Vorplanung und Vorbestimmung
Dazu gibt es keine Einigkeit unter den Advaita-Lehrern. Manche, wie Maitreya Ishwara, proklamierten eine unendliche Intelligenz oder eine göttliche Instanz, die alles, was seit Anbeginn der Zeit geschehen ist und bis zum Ende aller Zeiten geschehen wird, bis ins Kleinste vorgeplant und vorgesehen hat. Auch Ramesh Balsekar, ein indischer Weisheitslehrer, der viele Sucher mit der Advaita-Lehre inspiriert hat, schrieb: „Alles, was geschieht, richtet sich nach dem Willen Gottes,“ und er bezeichnete die Gesamtheit des Geschehens als das „Drehbuch des göttlichen Dramatikers“. Er meinte auch, dass selbst eine simple Tätigkeit wie das Naseputzen vorherbestimmt wäre.
Die Frage, die sich bei solchen Gedankengängen stellt, ist, woher die Einsicht stammt, die zu solchen weitgespannten kosmologischen Aussagen berechtigt. Verfügen diese Meister über eine direkte Verbindung zur Quelle des Seins? Maitreya Ishwara hat sich auf eine göttliche Eingebung berufen, die ihm seine Lehre und sein ganzes Buch diktiert hat (Unity. The Dawn of Conscious Civilisation, 2002). Diese subjektive Gewissheit ist zwar nicht anzweifelbar, ihre kommunikative Evidenz ist aber schwach, d.h. andere Menschen können solche Gedankengänge überzeugend finden und daran glauben oder sie unbegründet finden und nicht daran glauben. Die argumentative Basis ist dünn, wenn es nichts als eine nur subjektiv zugängliche Quelle für die Wahrheitseinsicht gibt.
Kontrolle über unser Schicksal
Die Radikalität des Advaita-Ansatzes wird durch solche zusätzliche Konstruktionen abgeschwächt. Es erscheint, als ob es zu viel verlangt wäre, auf den freien Willen und dann selbst noch auf einen Gott oder eine andere Macht der Vorsehung verzichten zu müssen – ein Übermaß an Kränkung für unseren Geist, der das Ganze verstehen will, das, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Wir wollen wissen, wessen Wille regiert, wenn unserer so massiv an Bedeutung verliert oder gänzlich aufgegeben werden muss. Und wenn ein Mensch der göttlichen Vollkommenheit so nahe kommt, wie es bei einem erleuchteten Menschen der Fall sein könnte, scheint der Drang groß, die letzten Fragen umfassend zu beantworten. Und es scheint auch der Drang der Schüler groß, dem Meister zu glauben, in Umgehung der eigenen Vernunft und Einsicht.
Wir als Statisten in diesem grandiosen Stück können uns schlecht damit zufrieden geben, nicht zu wissen und nicht wissen zu können, was sich der Autor dabei gedacht hat, vor allem, soweit es uns selber und unser Leben anbetrifft. Wir wollen zumindest noch ein Zipfelchen an Kontrolle über unser Schicksal erhaschen. Allerdings kommen wir mit Kontrolle nirgends weiter, weil sich unsere leidsüchtige Willkür einmischt. Immer, wenn uns Gutes widerfährt, neigen wir dazu, den Autor zu preisen, aber wenn wir gerade im Eck sind, fühlen wir uns von ihm verraten oder missachtet. Manchmal finden wir das Drehbuch exzellent und dann wieder wollen wir es am liebsten umschreiben oder überhaupt in den Müll werfen.
Das sind alles menschliche, allzu menschliche Reaktionsweisen. Sie haben möglicherweise mit der Funktionsweise des großen Ganzen nichts oder kaum etwas zu tun. Wenn wir unser Denken, und damit das Treiben unseres Verstandes auf das Notwendige beschränken, und das sollte ja ein Bestreben auf jedem spirituellen Weg sein, dann kommen wir viel schneller an Grenzen, die allenfalls mit der leichtfüßigen und unverbindlichen Kraft der Fantasie überwunden werden können. Dort finden sich aber keine mit intellektueller Redlichkeit und kommunikativer Argumentierbarkeit vereinbare Einsichten. Dem Sucher bieten sich allenfalls Plausibilitäten oder Absurditäten, je nach Geschmacksrichtung und vielfach vorgeprägten emotionalen und kognitiven Erwartungen. Wir befinden uns damit im Bereich konkurrierender relativer Wahrheiten, die am Markt der Spiritualitäten ihre Kunden und Anhänger suchen.
Radikale Nicht-Dualität
Die Radikalität der nicht-dualen Weltsicht allerdings, wie sie die Advaita-Lehre anstrebt, verträgt keine außer- oder vorweltlichen Instanzen, die sich ihr göttliches Spiel (Leela) in ihrer Hängematte zusammenfantasieren und dann irgendeinen Knopf drücken, damit der Film genannt Universalgeschichte abgespult wird mit all seinen Schönheiten und Grauslichkeiten.
Konstruktionen ohne Konstrukteur
Alle Konstruktionen, die sich daran anhängen, sind ad libidum – wir können sie uns aneignen oder sie verwerfen, es ändert sich höchstens unsere Befindlichkeit, aber nicht die Tiefe unserer Einsichten. So kann es sein, dass sich das Gute und Böse im Gesamtplan durch die verschiedenen Vorleben der Menschen insgesamt ausgleichen und dadurch ein Gerechtigkeitsprinzip verwirklicht wird (in Summe gäbe es dann gleichviel böse wie gute Taten, gleichviel Leid wie Freude – für die individuelle Seele, die durch ihre 108 Inkarnationen durchwandert und für die Schöpfung insgesamt), oder es kann auch nicht so sein. Vielleicht gibt es überhaupt kein übergeordnetes und von einer jenseitigen Instanz verwaltetes Gerechtigkeitsprinzip.
Vielleicht spielt die oft zitierte Dualität von Böse und Gut nur im Denken und Handeln der Menschen eine wichtige und unverzichtbare Rolle, weil sie ohne diese Begriffe ihr Sozialleben nicht auf die Reihe kriegen, aber ist das im Gesamten des Universums kein Ordnungsprinzip: Sind schwarze Löcher, Supernovas, Meteoriten böse oder gut? Sind Atomkerne gut oder böse zu ihren Elektronen? Sind Raubtiere böse und Fluchttiere gut, oder umgekehrt? Schnell kommen wir an Grenzen dieser dualen Begriffe und merken daran, dass es genügt, sie auf die menschliche Sphäre, und zwar auf das interaktive Sozialleben zu beschränken. Dort haben diese Begriffe eine grundlegende Funktion, darüber hinaus verlieren sie ihren Sinn.
Wenn wir die Botschaft der Advaita-Lehre kompromisslos ernst nehmen, bleibt kein Platz für eine allmächtige Instanz, die außerhalb von Raum und Zeit steht und von dort aus lenkend oder vorausplanend eingreift, weil es nur die Geschehnisse in Raum und Zeit gibt und alles darüber hinaus Kreationen unseres endlichen und relativen Verstandes sind. Das Naseputzen findet statt, weil es gerade stattfindet und nicht weil es von irgendwem vorausgeplant wäre.
Ramana Maharshi, der indische Weise und Lehrer vieler Advaita-Lehrer, verkündete deshalb: „Keine Schöpfung, keine Auflösung, kein Weg, kein Ziel, kein freier Wille, keine Vorherbestimmung.“ Freiheit ereignet sich erst, wenn aller Ballast abgeworfen ist. Was in der spirituellen Sphäre unnütz ist, braucht uns nicht mehr zu beschäftigen und damit erweitern wir den freien Raum in uns. Wir können also getrost alle überflüssigen Begriffe und Fragen weglassen und ganz beim momentanen Erleben bleiben. Maharshi sagte auch: „Erkenne dich selbst, bevor du dir über das Wesen Gottes und der Welt Gedanken machst.“ Und wenn wir uns erkannt haben, brauchen wir keine Gedanken mehr über das Wesen Gottes und der Welt. Solange wir die Einheit mit allem Sein in uns wahrnehmen, ist es still und frei in uns. Kommen diese Gedanken in uns hoch, so erkennen wir, dass wir gerade nicht in der Einheit (=Nicht-Dualität) sind. Und das ist natürlich einfach so geschehen, wie alles andere vorher geschehen ist und nachher geschehen wird.
Zum Weiterlesen:
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