Sonntag, 8. November 2020

Die Krisen und der Sinn

 Gemeinsinn  und Hintersinn

Der niedere oder der gemeine Sinn ist etwas, was wir aus persönlichen Motiven den Ereignissen anhängen. Sinn macht, was uns weiterhilft, was uns einen Erfolg gibt, was uns Freude bereitet, was uns mit anderen verbindet usw. Es gibt auf dieser Ebene die wichtige Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen. Wir können egoistischen und kurzfristigen Sinn darin finden, anderen zu schaden und uns auf ihre Kosten materiell oder emotionell zu bereichern. Der Sinn solcher Handlungen liegt darin, innere Ängste und Frustrationen zu überwinden. Er dient nur einem selber, während er anderen etwas wegnimmt. Das gute Handeln dagegen dehnt den Sinn vom Selbst zum Anderen aus. Es bereichert beide und wirkt wechselseitig.

Weiters gibt es noch so etwas wie einen Hintersinn, den wir mit psychologischen Methoden ausforschen können. Das Unbewusste hat seine eigene Sinnagenda, die der offiziellen Sinngebung nicht immer entspricht. In der psychologischen Innenerforschung oder mit therapeutischer Hilfe finden wir heraus, welche unbewussten Absichten unsere Handlungen antreiben, vor allem jene, die wir als störend, selbstwertschädigend oder sozial problematisch erleben. Indem wir den Hintersinn verstehen, lernen wir uns selber besser kennen und erweitern unsere Handlungsmöglichkeiten. Z.B. erkennen wir, dass wir unfreundlich zu einem unserer Kinder waren, weil wir von den eigenen Eltern in einer ähnlichen Situation abwertend behandelt wurden.

Der höhere Sinn

Einen höheren Sinn suchen wir, wenn uns gravierende Ereignisse, die uns in der Realität begegnen, unverständlich sind oder große Probleme bereiten, mit denen wir hadern und denen wir uns hilflos ausgeliefert fühlen. Vielen Menschen geht es während der gegenwärtigen Covid-Krise so – es gibt keine Verursacher, die einfach ausgeschaltet werden können, keine Strategien, die die Bedrohung restlos ausmerzen, und wir müssen massive Veränderungen und Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen hinnehmen. 

Das zweite Thema, das dieser Tage in unserem Land präsent ist, ist der Terror, durch den völlig sinnlos Leben ausgelöscht werden, Verletzungen und Traumatisierungen entstehen. Manche Augenzeugen berichten, dass sie dazu auch andere Erfahrungen machten: Über die enorme Hilfsbereitschaft, über gegenseitige Unterstützung und geduldiges Annehmen der Situation bei vielen, die diese Nacht in irgendwelchen Kellern oder verbarrikadierten Lokalen zubringen mussten. Ein Betroffener sagte, dass ihn diese Erfahrungen im Erkennen des Guten im Menschen gestärkt haben – also eine Sinnstiftung aus dem Zentrum der Sinnlosigkeit. Die Sinnfrage führt in Paradoxien.

Wenn das, was geschieht, auf der individuellen Sinnebene jedem Sinn widerspricht, dann stellt sich die Frage, ob es nicht auf einer höheren Ebene einen Sinn gibt, der es erlaubt, die widrigen Umstände zu verstehen und mit ihnen in Frieden zu kommen.

Religiöse Sinnsysteme

Viele religiösen und spirituellen Lehren bieten einen solchen höheren Sinn an, der die Widersprüche des praktischen Lebens überwinden soll. Begnüge dich nicht mit dem, was dir in deiner kleinen Lebensperspektive mit ihrem Auf und Ab Sinn oder Sinnleere gibt, sondern suche den Sinn von allem in einem großen Ganzen: Das ist eine Perspektive, mit der viele Sucher auf den Weg gehen. Der Sinn kann z.B. darin gesehen werden, dass es einen Gott gibt, der das alles so eingerichtet hat und für den Sinn garantiert, auch wenn wir mit unserem beschränkten Geist nicht immer kapieren, worin er gerade liegt. Wir verlassen uns auf eine höhere Instanz, die uns einen höheren Sinn verspricht. 

Hier liegt das Problem in einer gewissen Redundanz. Gott ist die Sinninstanz. Alles, was wir nicht verstehen, versteht Gott. Wenn wir an ihn glauben, wird der Sinn mitgeliefert. Wir glauben also auch an die Sinnhaftigkeit der Welt mit all ihren Vorkommnissen, sobald wir an Gott glauben. Nichts und niemand jedoch garantiert uns, dass es diesen Gott überhaupt gibt. Er ist also nur eine Konstruktion unserer Glaubensimagination, und ebenso konstruieren wir den höheren Sinn, der von dieser Instanz beigestellt wird. Der höhere Sinn hängt also an der Existenz Gottes, die wir nur durch den Glauben sicherstellen können. Manche Theologen sprechen deshalb davon, dass sie glauben, weil es absurd ist. 

Außerdem löst der Gottesglaube die Frage nach der Akzeptanz und Sinnfindung in einem ganz wichtigen Bereich nicht: Wie ist es mit dem Bösen, das in der Welt geschieht, warum verhindert die göttliche Macht nicht jede Unmenschlichkeit? Was ist der Sinn in Mordanschlägen oder in Epidemien, die Menschenleben dahinraffen? Warum lässt ein Gott die Übel zu? Da braucht es umständliche und unbefriedigende Konstruktionen, eine weise und liebende Gottesvorstellung mit dem äußerst mangelhaften Zustand seiner Schöpfung in Einklang zu bringen. Gerade das Zurechtkommen mit den großen Herausforderungen der Menschheit und des individuellen Lebens erfordert intellektuelle Anstrengungen und das Begehen von verschlungenen Umwegen, bei denen der Sinn erst recht wieder auf der Strecke bleibt.

Es stellt sich zusätzlich die Frage, ob wir in der Sinnerwartung, die wir an Gott richten, nicht einem Autoritätsglauben folgen, der uns in der Kindheit selbstverständlich geworden ist. Als Kinder waren unsere Eltern die Haupt- und Zentralsinnstifter, gewissermaßen das Zentralorgan der Wahrheit und Sinnhaftigkeit wie die Parteizeitungen in Diktaturen. Andere konkurrierende Sinninstanzen sind erst später aufgetaucht. In unserer Unerfahrenheit haben wir anfangs alles für bare Münze genommen, was uns die Eltern beigebracht haben, ob es nun der Wirklichkeit und der emotional-sozialen Stimmigkeit entsprochen hat oder nicht. Es war jedenfalls eine relativ geschlossene Welt, in der die Sinnhaftigkeit von den Eltern garantiert war und die wir uns zurückwünschen, wenn wir als Erwachsene mit Unsicherheiten konfrontiert sind. Andererseits beinhaltet das Erwachsenensein die Fähigkeit, mit Ungewissheit zurechtzukommen. Wir neigen zur Regression, zum Flüchten ins Kindsein, wenn wir mit der Komplexität der erwachsenen Welt nicht zurechtkommen. Wir sind nie vollkommene Erwachsene und sollten uns dafür auch nicht verurteilen. Wir sollten uns allerdings bewusst sein, in welchem mentalen Zustand wir uns jeweils befinden, damit wir uns nicht selber täuschen und unsere Mitmenschen verwirren. 

Aus diesem Grund ist nichts falsch an einem Gottesglauben, wie auch am Nicht-Gottesglauben. Wir sollten uns bloß über die Motive im Klaren sein, die das Bedürfnis nach dem Glauben hervorbringt. Brauchen wir eine äußere Sinninstanz, die dem, was uns begegnet, einen höheren Sinn verleiht, dann können wir sie für den Zweck nutzen, uns mit Widrigkeiten auszusöhnen. Nutzen wir diese Sinninstanz nicht, so können wir auf anderen Wegen in Frieden mit der Wirklichkeit kommen.

Die Mystik und der Sinn

Der mystische oder spirituelle Zugang zu dieser Frage ist prinzipiell von religiösen Ansätzen verschieden. Religionen bieten Modelle oder Konstruktionen an, die aus etablierten Traditionen stammen, die meistens von göttlichen oder gottähnlichen Lehrern begründet wurden. Das Glauben selber ist zwar immer ein individueller Akt, aber bezieht sich auf vorgegebene Formen. Dazu kommt der Aspekt der Gemeinschaft der Gläubigen, die den vorgegebenen Modellen eine aktuelle soziale Unterstützung beistellt.

Beim genuin spirituellen Zugang geht es um die Bewusstheit im Moment, in dem, was jetzt gerade ist. Dieses jeweils aktuelle Erleben ist in sich sinnhaft, es braucht deshalb keine äußere Sinngebung oder zusätzliche Sinnperspektive. Im Moment der Erfahrung ist alles so, wie es ist, weder höher noch niedriger in seiner Sinnhaftigkeit. Jeder Moment ist einem anderen gleichwertig. 

Natürlich können wir diesen Grad an Bewusstheit nicht dauernd halten und fallen leicht durch Gewohnheiten, Ablenkungen und äußere Einflüsse heraus, die uns mit Sinnfragen konfrontieren. Wir fallen zurück in das Suchen nach Konzepten und Modellen, die uns verstehbar machen, was so schwer zu akzeptieren ist. Wir klammern uns an äußere Hilfen und Unterstützungsgerüste, um die Wirklichkeit annehmen zu können und handlungsfähig zu bleiben. 

Wir sollten uns in solchen Phasen nur darüber bewusst sein, dass wir gerade nicht unser volles erwachsenes Lebenspotenzial verwenden, sondern auf eine frühere Stufe unserer inneren Entwicklung zurückgegangen sind. Als Erwachsene benötigen wir keinen zusätzlichen Sinn, weil alles, was geschieht, seinen Sinn in sich trägt. Wir tun, was zu tun ist, nicht, weil es den Sinn vermehrt, sondern weil es aus unserem Inneren kommt und unserer Wirklichkeitserfahrung entspricht. Wenn uns unangenehme Erfahrungen begegnen, wenn wir uns mit Katastrophen und Krisen auseinandersetzen müssen, schauen wir darauf, was Abhilfe schaffen kann und setzen uns dafür ein statt nach dem Sinn zu suchen.

Was geschieht, im Außen und im Inneren, ohne oder mit unserem Zutun, braucht keinen Sinn. Sinn benötigen wir dann, wenn wir mit dem, was geschieht, in Zwiespalt geraten, indem wir nicht verstehen können und akzeptieren wollen, was uns die Wirklichkeit präsentiert. 

Zum Weiterlesen:

Vom Anfang und vom Ende der Sinnfrage

Krisenängste und ihr Jenseits


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