Mittwoch, 22. Mai 2013

Sind wir zwei oder eins? Über Dualitäten und Illusionen

Die meisten Religionen neigen zu einem dualen Ansatz: Es gibt den Leib und es gibt die Seele. Die beiden bilden zusammen für eine Zeit lang ein Wesen, den Menschen. Der Mensch stirbt dann, und anschließend gehen beide wieder getrennte Wege. Sobald in der Menschheit Ideen, die mit einer Weiterexistenz der Seele nach dem Tod zu tun haben, auftauchen, wird davon ausgegangen, dass der Mensch, der vorher eins war, in zwei Teile zerfällt, einen Leichnam, der verwest, und eine Seele, die weiter existiert, sei es in einem Jenseits oder in einer Wiedergeburt.

Das ist ja nur möglich, wenn der Mensch von Anfang an und grundsätzlich als zweigeteilt betrachtet wird, also aus zwei äußerst unterschiedlichen Teilen bestehend. Der eine, so heißt es, ist materiell, der andere immateriell oder geistig. Geist ist das, was nicht materiell ist, und Materie ist das, was nicht geistig ist. Beide definieren sich dadurch, dass sie nicht das jeweils Andere sind.

Manche Religionen (z.B. Hinduismus oder Buddhismus) nehmen dazu noch die Vorstellung, dass die Seele, weil sie sich ja auch nach dem Tod vom Körper trennen kann, anfangs schon von irgendwo anders in den Körper hineinkommt. Da kann es sein, dass sie, wie in der Reinkarnationslehre, schon andere Körper vorher als Aufenthaltsort hatte, oder dass sie, wie in anderen esoterischen Richtungen behauptet wird, aus einer geistigen Welt in die materielle „herab“-steigt.

Fragen an die Dualität


Die Rede von „Orten“ oder „Räumen“ und von räumlichen Richtungen („hinauf“ und „hinunter“) macht uns auf die Schwierigkeit aufmerksam, wie wir uns Geistiges anders als materiell vorstellen  könnten. Denn im Grund stellen wir uns dabei die Seele wie ein Ding vor, nur ohne „Ablaufdatum“. Der französische Philosoph René Descartes hat dementsprechend zwei Arten von Dingen unterschieden, die ausgedehnten und die nicht ausgedehnten, aber Dinge sind es allemal. Wie sollen wir aber zu etwas in Bezug gehen, das weder im Raum noch in der Zeit aufscheint?

Eine andere Problematik mit dem Konzept der Leib-Seele-Dualität liegt darin, dass davon ausgegangen wird, dass die Seele in ihrer irdischen Existenz Veränderungen unterworfen ist.
Sie wird im Lauf des Lebens von den Erfahrungen beeinflusst, die zusammen mit dem Körper gesammelt werden, soll aber trotzdem unabhängig von ihm bleiben, sodass sie sich, nachdem der Körper seine Funktionen aufgegeben hat, von ihm verabschieden kann, ohne daran groß Schaden oder Nutzen zu nehmen. Sie nimmt also offenbar die durch die materielle Existenz gesammelten Erfahrungen mit, allerdings ohne den zugehörigen Körper, der ja diese Erfahrungen mit erzeugt hat. Wie die Umwandlung einer körperlich-geistigen Information in eine rein geistige vonstattengehen soll, ohne dass dabei etwas verloren oder verzerrt wird, bleibt der puren Fantasie überlassen.

Es werden allerdings nach verschiedenen Anschauungen diese gesammelten Lebenserfahrungen beim Weiterleben der vom Körper abgetrennten Seele benötigt, da sie die Grundlage dafür darstellen, wie die Seele nach dem Abschied vom Körper von einer höheren Instanz beurteilt wird. Sie soll ja nach dieser Beurteilung entweder, wie im Christentum, Himmel, Hölle oder Fegefeuer zugeteilt zu bekommen oder, wie im Hinduismus und Buddhismus, für die Existenzform in der nächsten Inkarnation eingestuft wird, also z.B. als Brahmane oder als Regenwurm. Abgesehen von der Frage, wie aus der riesigen Menge an Daten, die sich aus den vielfältigen Erfahrungen ergeben, die ein Mensch im Lauf seines Lebens sammelt, ein zutreffendes und gerechtes Urteil gefällt werden kann, das einer Menschenseele dann auch plausibel erscheint, abgesehen also von der Frage einer fairen Bewertung eines ganzen Lebens, bleibt uns nur die Spekulation zu erklären, wie die entsprechenden Daten überhaupt über den Tod des Körpers, der sie abgespeichert hat, gerettet werden können.

Eine weitere Frage stellt sich: Was verbindet denn anfangs die Seele mit dem Körper? Es muss ja etwas geben, das dafür sorgt, dass die Seele beim oder im Körper bleibt, und etwas, das sie dann wieder freigibt, wenn der Körper sein Leben aushaucht. Was ist das für ein „Kleber“, der mit der Zeit müde wird, bis auseinanderbricht, was er zusammengehalten hat? Sind das die Gefühle, die wir einerseits seelisch und andererseits körperlich erleben? Woher kommen aber diese und wohin gehen sie, wenn es nur zwei Wesenseinheiten gibt? Wenn es eben zwei getrennte Wesenseinheiten gibt, wie soll da etwas existieren können, was in beiden gleichermaßen vorhanden ist – das wäre ja dann eine dritte Wesenheit?

Welche Form von Leben ist es, über die die Seele zum Unterschied vom Körper verfügt? Außer dass es eine „ewige“ Form sein soll, gibt es darüber keine Aussagen. Wir kennen ja sonst nur Formen von Leben, die in belebten, also auch materiellen Wesen stattfinden. Leben beinhaltet z.B. Stoffwechsel und Fortpflanzung. Verfügt die Seele über Stoffe, die getauscht werden und pflanzt sie sich fort? Offenbar nicht. Wie diese nichtmaterielle Lebensform beschaffen ist, können wir wiederum nur in unserer Fantasie ausmalen.

Ohne vorgefasste Konzepte


Und so weiter – es gibt jede Menge ungelöster Fragen an die Dualitätslehren. Probieren wir den radikalen Schnitt und verzichten wir auf die Konzepte aus den verschiedenen religiösen, esoterischen und ideologischen Gedankengebäuden. Was bleibt dann noch übrig?

Gehen wir einmal davon aus, dass dieses „Leben der Seele ohne Körper“ ein Produkt unserer kreativen Fantasie ist, so wie wir uns vorstellen können, dass Steine herumgehen oder Teppiche fliegen. Könnte es sein, dass wir selbst in unserer Fantasie und in unseren Träumen nie aus der materiellen Raum-Zeit herauskommen können, weil unser gesamtes Informationsverarbeitungssystem aus raum-zeitlichen Komponenten besteht (unser Gehirn und unsere Wahrnehmungsorgane enthalten jede Menge Materie)? Zwar sind Informationen immateriell, tauchen aber nirgends unabhängig von Materie auf, sondern gewissermaßen als deren Inneres oder deren Rückseite (das sind natürlich auch schon wieder räumliche Begriffe), die wir nie direkt wahrnehmen können (weil unsere Wahrnehmung nur Gegenständliches erkennt), sondern bloß an ihrer Wirkung erkennen und mit Hilfe dieser Erkenntnis verarbeiten. Die Verarbeitung ist dann wiederum ein materiell-immaterieller Vorgang.

Also gewinnen wir all unser Wissen und auch all unser Glauben aus diesem ineinander verflochtenen Interagieren und Zusammenarbeiten von Materie und Geist. Wie sollen wir uns da eine sinn- und gehaltvolle Vorstellung machen von einem Zustand, in dem eine Komponente dieser Einheit aufgibt und verschwindet? Das wäre so wie wenn wir uns vorstellen, dass der Boden, auf dem wir stehen, weggezogen wird, und dabei zu meinen, dass wir an der gleichen Stelle bleiben können. Wir können die Schwerkraft zwar wegdenken, müssen aber zugeben, dass ein Zustand ohne sie ein reines Gedankenspiel ist, bei dem die Wirklichkeit nicht mittut. Wie also soll die Wirklichkeit mittun, wenn wir uns wünschen, dass eine Seite unserer Leib-Seele-Dualität übrigbleibt, wenn die andere ihren unvermeidlichen Gang in die Verwesung antritt?

