Freitag, 25. Dezember 2015

Bewerten im bewertungsfreien Bereich

Fraktales Gebilde
Der Psychologe Robert Kegan, Professor in Harvard, hat die Merkmale der postmodernen Theoriebildung mit drei Merkmalen beschrieben:
1.    Die Ablehnung aller Absolutsetzungen: Nach Lyotard  gibt es keine Metanarrative (oder Theorien über Theorien), die nicht selber Teilausdrücke einer besonderen Sichtweise sind.
2.    Alle sozialen und politischen Diskurse sind mit Macht oder Dominanz angereichert. Jedes Metanarrativ wird damit zum Ausdruck der Hegemonie einer sozialen und politischen Ordnung.
3.    Unterschiede: Statt zu versuchen, die erklärende oder politische Bedeutung von gegebenen Elementen einer sozialen Situation zu bewerten oder zu bevorrangen, ist festzustellen, dass es keinen klaren und überlegenen Grund gibt, einer bestimmten Position mehr Bedeutung oder Wert zuzusprechen als anderen, weil alle Bedeutungsgebungen nichts als Konstruktionen sind. (Kegan 1994,
S. 325-326)

Weiters unterscheidet Kegan zwei Wege des Postmodernismus:
1) Dekonstruktivismus: Theorien können nicht akzeptiert werden, weil sie begrenzt sind. Sie werden in ihrem Absolutheitsanspruch relativiert.
2) Rekonstruktivismus: Die  Begrenztheit der Theorien werden anerkannt, aber zur Rekonstruktion der Theorien mit dem Ziel einer vollständigen Theorie, die es freilich nie geben kann. Die Prozeduren der Wissenserzeugung werden Prozeduren der Rekonstruktion ihrer Prozeduren und werden damit generativ, ähnlich wie das Leben.

Hier fließen Bewertungen ein:  Theorien über das Erzeugen von Theorien bezeichnen sich überlegen in Vergleich zu Theorien, die das nicht machen. Denn diese sind sich ihrer Tendenzen zur Absolutsetzung nicht bewusst. Dennoch ist diese Bewertung selbst keine Absolutsetzung.
(Ebd. S. 330)

Die Postmoderne oder fünfte Ordnung in dem Modell von Kegan entspricht im Übrigen der Stufe des systemischen Bewusstseins in meinem Evolutionsmodell, das im Buch "Vom Mut zu wachsen" nachgelesen werden kann. 

Komplexität und Differenzierung


Die Zunahme an Komplexität ist eine immanente Eigenschaft der Evolution in der Natur und wirkt in ähnlicher Form in der kulturellen Evolution der Menschheit. Dadurch entsteht die Eigentümlichkeit, dass die komplexere Form die weniger komplexe versteht, denn sie enthält diese in sich, umgekehrt aber nicht, denn streng genommen, weiß sie nichts von ihr; oder: sie hat die Organisationsprinzipien der höheren Stufe noch nicht entwickelt und kann deshalb die dort herrschenden Abläufe nicht verstehen. Ein Regenwaldbewohner kann die Regeln, die in einer Universität herrschen, nicht verstehen, während ein Kulturanthropologe die Regeln der Universität und die der Regenwaldbewohner verstehen kann.

Die Zunahme an Komplexität wird durch den Prozess der Differenzierung hervorgerufen, der im Großen und Ganzen nicht umkehrbar ist. Im Kleineren gibt es Rückentwicklungen, die sich aber im großen Trend wieder ausgleichen. Das Leben kann nur als Negentropie verstanden werden, wie schon Ernst Schrödinger festgestellt hat. (Negentropie heißt, dass Ordnungen aus Chaos=Zufallsverteilung  entstehen). Da alle Lebewesen offene Systeme sind, die in dauerndem Austausch mit ihrer Umwelt stehen, brauchen sie ein großes Maß an Flexibilität, und Flexibilität benötigt ein hohes Maß an Differenzierung. Je komplexer ein System ist, desto flexibler kann es reagieren. Der Mensch ist ein Beispiel dafür. Aufgrund seiner komplexen Intelligenz können wir mittlerweile sogar zumindest zeitweise auf dem Mond überleben.


Bewertungen im Evolutionsprozess


Eine Entwicklungsrichtung der kulturellen Evolution besteht darin, dass Bewertungen als Hindernisse für die Weiterentwicklung erkannt und deshalb zunehmend relativiert werden. Wer bewertet, stellt den eigenen Standpunkt als überlegen gegenüber dem konkurrierenden dar und übt damit Macht aus. „Meine Theorie ist richtiger als deine.“ Solche oft implizit vorgenommenen Annahmen, die als Wirklichkeiten dargestellt werden, werden als Ideologien enttarnt: als Theorien über die Wirklichkeit, die von eigenen Machtinteressen bestimmt sind und deren Durchsetzung dienen. Z.B. diente die Annahme der Überlegenheit der weißen Rasse über die anderen der Rechtfertigung der Versklavung Angehöriger anderer Rassen und der Ausbeutung  von deren Ländern.

Das ist die Aufgabe des dekonstruktiven Prozesses für die weiteren Differenzierung: Die Wirklichkeitskonstruktion wird auf das zugrundeliegende Interesse zurückgeführt und damit in ihrer Erkenntniskraft desavouiert. Sie taugt nicht mehr als Beschreibung der Wirklichkeit, sondern nur als Herrschaftsinstrument. Damit kann die Differenzierung weitergehen, weil ein Hindernis benannt ist und umgangen werden kann.


Reflexives Wissen ist kein Herrschaftswissen


Die kulturelle Entwicklung beinhaltet die Zunahme des Verständnisses für die Notwendigkeiten und Erfordernisse dieser Entwicklung. Die Einsicht in die Natur der Prozesse, was sie weiterbringt und was sie behindert, führt zu einem Metawissen, das nicht den Charakter einer Ideologie hat. Sie ist nicht von einem partikularen Interesse erzeugt, sondern stammt aus der Reflexion über den Ablauf der menschlichen Geschichte.

Auch aus diesem Standpunkt wird eine Bewertung vorgenommen. Andere, weniger komplexe  Positionen werden auf Inkonsistenzen untersucht, auf Widersprüche und Verkürzungen. Die Interessen, die sie bedienen, werden ebenso transparent gemacht wie die Ängste, die sie lenken. Die Bewertung bezieht sich auf die strukturellen Unterschiede und ist begründet in dieser Differenz.


Deshalb muss jemand, der die Menschenrechte vertritt, jemand anderen, der sie missachtet, abwerten. Wer Menschenrechte nicht achtet, befindet sich auf einem einfacheren Organisationsniveau. Es ist zwar aus komplexerer Sicht verständlich, warum jemand Menschenrechte nicht akzeptiert, doch kann das nicht gutgeheißen werden, weil es sonst das Organisationsniveau, das schon erreicht wurde, in Frage stellen würde. Da es in vielfältiger Hinsicht einem einfacheren Niveau überlegen ist, muss sein Bestand gesichert werden. Dazu sind Bewertungen notwendig. Sie sind jedoch immer reflexiv, indem sie sich nicht auf Personen und deren Handlungen beziehen, sondern auf die Werte, die dahinter stehen, und diese dahingehend prüfen, ob sie dem allgemeinen Entwicklungsprozess dienen oder ihn behindern.

Die Positionen von Rechtsparteien oder fundamentalistischen Religionen  zeichnen sich durch Einfachheit und leichte Verständlichkeit aus. Sie münzen Komplexität in schlagkräftige Formeln um und reduzieren vielschichte Probleme auf einfache Nenner. Bei vielen Menschen erzeugt die Vereinfachung den Eindruck von Kontrolle und Handlungsfähigkeit und wirkt deshalb angstverringernd. 

Aus der Position einer fortgeschrittenen Komplexität werden solche Ansichten in ihrer ideologischen Färbung durchsichtig. Sie drücken partielle Interessen aus und wollen diesen im Machtgefüge zum Durchbruch verhelfen. Sie werden aber der Vieldimensionalität der Wirklichkeit nicht gerecht und stehen zudem dem Fortschritt in der Evolution im Weg, sind also ethisch zu hinterfragen.


Der innere Sinn der Entwicklung


Diese reflexive Bewertung impliziert die Annahme, dass der gesamte Prozess der Evolution einen inneren Sinn hat, eine Entwicklungslogik, die in eine Richtung geht, die allen Menschen gleichermaßen dient und dem entspricht, was die Menschheit als ganze will. Diese Richtung gilt nicht die Erfindung einer Person oder einer Interessensgruppe, sondern als eine Grundgegebenheit innerhalb der Differenzierung der Wirklichkeit zu mehr Komplexität. Es geht also um die Grundentscheidung, den Evolutionsprozess als in sich gut und sinnvoll einerseits oder als entweder richtungslos, zwischen Gut und Böse schwankend oder sich zunehmend verschlechternd andererseits zu beschreiben.


Diese Grundentscheidung hat zwei Prüfsteine: Der eine bemisst daran, wie weit die Wirklichkeit mit der Entscheidung verstanden werden kann: Können wir mehr über die Wirklichkeit erfahren, wenn wir annehmen, dass ihr Entwicklungsprozess in eine sinnvolle Richtung geht oder wenn wir annehmen, dass alles zunehmend schlechter und sinnloser wird, oder, was letztlich gleichbedeutend mit letzterer Position ist, dass es keine wie immer geartete logische Richtung in der Entwicklung gibt.

Die zweite Prüfung bezieht sich auf die Ethik: Was wollen Menschen in ihrem Leben, für sich und miteinander? Sind sie vollkommene Untertanen ihres egoistischen Überlebensstrebens oder wollen sie statt dessen den gemeinsamen Nutzen und werden sie nur egoistisch, wenn sie von Ängsten überwältigt sind? Stimmt die erstere, so ist der Mensch des Menschen feind und es ist erklärungsbedürftig, warum es überhaupt gelingen kann, dass die Nachkommen der Menschen überleben, dass die meisten Gemeinschaften in Frieden leben und das Kriegführen die Ausnahme darstellt usw. Ohne irgendeine Form des „kategorischen Imperativs“, also einer Grundorientierung für eine verallgemeinerbare, also für alle verstehbaren und anerkannten Ordnung, ist das Funktionieren von menschlicher Gemeinschaft, von sozialen Gruppen und ökonomischen Abläufen, von kommunikativen Konfliktlösungen und geteilten Entscheidungsfindungen so unwahrscheinlich, dass die gesamte menschliche Geschichte zu einem Zufallsprodukt wird. Der Erklärungswert dieser Grundausrichtung geht damit gegen Null und der Erklärungsaufwand ins Unendliche. 


Die sowohl elegantere wie auch dem Gesamten des Menschen entsprechende Auffassung ist nach meiner Auffassung die Theorie, dass der Mensch von sich aus das Gute anstrebt und auf ein Wachstum in Komplexität und Differenzierung angelegt ist, das jedes Leben zu einem Abenteuer werden lässt und einen Zuwachs an Weisheit beinhaltet. Wir sind allerdings nicht davor gefeit, auf weniger komplexe Formen unserer Innenorganisation zurückzufallen und dann zu unleidlichen bis grausamen Zeitgenossen zu werden. Das hat aber immer tieferliegende Ursachen in unserer eigenen Geschichte und stellt eine Notfallsreaktion dar. In Situationen, wo wir uns hilflos vorkommen und von Angst überwältigt werden, reagieren wir mit unseren Überlebensstrategien, die rücksichtslos egoistisch ausgerichtet sind. Wir sind immer in der Lage, wieder zu uns selber zurückzufinden, zu einem Zustand, in dem wir mit anderen und uns selbst gut auskommen wollen, in dem wir gemeinschaftliche Lösungen für Probleme und Konflikte suchen und Menschen um ihrer selbst willen lieben.

Selbst die Hollywood-Blockbuster gehen mehr und mehr in diese Richtung. Zwar ist das Gut-Böse-Schema noch immer die Hintergrundfolie für die meisten Kassenschlager, aber ab und zu wird zumindest angedeutet, dass die Bösen so böse sind, weil ihnen irgendwann Böses widerfahren ist. Damit ist sogar in diesem Bereich ein Fortschritt in der Komplexität und Differenzierung zu beobachten, und damit im Publikum, dem ein ebensolcher Fortschritt zugetraut wird.


Literatur:
Robert Kegan: In Over Our Heads. The Mental Demands of Modern Life. Harvard University Press: Cambridge, Massachusetts 1994 

Zum Weiterlesen: 
Bewerten: Anmaßung und Beziehungsstörung
Friede ist nicht das Gegenteil von Krieg 
Die Weisheit in der Wellenform 
Ist der Mensch von Natur aus egoistisch oder sozial?
Das Gute und das Böse 

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