Donnerstag, 19. November 2020

Krisenängste und ihr Jenseits

Krisen lösen Ängste aus. Das ist wohl klar, sonst würden wir Krisen nicht als Krisen erleben. Durch die ausgelösten Ängste werden äußere Problemsituationen zu Krisen im Kopf. 

Interessant scheint mir weiters, welche spezifischen Ängste bei verschiedenen Menschen durch die gleiche objektive Schwierigkeit getriggert werden. Man stößt ja angesichts der herrschenden Pandemie auf unterschiedliche Angstprofile. Es handelt sich dabei, nüchtern und profan betrachtet, um Varianten der Todesangst, die uns allen in den Knochen sitzt. In Hinblick auf die aktuelle Viruskrise entwickeln wir Menschen unterschiedliche Fantasien darüber, wie wir am ehesten umkommen könnten. Alle diese Ängste haben einen realen Bezugspunkt, sind aber oft aus tieferliegenden Quellen emotional zusätzlich aufgeladen.

Für die einen steht im Vordergrund, dass sie direkt von der Krankheit betroffen und dahingerafft werden könnten; für die anderen, dass sie angesteckt werden und dann andere anstecken könnten; für die nächsten, dass sie Zeuge einer Massenhysterie werden und die Menschen um sie herum verrückt werden; andere wiederum befürchten das Ende der Rechtsstaatlichkeit und/oder der demokratischen Freiheitsrechte; wieder andere fürchten, dass sie die Einschränkung ihrer Lebensmöglichkeiten nicht aushalten werden; noch andere haben die Angst, wegen dem Verlust an Sozialkontakten und körperlicher Nähe zu vereinsamen; viele befürchten den Verlust ihrer wirtschaftlichen Existenz oder mangelhafte Lebenschancen wegen Bildungsverlusten usw. Natürlich gibt es vielerlei Querverbindungen und Kombinationen dieser Angstprofile, wodurch sich die Angstbelastungen individuell potenzieren können.

Viele Ängste – ähnliche Strategien

Der Vielzahl an Angstszenarien, die durch die Krise ausgelöst werden, stehen recht ähnliche Umgangsformen oder Bewältigungsstrategien dieser Ängste gegenüber. Der erste Schritt besteht darin, dass die Krise und all die Phänomene, die mit ihr einhergehen, mit der spezifischen Angst verknüpft und assoziiert werden. Das führt dazu, dass jede Erwähnung der Krise oder jeder Gedanke darüber sofort die entsprechende Angst hochbringt. 

Als nächstes versucht jeder Geängstigte, Verbündete zu finden, die ihm in der Angstsituation beistehen, weil sie die Gefahrenquelle ähnlich sehen. Für diesen Zweck sind deshalb nur jene geeignet, die eine gleiche oder ähnliche Angstprägung haben. Gegenseitig kann man sich bestätigen, dass die eigene Angst berechtigt ist. Diese Übereinkunft gibt einerseits ein wenig Sicherheit: Ich bin nicht alleine mit meiner Angst. Andererseits hält sie die Angst aufrecht, die ja das Bindeglied in der Angstverbindung darstellt.

Dazu kommt das selektive Sammeln von Informationen, die den Bedrohungscharakter der eigenen Situation belegen und stützen. Die Medienlandschaft ist dafür ideal geeignet, weil sie für jede Angstprägung eine Menge von bestätigender und verstärkender Informationen bereitstellt. Welche Einstellung wir auch immer zur Pandemie und zu den Maßnahmen haben, die von den jeweiligen Behörden getroffen haben – wir können zu jeder Variante Konvolute an Berichten, Datenaufbereitungen, Stellungnahmen, Expertenmeinungen usw. sammeln. Wieder gewinnet jeder für sich und seine Meinungsgruppe ein Stück an Sicherheit dazu: So viele prominente oder szenebekannte Personen sind der gleichen Meinung und teilen das Angstprofil, also ist die Angst sinnvoll und sollte aufrechterhalten bleiben. 

Die Suche gilt auch Informationen, die die Situation noch schlimmer darstellen, als wir selber es glauben. Wir wollen uns keinen Illusionen hingeben und uns auf die ärgsten vorstellbaren Konsequenzen einstellen. Dadurch wird zwar die Angst stärker, aber das Gefühl der Zugehörigkeit in der Meinungsgruppe ebenso. In dem Erleben der Angst hilft uns das weiter. Wir glauben dann, über das ganze Ausmaß der Bedrohung informiert zu sein und brauchen uns nicht der Massivität unserer Angst zu schämen.

Die Informationssuche und Wissenssammlung, wenn sie den eigenen Ängsten zweckdienlich sein soll, muss selektiv sein. Es geht auch gar nicht anders, weil niemand die Gesamtheit der zur Verfügung stehenden Information überblicken kann. Allerdings heißt Selektivität hier, dass gesucht wird, was die eigene Einstellung bestätigt und verstärkt und ausgefiltert wird, was ihr widerspricht.

Es sind also wirksame Filter notwendig, die alles ausblenden oder niederargumentieren, was der eigenen Einschätzung und damit dem eigenen Angstprofil widerspricht. Gegenansichten werden relativiert, für obsolet oder als gekauft taxiert, die Personen, die sie vertreten, werden abgewertet und für korrupt oder ignorant erklärt usw. 