Dualität und Dissoziation


An diesem Punkt übergibt der Philosoph an den Psychotherapeuten. Es heißt, die Seele geht rein in den Körper und dann wieder raus. Natürlich erinnert das frappant an den Vorgang der Dissoziation, der eine Reaktion des Nervensystems auf traumatische Erfahrungen darstellt. Passiert ein Trauma, geht die Bewusstheit raus aus dem Körper, und wenn sich dieser wieder beruhigt, geht das Bewusstsein wieder hinein. Weil wir alle diese Erfahrung kennen, übertragen wir dieses Konzept auf unsere Vorstellung von der Seele?

Menschen mit Nahtoderfahrung berichten z.B., dass sie in diesem Zustand keine der üblichen Gefühle (Schmerz, Angst, Wut...) erlebt haben. Für die Ähnlichkeiten zwischen außerkörperlichen Erfahrungen und Dissoziation gibt es wissenschaftliche Belege. Außerkörperliche Erfahrungen, die in Nahtoderfahrungen auftreten können, gleichen den Dissoziationen, die nach Stresserfahrungen auftauchen und die als normal betrachtet werden. Psychiatrische Fälle von Dissoziationen weisen wesentlich stärkere Symptome auf.

Wir können den Vorgang folgendermaßen interpretieren: Der Körper existiert selber in Raum und Zeit, und ebenso seine sinnlichen Wahrnehmungsvorgänge, von denen er abhängig ist. Zu außerkörperlichen Erfahrung kommt es, wenn der Körper ein Notfallprogramm aktiviert und damit die normalen Informationsverarbeitungsvorgänge, also auch die normale Wahrnehmung abschaltet. Damit tritt die Bindung an Raum und Zeit in den Hintergrund, und die Erfahrung einer frei vom Körper losgelösten Seele entsteht als eigene Wirklichkeit. Sie verschwindet aber wieder, wenn sich der Bewusstseinszustand wieder normalisiert.

Wir interpretieren dann unser Erleben so, dass die Seele den Körper verlassen hat und dann wieder zurückgekehrt ist. Allerdings geschah dieses Erleben innerhalb eines Körpers und beruhte auf einer Sinnestäuschung, die als Folge der extremen Belastung des Organismus in der Traumasituation entstanden ist. Ähnlich wie durch die Unterbrechung der Schmerzleitung im Organismus bei einem schweren Unfall dem Bewusstsein vorgetäuscht wird, es wäre nichts Ernsthaftes passiert, suggeriert der traumatisierte Organismus dem Bewusstsein, dass alles in Ordnung ist, weil die „Seele“ jetzt alles von oben aus einer sicheren Distanz beobachten kann.

Solange wir im Körper sind, brauchen wir die Realitätskonstruktion, die mit Raum und Zeit verbunden ist. Wir können einen außerkörperlichen Erfahrungszustand nur fantasieren und konstruieren. Wenn der Körper unter maximalen Stress gerät wie in einer lebensbedrohlichen Situation nach einem Unfall, schaltet sich offenbar die raumzeitliche Wahrnehmung ab und es kommt zu einem Zustand des erweiterten Bewusstseins, in dem besondere Fantasien gebildet werden.

Diese ähneln solchen, die wir auch in tiefer Meditation erfahren können: Alles ist verbunden, alles ist eins, alles ist gut. Der wichtige Unterschied liegt darin, dass die eigentlich spirituelle Erfahrung im Körper verankert ist und nur dadurch eine ganzheitliche sein kann. Jede Erfahrung, die eine Trennung vom Körper enthält, ist keine spirituelle Öffnung, sondern nur die Wiederholung einer Dissoziationserfahrung. Also, im Sinn der Prä-Trans-Verwechslung nach Ken Wilber, sind Dualitätserfahrungen keine spirituellen transpersonalen Erfahrungen, sondern gehören in den präpersonalen Bereich.

Vielleicht reden wir deshalb so leicht und selbstverständlich von paradiesischen Zuständen, die dereinst auf uns warten, weil sie uns zumindest ansatzweise von dissoziativen Erfahrungen bekannt sind? Vielleicht lassen sich deshalb noch immer Menschen mit Versprechungen auf jenseitige paradiesische Freuden zu Taten verleiten, die anderen Menschen die Hölle auf Erden bereiten (wenn sie, wie die Kreuzritter, in Jerusalem ein Blutbad anrichten oder wie Selbstmordattentäter, Schulbusse in die Luft sprengen)?

Vielleicht ist auch diese Dualität, nämlich die von Himmel und Hölle, eine kondensierte Traumageschichte – auf der einen Seite die Hölle als Widerspiegelung aller traumatischen Erfahrungen, auf der anderen Seite der Aufstieg in den Himmel als Erinnerung an alle Dissoziationserfahrungen?

Was ohne Dualität und ohne Illusion bleibt


Jetzt zum „Gegenmodell“: Was bleibt denn, wenn wir auf die Grunddualität von Leib und Seele verzichten?

Jeder Mensch entsteht aus einer Materie-Geist-Samenzelle und einer Materie-Geist-Eizelle. Bei der Empfängnis bildet sich ein neues, einzigartiges Individuum, in einer einzigartigen Einheit von Materie und Geist. Diese Einheit bildet ein individuelles Einheitsbewusstsein. Belastende und nicht integrierbare Erfahrungen reißen es auseinander, sodass ein Dualitätsbewusstsein an die Seite des ursprünglichen Einheitsbewusstseins tritt. Im späteren Leben entwickeln sich auf dieser Grundlage in Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Kulturmustern der Familie und Gesellschaft, in die das Individuum geboren wird, duale Weltbilder und Religionsanschauungen. Diese haben die Funktion, für die erlittenen Verwundungen und Verletzungen Trost und Hoffnung zu spenden. In dem Maß jedoch, in dem die frühen Störungen geheilt werden, schwindet das Bedürfnis nach dualen Modellen der Welterklärung. Die ganzheitliche körperlich-geistige Erfahrung im jeweiligen Moment gewinnt immer mehr Bedeutung.

In gleichem Maß wird die Frage nach dem, was nach dem Tod sein wird, irrelevant. Der Tod selber gehört zur Ganzheit des Lebens. Er birgt ein Geheimnis, das nur scheinbar in der Fantasie gelüftet werden kann, als Schreckens- oder Wunschvorstellung, je nachdem. Denn das Geheimnis bleibt, weil es Teil unseres Menschseins ist, das es zu akzeptieren gilt. Wir können nämlich als Körper-Geist-Wesen nichts von unserem Nicht-mehr- Körper-Geist-Wesen-Sein wissen, weil eben jedes Wissen, über das wir verfügen, aus dieser Einheit von Körper und Geist erwächst, die wir sind.

Wir stoßen hier an eine absolute Grenze unserer Einsichtsmöglichkeiten, die sich nur unser Stolz und unsere Überheblichkeit nicht gefallen lassen will. So vermeinen wir, über das Ganze unseres Lebens verfügen zu können, indem wir zumindest voraus wissen könnten, was nach dem Tod „mit uns“ geschieht. Wenn wir dagegen die absolute Ohnmacht zulassen, die mit dem Sterbenmüssen ohne jede Sicherheit und ohne jede Aussicht auf ein Danach verbunden ist, können wir auf all diese Illusionen verzichten. Dann durchschauen wir sie als bloße Hilfskonstruktionen, die uns im Diesseits helfen sollen, besser mit dem Leben zurecht zu kommen, die aber keinen Aussagewert über das Jenseits haben.

Gelingt es uns, auf diese Konstrukte zu verzichten, haben wir die Freiheit gewonnen, die darin liegt, dass zumindest eine der „letzten Fragen“ ihren Sinn verloren hat. Wir müssen nichts wissen über das, was nach dem Ende der Körper-Seele-Einheit, die wir sind, passiert. Wir brauchen dafür auch keinen Glauben, wenn wir uns bescheiden mit dem, was uns die gegenwärtige Erfahrung in jedem Moment bieten kann an Schönheiten und an Herausforderungen.

Vgl. zur Ähnlichkeit von Nahtoderfahrungen und Dissoziationen: http://folk.uio.no/benjamil/neardeath/neardeath_psych2.pdf

1 Kommentar:

  1. Deine Gedanken zur Dualität sprechen mich sehr an. Es sind Gedanken, die von anderen Menschen sicherlich als sehr revolutionär und beängstigend wahrgenommen werden könnten, da sie den meisten Anschauungen etwas äußerst Gegenteiliges gegenüberstellen.. In ihrer Klarheit und Einfachheit machen sie aber auch wieder Sinn. Alleine die Möglichkeit, einen konträren Standpunkt zu den gängigen Gedankenlehren mitdenken zu können, war wunderbar.

    Danke für diese, Deine Gedanken. Ich fühle mich wieder einmal sehr bereichert.

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