Ideologien der Schuldzuweisung
Es gibt verschiedene Strategien, mit dieser Diskrepanz umzugehen. Eine besteht darin, Armut mit individueller Schuld zu verknüpfen. Sowohl Neoliberale wie auch Konservative sind sich in diesem Punkt einig: Wer arm ist, ist selber schuld. Konservative christlicher Prägung sehen es allerdings als Verpflichtung aus dem Gebot der Nächstenliebe und nach der Predigt von Jesus, für Arme zu sorgen; Neoliberale erwarten sich dagegen nur vom möglichst unbehinderten wirtschaftlichen Fortschritt die langfristige Beseitigung der Armut. Je mehr wirtschaftliche Freiheit, desto mehr Jobs, desto weniger Armut, so geht das neoliberale Kalkül. Und weiter: Wer wirklich arbeiten will, wird auch was finden; wer nichts findet, strengt sich zu wenig an und ist selber schuld, wenn er verarmt. Und wer sich nicht anstrengt, verdient auch kein Mitgefühl.
Der Geist des protestantischen Reformers Jean Calvin und zugleich das Credo rechtskonservativer Millionäre weht also noch immer durch solche Debatten: Reichtum ist Resultat von harter Arbeit, Armut der „Lohn“ für Faulheit. Wir wissen freilich längst, dass die These nicht stimmt. Reich wird man vor allem durch reiche Eltern. Es gibt Menschen, die reich sind und hart arbeiten, während andere ihren Reichtum verfaulenzen. Es gibt arme Menschen, die „es schaffen“ und sich einen beträchtlichen Reichtum erarbeiten. Es gibt viele, viele arme Menschen, die hart arbeiten und es nicht zu Reichtum bringen („working poor“).
Das Leben erschafft alle möglichen unterschiedlichen Schicksale und Lebensbahnen, und die calvinistische Ideologie verkürzt sie auf zwei Beispiele, um daraus eine Ideologie zu zimmern. Deren Zweck ist klar: den eigenen Reichtum zu rechtfertigen und gegen („linkslinke“ – nach rechtspopulistischer Diktion) politische Umverteilungsideen abzusichern. Das Problem der Armut wird der alleinigen Verantwortung der Betroffenen überlassen, womit alle sozialen oder karitativen Programme obsolet und gefährlich, weil leistungsfeindlich, gebrandmarkt werden können.
Was man genau unter Armut verstehen soll, ist unter Experten umstritten. Viele unterschiedliche Faktoren spielen zusammen. Die Wurzeln von Armut sind komplex, und mit Ideologien, die mit Schuldzuweisungen arbeiten, kommen wir nicht weiter, wenn es darum geht, die Armut zu verringern. Das sollte eigentlich das Anliegen aller Menschen sein, die an einer menschenwürdigen Gesellschaft interessiert sind. Denn Armut, die mit ständiger Überlebensangst verbunden ist, ist nicht menschenwürdig.
Manchmal scheint Armut selbstverschuldet sein: Jemand kriegt sein Leben nicht auf die Reihe, stürzt ab wegen Alkohol, Kriminalität oder Drogen usw. Wir sagen dann, ja, da ist jemand mit zu wenig Charakter gescheitert, die Person hätte mehr Willenskraft und Motivation aufbringen müssen. Aber wenn wir genauer hinschauen, merken wir, dass wir einer Vereinfachung aufsitzen. Weshalb ist jemand leichter motiviert als andere, hat mehr Ideen, Durchsetzungskraft oder Anpassungsfähigkeit? Denn die Gründe für Charaktermängel und Schwächen und damit die Adressaten für die Schuldfrage liegen genauso und unentwirrbar in der Gesellschaft wie im Individuum, ebenso wie bei denen, die stromlinienförmig ins kapitalistische Anforderungsprofil passen und folglich die Reichtümer scheffeln, manchmal mit vergleichsweise geringer Anstrengung. Wer und was ist dann wirklich schuld an Charakterschwäche 1 (beim gescheiterten Sandler) und an Charakterschwäche 2 (beim skrupellosen Unternehmenssanierer)?
Die Schuldfrage in Bezug auf die Armut hängt also vom Standpunkt des Betrachters und von seinen Voreinstellungen und Interessen ab. Sie erweist sich als völlig nutzlos, außer zur Rechtfertigung asozialer Ignoranz und zur Verachtung der Betroffenen. Manche machen die Einzelpersonen für ihr Schicksal verantwortlich, andere die Gesellschaft; im Grund eine unsinnige Alternative, weil es keine Individuen ohne Gesellschaft und keine Gesellschaft ohne Individuen gibt.
Armut verdummt
Wenn wir den Zusammenhang zwischen Armut und Intelligenz betrachten, sehen wir rasch, wie haltlos und inhaltsleer die Schuldfrage in Bezug auf die Armut ist. Die Sozialforschung hat dazu Interessantes herausgefunden: Es werden die Menschen nicht arm, weil sie weniger intelligent sind, sondern sie werden weniger intelligent, wenn sie arm sind. Ein Leben, das am Rand der Gesellschaft geführt werden muss und fortwährend vom Zusammenbruch bedroht ist, schränkt die Denkfähigkeiten ein und macht dumm. Wir wissen, dass wir unter Stress und infolge von Traumatisierungen weniger leistungsfähig sind: Kognitiv, emotional und kommunikativ. Menschen, die ihr Leben und Überleben von einem Tag auf den anderen fristen, stehen unter Dauerstress. Ihr Gehirn ist nur mehr beschränkt einsatzfähig, weil es sich auf das Vermeiden und Hinauszögern des Verhungerns konzentrieren muss.
Während Reichtum ein hohes Maß an Sicherheit bewirkt, ist Armut eng mit Angst verbunden. Reichtum erweitert die Möglichkeiten, Armut engt sie ein. Mit jeder beschränkten Einzelexistenz ist auch die ganze Gesellschaft ärmer. Alle ungenutzten konstruktiven und kreativen Potenziale reduzieren die gesamtgesellschaftlichen Möglichkeiten, flexibel auf Herausforderungen zu reagieren und neue Initiativen zu entwickeln. Wenn ein schriftstellerisches Talent unter einer Brücke endet, ohne ein Werk zu schaffen, fehlt ein sinnstiftender Beitrag, der andere Menschen und damit die Gesellschaft hätte verändern können.
Soziale Absicherung dient allen
Was ist die Lösung? Sollen wir Menschen, die arm sind, eben dumm sterben lassen? Statistisch gesehen, ist klar: Armut verkürzt die Lebenserwartung. Oder sorgen wir dafür, dass sich der Stress reduzieren kann und dadurch mehr Menschen in den Genuss eines menschenwürdigen Lebens kommen können? Eine Untersuchung bei indischen Maisbauern, die von einer Ernte im Jahr leben, hat gezeigt, dass ihr IQ vor der Ernte um 14% niedriger ist als nachher. Klarer Befund: Die Angst, bevor die Ernte beginnt, es könnte nicht fürs Jahr reichen, macht so viel Stress, dass die Intelligenz schwächer wird als sie eigentlich ist.
Wenn wir also eine Gesellschaft mit Menschen wollen, die ihre Intelligenz nutzen können – für sich und für die Gesellschaft –, dann müssen wir dafür sorgen, dass der Grundstress sinkt. Das geht nur, wenn das Überleben und das Leben aller in einem guten, wenn auch bescheidenen Rahmen gesichert wird, unabhängig von einer Leistung, die von dauernd wechselnden Anforderungen des kapitalistischen Arbeitsmarkts definiert ist. Der Armut abzuhelfen, bringt allen Nutzen, ob sie zu den Ärmeren oder den Reicheren zählen. Wir müssen folglich für ein bedingungsloses Grundeinkommen eintreten.
Das bedingungslose Grundeinkommen bedeutet nicht, dass der Staat Geschenke oder Almosen an Bedürftige gibt, wie es in früheren Zeiten der Herrscher nach seinem Gutdünken verteilte, sondern dass jedes Mitglied einer Gesellschaft einen verbindlichen Rechtsanspruch auf die Sicherung seiner Existenz hat. Es genügt also nicht, dass der Staat eine Mindestsicherung festsetzt, die dann nach Belieben der jeweiligen Regierung hinauf- oder hinabgesetzt wird, womit den Betroffenen signalisiert wird, dass ihre Absicherung von der Gnade der gerade Mächtigen abhängt.
Auch wenn – hypothetisch – irgendwann alle notwendigen Güter von Maschinen produziert, vermarktet und verkauft werden, braucht es Menschen, die die Gesellschaft bilden, die miteinander reden, spazieren gehen, spielen, lachen usw. All die Menschen brauchen ein menschenwertes Leben, sonst können sie keine funktionierenden Gemeinschaften bilden, sondern müssen danach trachten, auf Kosten anderer das eigene Leben zu sichern – wie es zu einem nicht unbeträchtlichen Teil das Leben im Kapitalismus prägt. Menschen brauchen entspannte Zeiten miteinander, um sich in erster Linie als Menschen wahrzunehmen und um sich in zweiter Linie wohlzufühlen, und dazu müssen sie von den Existenzsorgen der Überlebenssicherung befreit sein.
Ein deftiges Zitat zum Thema: Wenn Scheiße etwas wert wäre, hätten die Armen keinen Arsch. (Brasilianisches Sprichwort)
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