Dienstag, 23. Oktober 2018

Selbstqual mit Selbstvorwürfen

Selbstvorwürfe sind eine perfide Form der Selbstquälerei, zu der wir Menschen neigen. Die meisten Menschen kritisieren sich häufig selbst, oft nur halb bewusst. Immer, wenn sie einen Fehler verschulden, klagen sie sich dafür an und erinnern sich immer wieder daran, um die Anklage zu wiederholen und zu wiederholen. Offenbar meinen wir, wir bessern uns nur, wenn wir uns unsere Fehler immer wieder vorhalten.  

All das ist das Resultat von Lernprozessen: Wir haben von unseren Eltern gelernt, dass Fehler mit Tadel bestraft werden. Eltern meinen, dass sie, um ihre Kinder in der richtigen Weise zu erziehen, diese mit strenger Miene und harten Worten auf ihre Fehler aufmerksam machen, damit das Schlimme ja nicht mehr vorkommt. Kinder lernen jedoch weniger von dem, was ihnen gesagt wird, und vielmehr daraus, wie es ihnen gesagt wird. Sie lernen, dass auf Fehler Kritik folgen muss.

Wir werden erwachsen, und unsere Eltern mischen sich (hoffentlich) immer weniger in unser Leben ein. Dann fehlt uns die Instanz, die unsere Missgeschicke kritisch kommentiert – und, beflissen wie wir sind, übernehmen wir den Job selber. Wir etablieren einen zuverlässigen inneren Kritiker, der sich bei jedem Fehler gleich mit aller Vehemenz zu Wort meldet. 

Über die Unsinnigkeit von Selbstvorwürfen 


Es gibt zwei logische Gründe, warum Selbstvorwürfe unsinnig sind. Zum ersten: Fehler sind immer schon vergangen, wenn wir auf sie aufmerksam werden. Wenn wir gleich merken, dass etwas nicht passt, können wir es gleich korrigieren, und es gibt kein Problem. Ich schlage einen Nagel in die Wand und merke, dass der Nagel zu schwach ist – ein Fehler. Also nehme ich einen stärkeren Nagel – der Fehler ist ausgebessert. Ich sage in einem Gespräch unbedacht eine Unfreundlichkeit und entschuldige mich – das Gespräch geht ungestört weiter. Die Qual der Selbstvorwürfe beginnt erst nachher, wenn die Situation schon vorüber ist und die Gedanken in sie zurückgehen und dort nachträglich alles anders machen wollen. 

Zum zweiten: Wenn wir Fehler begehen, geschehen diese meistens aus unbewussten Handlungen, also aus solchen, die wir nicht bewusst entschieden haben. Wir machen ja nicht absichtlich Fehler. Wir sind mit unseren Gedanken woanders und merken plötzlich, dass wir vergessen haben, rechtzeitig aus dem Zug auszusteigen. Wir sind mit einem wichtigen beruflichen Thema beschäftigt und vergessen auf den Geburtstag einer Freundin.  

Weshalb sollen wir uns da kritisieren? Fehler „geschehen“ ganz offensichtlich, sie unterlaufen uns, ohne unser bewusstes Zutun und Wollen. Wir sind ja nicht so blöd, dass wir uns beim Kartoffelschälen absichtlich in den Finger schneiden oder mit dem Hammer auf den Finger klopfen. Wir sind auch nicht so garstig, dass wir unseren Mitmenschen absichtlich Böses antun. Fehler sind Ausfluss der Unvollkommenheit unseres Körper-Geist-Systems, dem die Idee der Perfektion fremd ist, das dafür aber über eine enorme Lernfähigkeit und Plastizität verfügt. 

Aus Fehlern werden wir klug, das schulden wir unserer Lernfähigkeit: Selbstkritik macht uns hingegen nicht klug, weil sie Fehler zu Versagen und Scheitern aufbauscht und unseren Selbstwert prügelt. Aus Kleinigkeiten werden existenzbedrohende Selbstverurteilungen. Und damit engen wir uns selber ein, machen uns Angst und hindern uns, unsere Fehlerhaftigkeit zu korrigieren. Lernen können wir nur, wenn wir uns akzeptiert und angenommen fühlen. 

Der innere Kritiker verleiht den Fehlern eine moralische Wertigkeit: Die Fehlerhaftigkeit entscheidet darüber, ob wir als Mitglied der Gemeinschaft akzeptabel sind oder nicht. Wenn wir uns nicht bessern, müssen wir befürchten, die Anerkennung und Liebe der anderen zu verlieren.  

Komplexes ist fehleranfällig 


Unser aller Leben ist enorm komplex, viele Bedürfnisse liegen in uns im Widerstreit, viele Interessen wollen berücksichtigt werden, viele Leute wollen etwas von uns, mit vielen Themen sollten wir uns auseinandersetzen, über Vieles sollten wir informiert sein etc. Da fällt es schwer, in jedem Augenblick voll präsent zu sein, und Fehler schleichen sich schnell ein.  

Fehler im sozialen Bereich geschehen noch viel leichter als beim Umgang mit Dingen. Denn jeder Mensch bringt seine eigene innere Komplexität in die Kommunikation ein, sodass dort andauernd Fehler passieren, ohne dass irgendwo ein Verschulden vorliegt. Ein großer Teil der zahlreichen zwischenmenschlichen Konflikte beruht auf Missverständnissen und Übertragungsfehlern. Wir drücken uns nicht exakt aus oder hören nicht genau zu. Schon entsteht ein Konflikt, der meist in die Streifrage mündet, wer den Fehler gemacht hat (grundsätzlich immer die jeweils andere Person), und dort bricht der Konflikt auch gleich in sich zusammen, weil er an diesem Punkt unlösbar geworden ist. 

Wenn wir genauer in uns nachspüren, können wir bemerken, dass wir uns mit jedem Selbstvorwurf von der Wirklichkeit abschneiden. Wir unterwerfen uns dem inneren Kritiker und begeben uns in seinen Bann. Damit distanzieren wir uns von der Wirklichkeit um uns herum, von der Situation, in der der Fehler passiert ist und von den Menschen, die wir mit unserem Verhalten verletzt oder irritiert haben. Wir verfangen uns in eine innere Auseinandersetzung, die uns daran hindert, die Folgen unserer Handlung in eine konstruktive Richtung zu lenken. Erst wenn wir aus diesem Käfig wieder herausfinden, können wir daran denken, wie wir den Schaden wieder gut machen können. Unnötig viel Zeit ist verflossen. 

Warum ist die Tendenz zu Selbstvorwürfen so hartnäckig?  


Sie hat, wie oben angemerkt, ihre Wurzeln in unseren frühen Erfahrungen mit Kritik. Mit Selbstvorwürfen wollen wir uns schützen, jemals wieder auf diese Weise herabgesetzt und verletzt zu werden, und merken nicht, wie wir uns selber herabsetzen und verletzen. Wir sind in einem sado-masochistischen Muster gefangen, Täter und Opfer in einem.  

Die mühsame, aber lohnende Arbeit liegt darin, unsere Demütigungsgeschichte durchzugehen und die vielfachen Verletzungen aufzulösen. Je mehr wir mit unserer Vergangenheit ins Klare kommen, desto schneller gelingt es uns, nach unterlaufenen Fehlern wieder in die Gegenwart zu kommen und unsere Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit wiederzugewinnen, indem wir tun oder sagen, was notwendig ist. Dann kann das Leben wieder weitergehen, und wir können darauf vertrauen, dass wir etwas dazu gelernt haben, was uns das Leben in Zukunft erleichtern wird. 

Das Aufspüren der Wurzeln unserer Zwänge zur Selbstkritik wird uns helfen, diese Gewohnheit zu schwächen und leichter mit unseren Fehlern umzugehen. Wir lassen aus Unachtsamkeit einen Teller fallen und sagen vielleicht: „Oh, Scherben bringen Glück!“, kehren die Scherben zusammen und weiter geht das Leben ohne Beschwernis. Oder wir versäumen einen Zug, weil wir zu wenig auf unsere Uhr geschaut haben und sagen: „Das kann jedem mal passieren“, schnappen uns ein Buch und warten geduldig auf den nächsten Zug. Jemand anderer ist beleidigt, weil wir ihn unbedacht angegriffen haben, wir entschuldigen uns gleich und erklären ihm kurz, dass da keine böse Absicht war, und das Gespräch geht entspannt weiter. 

Die Brücke der Selbstliebe 


Wenn wir uns Zeit für eine achtsame Selbstbesinnung oder Meditation nehmen, können wir diese Übung nutzen, um uns Selbstvorwürfe bewusst zu machen – auch subtile Formen des Abwertens und Kritisierens können uns dabei auffallen. Jedes Mal, wenn wir draufkommen, dass wir nicht ganz präsent im Augenblick sind, sondern Gedanken nachhängen, kann schon die Selbstkritik einsetzen, statt dass wir die Aufmerksamkeit behutsam und sanft in den Moment des unmittelbaren Erlebens zurückführen.  

Sobald wir uns von diesem momentanen Erfahren ablenken und damit in die abgetrennte mentale Welt wechseln, tun wir das, weil wir irgendetwas, was gerade geschieht, ablehnen und damit auch uns selbst als Erlebende abwerten. Insbesondere unangenehme Gefühle sind dabei ein passender Anknüpfungspunkt, um über deren Ablehnung in die Abtrennung zu flüchten. Wenn wir allerdings uns dem Unerfreulichen innerlich stellen und ihm Aufmerksamkeit und Präsenz widmen, bauen wir eine Brücke der Selbstliebe anstelle der Selbstablehnung. Das tut uns gut und beruhigt und entspannt unsere Selbstbeziehung, und damit verbunden, unsere Beziehung zu anderen Menschen. 

Zum Weiterlesen: 
Schwächen sind menschlich und machen menschlich 
Brauchen wir einen Selbstwert?
Vom Umgang mit unserer Fehlerhaftigkeit

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen