Dienstag, 9. Mai 2017

Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?

Steuern wir auf eine gespaltene Gesellschaft zu: Der eine Teil glaubt an „alternative  Fakten“, also an alles, was konservative, nationalistische, populistische Medien einschließlich der entsprechenden Verschwörungstheorien verbreiten, während der andere Teil an die Aufklärung glaubt, an die Relativität von Wissen und die Kontextabhängigkeit von Information? Wird die Demokratie dafür benutzt, dass einige superreiche und skrupellose Magnaten massive Kampagnen an ausgefeilter psychologischer Manipulation auf die Wähler loslassen, sodass diese glauben, bei der Wahl für ihre eigenen Interessen einzutreten und stattdessen als Stimmvieh für die Interessen einer dünnen Schicht von Milliardären dienen? Könnte es sein, dass die pöbelnden und hasserfüllten populistischen Politiker mit ihren routinierten Lügenmanövern nur Handlanger und Mitnascher sind, im Dienst einer Finanzelite, der es nur darum geht, ihre Privilegien und ihre grenzlegale Reichtumsvermehrung abzusichern? Und dass zusätzlich dazu die globalen Machtinteressen des russischen Präsidenten, der selber mit einem geschätzten Vermögen, das dreimal so hoch ist wie das von Bill Gates, ein Mitglied im Club der Multimilliardäre ist, mitbedient werden?

Bevor der Eindruck entsteht, dass hier ein Märchen erzählt wird, dass hier eine Verschwörungstheorie nach bekanntem Muster („geheime Eliten reißen die Weltherrschaft an sich“) ausgebreitet wird, sei auf einen Artikel (aus einer Artikelserie) hingewiesen, die in der angesehenen englischen Zeitung The Guardian erschienen ist. In ihm geht die renommierte Journalistin Carole Cadwalladr der Frage nach, ob es bei der Brexit-Abstimmung zu massiven Wählermanipulationen gekommen sein kann, und sie stößt im Zug ihrer Recherchen auf erstaunliche Zusammenhänge, die nicht so einfach von der Hand zu weisen sind.

Unter dem Titel: The great British Brexit robbery: How our democracy was hijacked (Der riesige britische Brexit-Raub: Wie unsere Demokratie gekidnappt wurde) schildert sie die folgenden Erkenntnisse.  Wenn wir an den militärisch-industriellen Komplex denken, fallen uns die Rüstungsausgaben für unterschiedliche Waffensysteme ein. Waffen werden beständig weiterentwickelt, um noch mehr Zerstörung anrichten zu können. Wir übersehen dabei, dass es parallel zur plumpen Seite der militärischen Gewalt den Bereich der psychologischen Kriegsführung gibt, der sich ebenso rasant weiterentwickelt hat wie der Bereich der Waffentechnologie. Die Explosion der Informationsgesellschaft bietet hier ungeahnte Möglichkeiten, und diese wurden offenbar in den letzten Jahren zunehmend genutzt für gezielte Demokratiebeeinflussung. Es sind private Firmen entstanden, finanziert von Großkapitalisten, die mit Hilfe hochentwickelter Analysetools emotionale Profile von Wählern und Wählergruppen erstellen und diese dann mit maßgeschneiderten emotionalisierten Pseudoinformationen überschwemmen, bis deren innere Meinung geformt soweit ist, dass die Wahlentscheidung im gewünschten Sinn erfolgt.

Cadwalladr hat herausgefunden, dass die Parteien und Gruppierungen, die für den Brexit geworben haben, die Dienste von solchen Firmen in Anspruch genommen und bezahlt haben, natürlich mit Steuergeld. Es gibt sogar persönliche Freundschaften zwischen den führenden Köpfen der Anti-EU-Bewegung und den Exponenten dieser Firmen, von denen der prominenteste Steve Bannon ist, inzwischen Hauptberater von Donald Trump.

In diesem Szenario spielt Facebook eine wesentliche Rolle als Datenlieferant. Es ist diesen Elektronik-Labors offenbar gelungen, mit Hilfe von Tricks Unmengen von persönlichen Daten von Facebook zu ernten. Zugleich liefert diese Plattform die Anregung zur personalisierten Manipulation, die ja dort tagtäglich als personalisierte Werbung stattfindet. Es brauchen nur die Inhalte ausgetauscht werden: Statt der Werbung für Wickeltische oder Sonnenbrillen wird für Meinungen und Einstellungen geworben.

Das populistische Rhetorik- und Manipulationsmodell


Und dazu wird ein einfaches, aber psychologisch enorm wirksames Modell eingesetzt, das das Muster der populistischen Rhetorik darstellt: Ein gesellschaftliches Problem (z.B. die Zuwanderung) wird durch erfundene oder übertrieben dargestellte Beispiele (z.B. Zuwanderer können ungestraft Diebstähle begehen) als massive Gefahr angeprangert (z.B. Sozialleistungen und Pensionen können nicht mehr bezahlt werden, weil die Asylwerber so viel Geld kriegen). Als nächstes wird die Katastrophe und der Zusammenbruch prophezeit (z.B. alle Kirchen werden durch Moscheen ersetzt, alle Männer müssen Bärte tragen und alle Frauen Schleier). Schließlich tritt der Warner als Retter auf: Folgt mir nach, wählt meine Partei, dann wird es nicht dazu kommen, denn ich werde mit all meiner Kraft dagegen kämpfen.

Das Modell macht also aus realen Problemen fantasierte Gefahren, die in Katastrophen enden müssen, für die es nur einen Ausweg und eine Rettung gibt, nämlich die Person des Populisten, der, weil er all das erkennt, was das Volk bedroht, der einzige ist, der im Namen des Volkes sprechen darf.


Mit Hilfe dieses Modells kann das Unterbewusste der Menschen systematisch beeinflusst werden, bis Realität und Fiktion nicht mehr unterschieden werden können. Die Wahrheitssuche richtet sich nicht auf die Realität (die ist ja so komplex), sondern auf die Person des Unheilspropheten und Retters: Was er sagt, muss stimmen, und danach muss man sich richten, sonst droht der Untergang.

Die Aussichten?


Am Schluss des Artikels schreibt Cadwalladr: "Das ist Britannien 2017. Ein Britannien, das zunehmend wie eine „verwaltete“ Demokratie ausschaut. Bezahlt von einem US-Milliardär. Unter Verwendung von militärartiger Technologie. Geliefert von Facebook. Und ermöglicht von uns. Wenn wir dieses Ergebnis des Referendums stehenlassen, geben wir dem unsere implizite Zustimmung. Es geht nicht um Verbleiben oder Verlassen. Es geht weit hinaus über Parteipolitik. Es geht um den ersten Schritt zu einer schönen, neuen, zunehmend undemokratischen Welt."

Die bestehenden Netzwerke, in die sich die Menschen einloggen, weil sie sich davon viele persönliche Vorteile erwarten (also völlig freiwillig mitmachen), bilden das Medium, in das die militärisch geschulte und technologisch hochgerüstete Manipulationsmaschinerie eingeschleust werden kann. Die Facebook-Algorithmen sind so gestaltet, dass meinungskonforme Informationen bevorzugt und nonkonforme Informationen ausgefiltert werden. Auf dieser Grundlage können Kaufentscheidungen ebenso wie Wahlentscheidungen beeinflusst werden.

Wir können solche Eingriffe in unser Seelenleben nicht verhindern, außer wir klinken uns völlig aus der sozialen Welt aus und ziehen uns in eine Almhütte mit Handyloch zurück. Wir haben aber die Kraft unserer Reflexion und Bewusstheit. Wir können Informationen überprüfen und unser eigenes Denken, unsere Urteilskraft weiterentwickeln. Wir brauchen das beständige Wechselspiel von Skepsis und Realitätsprüfung, wir brauchen den kritischen Blick auf alle Formen der Fehlinformation und Ideologisierung. Und wir sollten niemals auf die Losungen der Aufklärung vergessen: Dass es um Freiheit, Gleichheit und Solidarität geht, wenn wir eine menschlichere Welt erwirken wollen.

Andere mögen über Massen an Geld und skrupellose Egoismen verfügen. Wir müssen da nicht mitspielen. Im „Informationskrieg“ können wir selber dafür Sorge tragen, nicht an die Front zu kommen, um uns für die Interessen anderer Machtbesessener zu verbluten. Wir können autonom unsere eigene Meinung und unsere Werte vertreten und uns dafür mit unseren Mitteln einsetzen: mit gleich- und ähnlichgesinnten Menschen am Markt der Meinungen und Einstellungen unermüdlich für die Fakten gegen die Fiktionen einzustehen und zu kämpfen. Denn die Orientierung auf die Befreiung und Gleichstellung liefert stärkere Motive als die auf den Macht- und Vermögenserhalt von einigen wenigen.

Hier zum Guardian-Artikel.


Zum Weiterlesen:
Faktizität und Bullshit

Wenn Fiktion zum Faktum wird
Torheit ist nicht zu loben
Das Ego in der Mediendemokratie

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