Dienstag, 9. Oktober 2018

Gerechtigkeitsideen im Advaita

Manche Advaita-Lehrer finden, dass die Gerechtigkeit in der Welt durch ein von vornherein in diese Welt implantiertes Ausgleichsprinzip zwischen dem Guten und dem Bösen gewährleistet wird.

Der Advaita-Lehrer Werner Ablass schreibt z.B.: „Gottt ist absolut chancenlos sich selbst in seiner Manifestation zu helfen. So groß und gewaltig die Macht Gotttes ist, ist auch seine Ohnmacht! 50:50. Also im exakt gleichen Verhältnis wie Licht und Schatten, Hässlich und Schön, Gut und Böse zueinander.“ (Werner Ablass: Außergewöhnlich gewöhnlich. BoD Norderstedt 2018, S. 202) (Anm.: Werner Ablass schreibt Gottt mit drei t, um seinen Gottesbegriff von einem alltäglich verwendeten zu unterscheiden.)

Unser romantisches Gerechtigkeitsempfinden


Wir verfügen offensichtlich über ein biographisch und ästhetisch begründetes Gerechtigkeitsempfinden – jeder, der Geschwister hat, ist damit besonders imprägniert –  und wir fühlen uns wohl, wenn Güter paritätisch geteilt werden. Das ist das Prinzip des Erbrechts in vielen Kulturen: Kinder sollen von ihren Eltern gleichviel erben. Wenn alle gleich viel haben, wird alles gut, so die romantische Hoffnung.

Davon ausgehend erscheint es zwar plausibel, dass das Hässliche und das Schöne, das Gute und das Böse, dass also alle Dualitäten in gleichen Anteilen im Gesamtplan vertreten sind. Aber wir können nicht einmal wissen, ob irgendwer oder irgendwas außer uns Menschlein im Universum an dieser Form von distributiver Gerechtigkeit interessiert ist. Und zu klären bleibt, ob dieses Ideal, das wir uns im großen Ganzen wünschen, im Grund nur dazu dient, unsere unerfüllten kindlichen Sehnsüchte zu befriedigen: Es sollen am Ende alle Unebenheiten in Gerechtigkeit ausgeglichen werden, ein grandioses Happyend zur Feier des Endes der Geschichte. Vielleicht brauchen wir für die Tröstung dieser Bangigkeit nicht einmal eine spirituelle Lehre, sondern es genügt unser inneres Verständnis für unser vielfältiges biographisches Leiden an diversen Ungerechtigkeiten.

Gibt es eine ästhetische Waage?


Aus anderen Gründen fraglich ist die Vorstellung vom Ausgleich zwischen den gerne so genannten Dualitäten. Die Anwendung des Begriffs der Dualität habe ich schon an anderem Ort in Frage gestellt. Ob Schönes und Hässliches ausgeglichen im Universum vertreten ist oder nicht, scheint mir eine letztlich unbeantwortbare und ins Uferlose führende Frage, weil es gerade in diesem Bereich von unendlichen Subjektivitäten nur so wimmelt. Was für die eine Person der Inbegriff des Schönen ist, z.B. ein Klavierkonzert von Mozart oder ein Selbstportrait von Rembrandt, kann für die andere Person hässlich oder belanglos sein. Es geht der Prozess der kulturellen Evolution in einer kreativen Weise weiter und schafft beständig neue Kriterien für das Schöne, unbeschadet der Befunde über ein ultimatives Ergebnis der kosmischen ästhetischen Waage.

Unterwegs zu einer gerechteren Gesellschaft


Noch problematischer wird es im Bereich der ethischen Polarität zwischen dem Guten und dem Bösen. Wenn wir proklamieren, dass sich das Verhältnis zwischen dem Guten und dem Bösen immer im Gleichmaß auspendelt, bewegen wir uns von einem schlüpfrigen auf ein tendenziell asoziales Terrain. Denn wir brauchen für das Funktionieren und für die Verbesserung unserer Gesellschaften und unserer Menschheitsgemeinschaft die Ausrichtung auf die Reduktion des Bösen zugunsten des Guten. Wir können auch, wenn wir einen distanzierten Blick auf die Menschheitsgeschichte richten, erkennen, dass sich die ethischen Standards und deren Implementierung laufend weiterentwickelt haben. Ein Höhepunkt war die Formulierung der Menschenrechte ab dem 18. Jahrhundert und deren weltweite Proklamation im Jahr 1948. Wenn heute z.B. sexuelle Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche oder sexuelle Übergriffe in der MeToo-Bewegung angeprangert werden und häufig zu gerichtlichen Verfolgungen führen, zeigt sich der Fortschritt im ethischen Bewusstsein. Verletzungen der Menschenwürde, die vor Jahrzehnten noch vertuscht, verschwiegen und bagatellisiert wurden, kommen zunehmend in ihrer Bosheit in die Öffentlichkeit, wodurch eine Erweiterung und Vertiefung der ethischen Normen und Werte erfolgt.

Steven Pinker (Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Fischer TB 2013) hat in Hinblick auf den Begriff der Gewalt eine detaillierte Studie vorgelegt, in der er nachweisen konnte, dass es einen durchgängigen Trend in der Menschheitsgeschichte gibt, der die kontinuierliche Reduktion von Gewalttaten anzeigt. Der Trend hat sich zwar im letzten Jahrzehnt abgeflacht (als Folge der vielen bürgerkriegsartigen Konflikte auf der Welt), aber aufs Ganze der Geschichte bezogen, ist der Befund eindrucksvoll und überzeugend, wenn auch möglicherweise subjektiv kontraintuitiv.

Wenn wir nun – aus welcher Quelle oder übernatürlichen Einsicht heraus auch immer – darauf beharren, dass das Gute und das Böse immer in Balance bleiben und aus Prinzip bleiben müssen, kann uns das vielleicht helfen, mit dem Ausmaß an Bösem in der Welt, das uns manchmal überfordert und überwältigt, zurecht zu kommen. Es kann vielleicht als Trost dienen, wenn wir uns einreden, dass den Bösen irgendwann auch Böses widerfahren wird, wie in einem gängigen Hollywood-Film, und dass die armen Guten, die immer draufzahlen, schließlich und endlich doch ihren Lohn bekommen. Aber wir erlangen auf dieser Ebene keine spirituellen Meriten, sondern im günstigen Fall die Heilung von Wunden aus unserer eigenen Lebensgeschichte.

Vielmehr laufen wir Gefahr, mit dem Konzept von der Ausgleichung von Gut und Böse in eine ethische Nivellierung zu geraten. Wir missbrauchen dabei die Advaita-Lehre für einen sozialethischen Indifferentismus, der im gesellschaftlichen Kontext bestens dafür taugt, reaktionäre und asoziale Tendenzen zu unterstützen oder zu rechtfertigen. Jeder Extremist, der der Gesellschaft seine Moralvorstellungen mit Gewalt aufzwingen will, hätte sonst eine perfekte Rechtfertigung seiner menschenverachtenden Taten: Ich will ja nur die guten Taten mit etwas Bösem ausgleichen.

Wir alle sind, Advaita hin oder her, Teil der Gesellschaft, ob viertel-, halb- oder ganz erleuchtet, erwacht oder normal neurotisch. Und auf dieser Ebene tragen wir unsere individuelle Verantwortung, die uns niemand abnehmen kann, auch keine spirituelle Lehre, dafür, dass sich die Achtung unter den Menschen verstärkt und die Missachtung zurückgeht. Nehmen wir diese Verantwortung nicht wahr, so behindern wir aktiv die Weiterentwicklung des Guten zugunsten des Bösen. Nutzen wir dafür eine spirituelle Theorie, dann agieren wir einfach als blinde Heuchler.

Innenarbeit verringert das Böse


Nach meiner Ansicht und Einsicht kann die Advaita-Lehre nur funktionieren, wenn sie anerkennt, dass Menschen in ihrer inneren Entwicklung, in der sie sich mehr und mehr von Ängsten und Verletzungen lösen und in Frieden mit sich und der eigenen Geschichte gelangen, immer mehr ihre Impulse verlieren, böse zu handeln und statt dessen zur Selbstverständlichkeit des Guten gelangen.

Um es im Kontext von Advaita auszudrücken: Im Bewusstsein der Einheit mit dem Ganzen, in dem das, was geschieht, ohne Entscheidung, Handlung und Verantwortung geschieht, geschieht das, was im konventionellen sozialen Sinn als das Gute bezeichnet wird, „von selber“ und es wird ebenso das Böse weniger. Wer mit sich selbst im Frieden ist, verspürt keinen Impuls mehr, andere in Unfrieden zu stürzen. 

In diesem Sinn haben wir jeden Grund, darauf zu vertrauen, dass das Gute mehr und das Böse weniger wird, je mehr Menschen sich ihrer eigenen inneren Entwicklung und spirituellen Suche widmen. Die Welt darf ruhig eine bessere werden, d.h. das Leiden der Menschen soll weniger werden, und dafür tragen wir alle die Verantwortung. Denn jeder von uns kann dazu seinen Beitrag leisten, durch innere Heilungsschritte und dadurch, im Außen Gutes zu tun und Böses zu lassen. Kosmologische Theorien, die ein vorherbestimmtes Gleichgewicht zwischen diesen Polen proklamieren, können dieser Entwicklung nur im Weg stehen und sollten deshalb nicht weiter ernst genommen werden.

Die ethische und die spirituelle Vernunft


Zuständig für das Gute und das Böse sowie deren Unterscheidung ist die ethische Vernunft (die bei Immanuel Kant die „praktische Vernunft“ heißt). Sie hat die Aufgabe, das Zusammenleben der Menschen zu regeln und zu verbessern, um eine menschenwürdige und friedliche Gesellschaft zu bilden. Die spirituelle Vernunft hat eine andere Aufgabe – sie prüft und verfeinert die Wege zur inneren Befreiung und zum inneren Frieden. Aus der Ethik und auch aus der Politik sollte sie sich tunlichst heraushalten, sonst kommt es zu Überscheidungen und Verwerfungen, für die es in der Geschichte bis heute viele abschreckende Beispiele gibt. Wann immer spirituelle Autoritäten – Kirchen, religiöse Führer und spirituelle Meister – kraft ihrer Autorität in „weltlichen“ Dingen mitmischen wollen, stehen sie in der Gefahr, Radikalität, Fundamentalismen und Gewalt zu säen.
Denn sie wecken in den Menschen die Hoffnung, es bedürfe nur der Durchsetzung bestimmter Werte, Normen oder Gesellschaftsordnungen, um ein inneres oder ewiges Heil zu erlangen. Mit dieser vermeintlichen Hoffnung verbinden die verzweifelten Menschen schnell die Bereitschaft zur Gewalt. 

Die spirituelle Vernunft macht uns auf die Unterschiede aufmerksam: Die Bereiche der Ethik und der Politik haben ihre eigenen Erfordernisse und Eigentümlichkeiten, und wer diese missachtet, wird dort scheitern, auch mit den besten Absichten. „Schuster, bleib bei deinem Leisten“, ist man versucht zu sagen, wenn spirituelle Lehrer aus ihrer Weisheit heraus versuchen, ethische Grundfragen zu lösen oder politische Ansichten zu äußern. Ihre Kompetenz in diesen Themenbereichen bemisst sich nicht an der Kompetenz in der spirituellen Sphäre, sondern an ihrem Verständnis und Informationsstand für die ethischen und politischen Lebensbereiche und ist sonst in nichts anderen in diesem Feld überlegen.

Die spirituelle Weisheit ist viel zu weit entfernt von der Alltagspraxis und den damit verbundenen Problemen. Sie ist nicht tauglich für die feineren Differenzierungen zwischen Gut und Böse, die im zwischenmenschlichen Leben immer wieder neu gefunden werden müssen, und noch weniger für die komplexen Fragen der Machtverteilung und des Interessensausgleiches, die in der Politik ausverhandelt werden müssen. 

Jeder Mensch hat das Recht auf seine Meinungen und Stellungnahmen, und jeder sollte sich auch in die öffentlichen Diskurse einbringen. Aber eine wichtige Verantwortung spiritueller Führer und Lehrer liegt darin, die eigenen persönlichen Ansichten zu den lebenspraktischen Verhältnissen von den Weisheiten, die sie aus tieferen Quellen schöpfen, säuberlich und klar zu unterscheiden, um die Zuhörer und Schüler nicht zu verwirren oder zu manipulieren. Absolute und relative Wahrheiten müssen als solche gekennzeichnet werden, da es sonst zu einem Etikettenschwindel kommen kann. So sollten wir das Wort von Jesus anwenden: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Die Beschränkung auf das Wesentliche sollte ein Markenzeichen jeder spirituellen Lehre sein, denn das Absolute verträgt keine konstruierten subjektiven Beiwerke, sei die lehrende Person noch so berühmt und heilig.

Zum Weiterlesen:
Sind wir zwei oder eins?

Die Anhänglichkeit an die Dualität
Das Ego und die Dualität
Advaita und die Vorherbestimmung

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