Samstag, 7. Oktober 2017

Bewerten: Anmaßung und Beziehungsstörung

Bewertungen schlagen einen Keil in den Beziehungsraum, schreibt Annette Kaiser in ihrem Buch: Erwachende Seele. Die zwölf Phasen des Gebets (München: Kösel 2010). Immer wieder sind wir verletzt, wenn wir von nahestehenden Menschen abgewertet werden. Immer wieder verfallen wir selbst ins Bewerten, wenn wir uns über etwas oder jemanden ärgern, und richten damit in den Beziehungsräumen Schaden an.

Wenn ich eine andere Person oder ihr Verhalten bewerte, stelle ich mich über sie. Ich gebe vor, dass ich über einen Maßstab verfüge, an dem ich Menschen abmesse, und lege diesen Maßstab an, wie ein Schneider an den Anzugsstoff. Ich will über die Messung feststellen, ob die andere Person zu meinen Kriterien passt. Das ist grundsätzlich nicht falsch und etwas, das wir die ganze Zeit automatisiert machen: Was passt zu uns, was unterscheidet sich von uns, was gefällt uns, was nicht, wer ist uns sympathisch, vor wem müssen wir uns in Acht nehmen usw. Diese unbewusst fortwährend ablaufenden Bewertungen dienen ja dazu, dass wir uns in der unübersehbaren Vielgestaltigkeit der Welt zurechtfinden.

Wenn wir die Bewertungen auf die bewusste Ebene bringen und sie in die Kommunikation einbringen, gilt es, ethisch mit ihnen umzugehen. Wir müssen uns klarmachen, dass sowohl unsere Maßstab als auch die Kriterien, der er abbildet, aus unseren eigenen Normen von richtig und falsch abgeleitet sind. Wir nehmen an, dass unsere eigenen Maßstäbe und Kriterien richtig sind und dass sie andere notwendiger Weise und zu ihrem besten Nutzen übernehmen sollten und dass mit ihnen etwas falsch ist, wenn sie das nicht tun.

In der Bewertung gebe ich also vor, eine übergeordnete objektive Position einnehmen zu können, von der ich auf andere herunterschauen kann, die an einem objektiv auffälligen Mangel leiden, nämlich dass sie meine objektiv überlegenen Standards nicht teilen. Mit der Bewertung will ich erreichen, dass sie auf diesen Mangel aufmerksam werden und gebe ihnen die Chance, den „besseren“ Standard zu übernehmen. Dann kann ich von meiner Bewertung lassen; im anderen Fall muss ich sie aufrechterhalten, bis bei der anderen Person eine Besserung, eine Veränderung in meine Richtung eingetreten ist. 


Die Überheblichkeit im Bewerten


Als Bewerter bin ich von der Überzeugung getragen, dass ich der anderen Person etwas Gutes tue, wenn ich sie bewerte, weil ich meine, ich müsse sie auf ihrem Irrtum, der ihr ja schadet, aufmerksam machen. Wenn sie meine Standards übernähme, würde sie von diesem Irrtum genesen, ein besserer Mensch werden –  und mir mein Leben leichter machen.

Das Ego mischt sich beim Bewerter also mehrfach ein: Zum einen will es im ethischen und kognitiven Sinn besser sein als die bewertete Person. Zum zweiten will es vermeintlich Gutes für die Adressatin der Bewertung und zum dritten möchte es ein eigenes Problem aus der Welt schaffen, an dem es leidet, das es sich aber nicht anschauen möchte. Für das Ego ist es immer die Patentlösung, dass andere sich ändern, wenn es Probleme mit ihnen hat.


Die Seite des Empfangens


Aus der Sicht des Empfängers der Bewertung betrachtet, schaut das Bild naturgemäß anders aus. Nur wenn die emotionale Schwingung, mit der die Bewertung ausgesprochen wird, wertschätzend und annehmend ist, also wenn die Bewertung im Rahmen einer gleichrangigen Beziehung ohne Involvierung des Egos geäußert wird, wird sie der Empfänger als Hilfe und Unterstützung annehmen können. Sobald sich auf der emotionalen Ebene Überheblichkeit und Besserwisserei oder sogar aggressive Ablehnung dazumischt, wird die Bewertung als verletzend und beleidigend empfunden. Die Kommunikation erleidet eine Störung und Belastung, und der Beziehungsraum wird in Mitleidenschaft gezogen.