Die Angst kann nur ernstnehmen, was eindeutig, einfach und spezifisch zum Angstprofil passt und es bestätigt. Komplexitäten, Mehrdeutigkeiten und Vorläufigkeiten im Wissen verstärken die Unsicherheit und steigern offensichtlich die Bedrohtheitsgefühle. Sie müssen mit einem Meta-Filter ausgesondert werden. 

Auf diese Weise entstehen Meinungsblasen, die zugleich Angstblasen sind und in denen sich Menschen mit gleicher Angstprägung treffen und sich über die Bewertung und Einschätzung der Gefahrenlage austauschen. Die Blasen tragen dazu bei, dass das Sicherheitsgefühl im Inneren bestärkt und das Angstgefühl nach außen gesteigert wird. 

Das Außen ist dabei nicht nur die Krise, sondern wird auch durch die anderen Blasen gebildet, die mit ihren abweichenden Ansichten die Problematik verschärfen und deshalb bekämpft werden müssen. Deshalb haben sich regelrechte Propagandakriege in den diversen Medien entwickelt, nach dem Sandkistenmotto: Mein Experte ist besser als deiner. Mein Experte hat die Wahrheit, deiner ist von dunklen Mächten besessen und gelenkt oder einfach inkompetent.

Angst und Wut

Jede spezifische Angst steht in Verbindung mit einer spezifischen Wut. Der Angstbefallene fühlt sich ausgesetzt, ohnmächtig und hilflos. Die Aktivierung der Wut bringt die Überlebenskraft zurück und führt zum Eindruck, Einfluss auf die Situation nehmen zu können und etwas gegen die Bedrohung tun zu können. Angst lähmt, Zorn mobilisiert. Die Wut meldet sich mit dem Anspruch, die Quelle der Angst zu vernichten, um für immer die Angst zu bannen. Psychodynamisch betrachtet ist sie aber nur eine Kompensation der Ohnmacht, die mit der Angst verbunden ist. Denn nachdem die Wut Raum erhalten hat und sich ausdrücken konnte, sobald also die Wutenergie verpufft ist, tritt schnell wieder die Angst auf den Plan, verbunden mit dem Ohnmachtsempfinden. 

Die Wut wird oft eingesetzt, um andere aufzurütteln und auf die Gefahr aufmerksam zu machen, wie jemand, der als einziger einen Brand wahrnimmt und allen schleunigst mitteilen muss, um die Katastrophe abzuwenden. So fühlt sich die Energie um viele Meldungen, Diskussionen, Demonstrationen und individuelle Ausbrüche an, die im Rahmen der Corona-Krise auftreten: In der Umgebung sind lauter Idioten, die nicht erkennen, worum es wirklich geht und wo die eigentliche Gefahr schlummert.  Die Aufgerüttelten sollen dazu gebracht werden, sich der eigenen Angstgruppe, der eigenen Meinungsblase anzuschließen und sie zu stärken, bis sie so mächtig ist, dass sie das Ruder in die richtige Richtung umreißen kann.

In der Blase gibt es keine wirkliche Entspannung, denn solche Blasen leben davon, dass sich ihre Mitglieder in ihrer Angst bestätigen. Was es dort gibt, ist eine Klarheit über die Guten und die Bösen, also jene, die die Bedrohung verkörpern und Angst machen, und jene, denen vertraut werden kann, weil sie die Angstprägung teilen. Die Blasenmitglieder müssen freilich auch darauf wachsam sein, dass die Ängste im engeren Bereich geteilt werden, dass also alle gleich ticken. Ein gewisses Maß an Misstrauen gehört zum Grundbestand jeder Blase – Misstrauen nach innen und nach außen.

Jenseits der Blasen

Die Ängste, Schamgefühle und Wutemotionen, die im Zusammenhang mit der laufenden Krisensituation auftreten, haben ihre Wurzeln in der Lebensgeschichte der betroffenen Menschen. Voll erwachsene Menschen reagieren auf Krisen mit der Bereitschaft, dort zu handeln, wo es sinnvoll und notwendig ist, dort aufmerksam zu bleiben, wo nichts zu tun ist, aber der Überblick wichtig ist, um zu erkennen, wann etwas zu tun ist, und dort in Gleichmut geschehen zu lassen, was geschieht, wo die eigene Handlungsmöglichkeiten nicht wirken können.

In diesem Sinn wird es wohl wenige voll erwachsene Menschen geben, aber viele, die über ihre Ängste hinauswachsen und ihr Leben nicht von ihnen dominieren lassen wollen. Für sie gilt der Weg, die Ursprünge ihrer Ängste aufzuspüren, zu verstehen und zu integrieren. Jede Angst lähmt, jede verstandene und überwundene Angst gibt uns unsere Handlungsfähigkeit zurück. Wenn wir  die Selbstverantwortung für uns selbst zurückgewinnen, brauchen wir keine Ängste, die unseren Blick, unser Denken und unser Tun beeinträchtigen, und keine Blasen mehr, in denen von der Pflege von Ängsten und Filtern gelebt wird. 

Je weniger Ängste uns blockieren, desto mehr Teile der Wirklichkeit können wir in unser Weltbild einbauen und dadurch unsere Erkenntnis- und Handlungsfähigkeiten ausweiten. Umschließen wir unsere Ängste mit der liebevollen Energie unseres Herzens, so weiten wir den Raum unseres Mitgefühls für uns und für alle. Die Krise bleibt dann im Außen und wird mit unserer Kraft bewältigt, in der Zeit, die es braucht.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen