Samstag, 21. November 2020

Bewertungsfreiheit als Geschenk

Häufig befinden wir uns in einem Bewertungszustand. Wir wollen über unsere Umwelt und unsere Mitmenschen Bescheid wissen und taxieren sie deshalb nach bestimmten Kriterien.  Diese Validierungen helfen uns, uns zu orientieren und Entscheidungen zu treffen. Makler bewerten Wohnungen und Häuser, und die möglichen Käufer ebenfalls. Ingenieure bewerten den Zustand einer Brücke, um festzustellen, ob sie saniert werden muss. Broker bewerten Aktien, um zu entscheiden, ob sie gekauft oder abgestoßen werden sollen. Lehrer bewerten Schülerinnen, ob sie zum Aufstieg in die nächste Klasse ausreichend vorbereitet sind usw. 

Bewertungen sind also ein integraler Teil des sozialen Lebens und beschäftigen unser Denken in vielerlei Hinsicht. Es gibt aber auch einen Raum jenseits von Bewertungen, der seine eigenen Qualitäten hat. In ihm atmet es sich freier als im Bewertungsraum. Wir fühlen uns menschlicher, und merken, dass es uns leichter fällt, unsere Mitmenschen so anzunehmen, wie sie sind, und mit der Umwelt in Frieden zu sein.

Wenn wir uns in einem bewertungsfreien Zustand befinden, können wir dafür dankbar sein. Wir haben ein Geschenk erhalten, das uns innerlich reich macht. Wir fühlen uns frei und verbunden. Wir können die Welt, die Menschen und uns selbst wertschätzen. Wir fühlen uns in einem tieferen Sinn menschlich als wenn wir uns in Bewertungszusammenhängen  befinden.

Abhängigkeit durch Bewertungen 

Bewertungen binden uns an das Objekt der Bewertung. Wir hängen uns gewissermaßen an dessen Eigenschaften an, ob sie nun im Licht unserer Bewertung gut oder schlecht sind. Wir sind innerlich entweder damit beschäftigt, das andere, das uns nicht passt, zu verändern, damit es uns passt, oder uns selbst zu verändern, damit wir zu dem passen, wie wir gerne wären oder wie wir meinen, dass uns die anderen gerne hätten. Wir sind nicht bei uns im Ganzen, sondern haften an dem Teil von uns, der wertet und uns mit dem Bewertungsobjekt vergleicht.

Das Bewerten macht uns kleiner und enger, weil wir die Welt um uns herum auf bewertbare Aspekte reduzieren müssen. Wir verlieren also immer an Qualität, was wir an Quantität herausstreichen. Menschsein ist jedoch eine Qualität, die in keiner Quantität abgebildet werden kann.

Das Privileg der Bewertungsfreiheit

Die Freiheit von den Bewertungsbindungen ist ein „Privileg“  nach Hanzi Freinacht: Wir sind in eine Position geraten, die uns innere Freiheit schenkt, im Wesentlichen ohne unser Zutun. Wir meinen vielleicht, dass wir besser sind als jene, die bewerten. Wir befinden uns allerdings nicht in einer Position moralischer Überlegenheit, denn eine derartige Position beruht ihrerseits auf Bewertung und Abwertung. Sobald wir uns moralisch über andere drüberstellen, die wir als weniger moralisch einschätzen, sind wir damit schon bestenfalls auf deren moralischer „Stufe“. 

Frei sind wir nur, wenn wir erkennen, dass unsere Tendenz zum Werten gerade einmal ausgesetzt und eine Pause gemacht hat und dass wir mit einem Moment der Bewertungsfreiheit beschenkt wurden. Wir brauchen uns dieses Geschenk nicht als Wirkung einer Leistung oder eines Einsatzes, also als eine persönliche Errungenschaft  gutschreiben, denn damit zerstören wir es gleich wieder. Die Kunst liegt darin, es als etwas Wundersames stehen lassen zu können. Der besondere Genuss dieses Zustandes öffnet sich für uns nur dann, wenn wir die Verantwortung, die in der Geschenkhaftigkeit liegt, übernehmen: Rücksichtnahme, Barmherzigkeit, Geduld, Gleichmut, Mitgefühl – das sind die emotionalen und moralischen Qualitäten, die aus der Bewertungsfreiheit fließen und die wir unseren Mitmenschen schulden, als Ausgleich für das Geschenk, das uns gewährt wurde. 

„Schulden“ heißt hier nicht, dass es eine einforderbare Pflicht gäbe, die uns zwingt, diese Haltungen unseren Mitmenschen gegenüber einzunehmen, sondern dass wir uns selber nur treu bleiben können, wenn wir andere an unserem Zustand teilhaben lassen. Noblesse oblige, Adel verpflichtet, hieß es in der vormodernen Gesellschaft. Eine privilegierte Stellung innezuhaben ist mit einem Auftrag verbunden, der vom Ich zur Menschheit führt.

Die der Bewertungsfreiheit innewohnende Qualität ist also nur dann wirksam ist, wenn sie durch uns zu anderen durchfließen kann, statt in uns selbst zu kreisen, indem wir uns an ihr delektieren. Wenn wir also der Energie und der Orientierung folgen, die in dem bewertungsfreien Zustand enthalten ist, geschieht es von selbst, dass wir uns menschenfreundlich und liebevoll verhalten. Wir können nicht anders, weil es in dem Moment ganz unserem Wesensausdruck entspricht.

Sobald wir uns jedoch als etwas Besonderes fühlen und mit anderen vergleichen, die an dieser Besonderheit nicht teilhaben, sind wir schon wieder herausgefallen aus dem begnadeten Zustand. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Bewertungsfreiheit gibt es nur zusammen mit spiritueller Demut, nicht mit spiritueller Egobestätigung. 

Die Erfahrung, dass die Bewertungsfreiheit etwas Bezauberndes und Wunderbares ist, motiviert uns, sie immer wieder aufzusuchen. Aufsuchen heißt, sie in Momenten wahrnehmen, uns ihrer bewusst werden, wenn sie sich gerade in uns geoffenbart hat. Es ist also eine Achtsamkeitsübung, die wir mit uns selber durchführen und die über das Erkennen und Loslassen unserer gewohnheitsmäßigen Bewertungstendenzen führt. 

Zum Weiterlesen:
Bewertung: Anmaßung und Beziehungsstörung
Bewertung im bewertungsfreien Bereich
Das Bewerten der Bewerter


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen