Donnerstag, 5. November 2020

Terror: Eine Chance zum Wachsen oder zum Schrumpfen

Die Situation nach dem Terroranschlag erlaubt zwei Möglichkeiten: Die eine liegt darin, den Ängsten zu folgen und sich zu einzukrampfen. Es ist die Möglichkeit, sich mehr vom Außen abschließen und die Verteidigungsmechanismen hochfahren, die Kampfenergien zu bündeln und aggressiv gegen die Feinde vorgehen oder sich hinter den Mauern zu verschanzen und die Zugbrücken hochzuziehen. Niemand soll mehr herein, der im Innenraum Unsicherheit verbreiten könnte und alle müssen raus, die möglicherweise Böses im Sinn führen

Es geht bei dieser Möglichkeit darum, den eigenen Hass zu kultivieren, der auf jene, die ihren Hass in Gewalttaten ausdrücken, gerichtet ist. Wir begeben uns mit dieser Haltung auf die gleiche Ebene wie die Täter, weil wir meinen, es wäre der einzige Ausweg aus der Opferrolle, selber zum hassgetriebenen Täter zu werden. Scheinbar entkommen wir der Schockstarre nur dadurch, dass wir die eigene Wut und Zerstörungsenergie aktivieren.

Die zweite Möglichkeit liegt darin, in die Öffnung zu gehen. Statt sich abzuschotten und das Bedrohliche auszuschließen oder zu bekämpfen, wird es eingeschlossen und bekommt einen Platz. Das ist der einzige Weg, um der Bedrohung die Übermacht zu nehmen, die es durch seine Außenposition hat. Alles, was uns von außen bedroht, gibt es im Inneren genauso, das gilt sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Den Terror gibt es im Innenraum und er wird präsent, sobald er sich über Abgrenzung und Hass äußert. 

Das „Unmenschliche“ verliert seinen Schrecken, indem es ins Menschliche aufgenommen wird, indem deutlich wird, dass es eine Ausdrucksform ist, die jedem Menschen bekannt ist. Menschliches kann deshalb nie unmenschlich sein, sondern höchstens unverständlich und unglaublich. Es kann unser Begreifen übersteigen und uns an Grenzen des Erträglichen führen. Das Einlassen auf das Schreckliche nimmt ihm jedoch den Horror und reduziert es auf eine randständige Ausdrucksweise extremer menschlicher Not und Angst.

In jeder Unmenschlichkeit liegt die Chance, die Menschlichkeit zu vermehren. Das ist vielleicht ein übermenschlicher Anspruch, aber wir sollten uns mit ihm konfrontieren und ihn nicht einfach als illusorisch oder blauäugig wegwischen. Wir sind zu mehr fähig, gerade in der Situation einer extremeren Herausforderung. Wir können solche Situationen nutzen, um zu zeigen, was wir wirklich wollen und wohin wir uns ausrichten möchten. Wir können sie nutzen, um uns klarzumachen, wie weitgespannt das Menschliche in seinen Äußerungsformen ist und wie wir jede Form der Ausgrenzung überwinden können, in uns selber und in der Gesellschaft. Wir können erkennen, dass wir selber wachsen, je mehr wir das Menschliche in allen Formen annehmen.

Der österreichische Bundespräsident sagte anlässlich des Terrorattentats in Wien: „Hass kann niemals so stark sein wie unsere Gemeinschaft in Freiheit, in Demokratie, in Toleranz und in Liebe.“ Hass gibt es nur in der Ausgrenzung, Abwertung und Demütigung. Die Gemeinschaft im Geist der Liebe schließt den Hass nicht aus, sondern gibt ihm einen respektierten Platz. Bei diesem Respekt geht es nicht um die Billigung des Hasses, es geht nicht darum, ihn zu nähren und aufzublähen, sondern darum, ihn in Beziehung zu setzen mit den anderen Kräften und Energien, die ebenso da sind. Was den Hass stark macht, ist die Isolation, was ihn schwächt, ist die Einbindung und das Verstehen des Unverständlichen. 

Wir erleben eine Situation, die es erlaubt, über sich hinauszuwachsen und weiter zu werden oder sich einzuigeln und zu schrumpfen. Wir haben die Wahl, als Einzelpersonen und als Gesellschaft.


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