Bewertungen können also schnell zu kommunikativen Waffen werden, mit denen wir andere Menschen in Frage stellen und sie auf diese Weise in ihrem Existenzrecht bedrohen. Sie dienen uns dazu, uns anzumaßen, über andere Macht auszuüben, nämlich die Macht, Wert zu- oder abzusprechen. Eine ethische Einstellung zu anderen Menschen beginnt mit dem Anerkennen des individuellen Wertes jedes Menschen. Das ist die Grundlage für zwischenmenschlichen Respekt: Jeder Mensch ist gleich viel wert. Niemand kann mehr Wert für sich beanspruchen als jemand anderer. Nur wenn diese Ebene sicher und von Vertrauen getragen ist, macht es Sinn, andere Menschen auf ihre Schwächen und Fehler aufmerksam zu machen.


Das ökonomische Werten


Hier trennt sich die ethische von der ökonomischen Einstellung. In der letzteren hat alles einen unterschiedlichen Wert, Dinge sowieso, deren Wert in einem Preis berechnet wird, und Menschen ebenfalls, die mittels der unterschiedlichen Verfügung über Dinge (messbar an der Menge an Geld und Sachwerten, die die betreffende Person besitzt) auf einer unendlichen Skala voneinander unterschieden sind. Für US-Amerikaner ist ihr Jahreseinkommen Teil ihrer Identität. Der ökonomische Wert kann in Zahlen ausgedrückt werden und ist damit eindeutig fixiert. Er wird vom Markt bestimmt und ändert sich gemäß Angebot und Nachfrage.

Auf der ethischen Ebene hingegen lassen sich die Menschen nicht quantitativ (=messbar) voneinander unterscheiden, sondern qualitativ. Diese Unterschiede können nicht mit einer Messlatte verglichen werden, weil jeder Mensch einen eigenen Maßstab bräuchte. Qualitative Unterschiede können nicht eindeutig bewertet werden, wir können sie nur differenziert beschreiben, wie wir die Unterschiede zwischen den Blättern eines Baumes oder den Blüten einer Pflanze verbal oder zeichnerisch darstellen können, aber nicht in Zahlenverhältnissen. Menschen sind unausschöpflich und unausdeutbar, unbegrenzt und unendlich individuell im Sinn von einzigartig. Deshalb gibt es keine ethisch vertretbare Rangfolgen unter den Menschen, keine Rankings, sondern eine grundsätzliche Gleichbewertung der jeweiligen Individualität.

Auf der ethischen Ebene wissen wir, dass die menschliche Gemeinschaft nur auf dieser Grundlage existieren kann, dass sie somit auch die Basis für jede Form von Ökonomie darstellt. Menschliche Gesellschaften können nur einen begrenzten Rahmen von Ungleichheit und Ausgrenzung erlauben, sonst brechen sie zusammen. Und das Bestreben nach Wertgleichheit unter den Menschen wird immer ein mächtiger Impuls zur gesellschaftlichen Änderung sein. Denn im Grund leiden alle Mitglieder der Gesellschaft an bestehenden Ungleichheiten, die auf Abwertungen von Menschen gegründet sind. Die Kerben, die sich durch die Gesellschaft ziehen, betreffen alle, ob sie auf der einen oder auf der anderen Seite stehen. 


Zum Ursprung des Bewertens


Wir verstehen und erkennen leicht, dass das Bewerten ein Reflex ist, der aus unserer Kindheit stammt. Eltern sind oft der Meinung, dass sie ihre Kinder in eine bestimmte Richtung erziehen müssen, die sie für richtig und förderlich erachten, und versuchen das innere Wachstum ihrer Sprösslinge mit positiven wie negativen Bewertungen auf diesen Weg zu lenken. Kleine Kinder nehmen grundsätzlich an, dass die Eltern mit ihren Ansichten und Strategien Recht haben, obwohl sie spüren, dass sie in ihrem Sein und Werden beschnitten werden.

Üblicherweise tun wir unseren Mitmenschen das an, was uns als Kindern angetan wurde, zu einem Zeitpunkt, als wir uns nicht wehren konnten, sodass wir damals schon den unbewussten Glauben entwickelten, dass es normal und sinnvoll ist, andere Menschen abzuwerten. Sobald wir als Erwachsene irgendwie in die Enge kommen und uns etwas Angst bereitet, haben wir die Strategie des Abwertens bei der Hand, um uns zu schützen. Das ist der einfache psychologische Mechanismus hinter der Gewohnheit des Abwertens, den wir erst außer Kraft setzen können, wenn wir uns den Ängsten stellen, die wir als Kind erlebt haben, wenn uns die Erwachsenen abwertend und abschätzig behandelt haben, am besten in der Gegenwart von einer Person, die uns bewertungsfrei und akzeptierend begegnet.


Zum Weiterlesen: Bewerten im bewertungsfreien Raum

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