung, durch die sie ihre Werte und Einstellungen schärfen könnten. An die Stelle der autonomen Selbstbestimmung und Verantwortungsübernahme treten Ideologien, die eine Erklärung für alle Missstände anbieten und versprechen, die Einsamkeitsgefühle durch ein kollektives Wir-Gefühl („Wir sind das Volk“) zu überwinden. Der verlorengegangene Sinn wird von der Ideologie geliefert, an die bedingungslos geglaubt wird, weil sie den Anker für die eigene Daseinsberechtigung liefert.
Vermischung von Ideologie und Religion
Besonders effektiv für diese Zwecke eignen sich Ideologien, die sich mit religiösen Glaubensformen verbinden. So wird z.B. die Putin-Ideologie von der Wiederherstellung des Sowjetimperiums von der russisch-orthodoxen Kirche unterstützt. Aktuell können wir beobachten, dass sich die rechte MAGA-Bewegung von Donald Trump von einer säkularen Ideologie zu einer sektenartigen religiösen oder pseudoreligiösen Glaubensgemeinschaft verwandelt. Die Trauerfeier für den MAGA-Propagandisten Charlie Kirk war ein religiös aufgemotztes Massenspektakel, bei dem die Grenzen zwischen Glaube und Aberglaube zum Verschwimmen gebracht wurden.
Die Kombination von Ideologie und Religion soll die Menschen noch stärker an die Gruppe (Gemeinschaft) binden und jede Form von kritischer Reflexion überflüssig machen. Die Entindividualisierung, die in der Massenhysterie geschieht, hebt für den Moment alle Einsamkeits- und Ohnmachtsgefühle auf. Auf diese Weise werden Menschen geformt, blinden Gehorsam und kritiklose Unterordnung zu zeigen – eine gestaltbare Masse, die willenlos den Zwecken des Autokraten dient. Mit dieser Machtbasis gelingt es dann, alle, die ihre geistige Unabhängigkeit außerhalb der Ideologiegemeinschaft bewahren konnten, zu unterdrücken und mundtot zu machen. Der Einheitsstaat mit einer Ideologie, einer Glaubensform und einer einheitlich fühlenden und denkenden Bevölkerung ist der Traum aller Diktatoren, mit dem sie ihre eigenen Einsamkeitstraumen verdrängen können.
Die Geschichte zeigt, dass alle Versuche von Gemeinschaftsbildungen auf der Grundlage von autoritärer Herrschaft und religiös verbrämter Ideologie in Gewalt münden und schließlich durch Gewalt untergehen. Es scheint, dass Teile der Menschheit diese bekannten Zusammenhänge in eigenen schmerzhaften Erfahrungen erleben müssen, um von solchen Scheinhoffnungen geheilt zu werden. Der Preis ist, wie wir auch aus der Geschichte wissen, immens hoch und belastet das kollektive Gewissen auf Generationen hinaus.
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