Ich folge hier der Frage, ob der freie Wille auf
verschiedenen Ebenen der Bewusstseinsentwicklung verschiedene Bedeutung haben
kann, womit der Streit um die „Existenz“ oder „Brauchbarkeit“ des freien
Willens aufgelöst werden könnte. Denn dann ist jede Antwort auf die Frage immer
auf eine der Ebenen bezogen und hat nur innerhalb dieses Rahmens einen Sinn.
Ich verwende das Modell der Bewusstseinsentwicklung aus meinem Buch „Vom Mut zu
wachsen“.
Die erste, tribale Stufe
Im Stammesgefüge hat immer im Zweifelsfall der Gesamtwille
des Stammes den Vorrang vor dem, was der Einzelne möchte. Dieser Gesamtwille
speist sich aus den tradierten Regeln und Weisheiten, über die vor allem die
Älteren verfügen. Die Freiheit, aus diesen Regeln auszusteigen, sie zu ändern
oder zu ignorieren, besteht nicht. Natürlich verfügen die Menschen in diesen
Zusammenhängen über ein subjektives Gefühl der freien Entscheidung, doch sind
sie so stark emotional und mental in das Stammesbewusstsein eingebunden, dass
dieses individuelle Willensgefühl nur in den Bereichen des eigenen persönlichen
Lebens zum Tragen kommt und zurückgestellt wird, wenn es um das Ganze des
Stammes geht.
Die zweite, emanzipatorische Stufe
Hier geschieht genau das, was auf der ersten Stufe verwehrt
war. Der Wille will sich aus der Vorherrschaft der Regeln befreien. Nichts mehr
soll ihn beschränken. Der freie Wille wird zur Willkür, die nur dort Grenzen
akzeptiert, wo die Macht größer ist als die eigene. Der freie Wille wird
trotzig behauptet und gilt als Rechtfertigung des Handelns, auch wenn es die
Regeln und auch wenn es andere Menschen verletzt. Er stellt sich gegen die
tradierten Regeln und Normen und will sie aufbrechen. Die Menschen auf dieser
Stufe prägen geradezu ihre Identität mit
dem Satz: „Ich will, also bin ich.“
Die dritte, hierarchische Stufe
Der freie Wille, der sich in der vorigen Stufe Bahn
gebrochen hat, wird hier durch ein übergeordnetes Regelwerk eingedämmt und
gezähmt. Dieses Regelwerk bemisst sich nicht mehr an Traditionen, sondern an
den Erfordernissen von Großorganisationen, in welche die Menschen „eingepasst“
werden, indem sie ihren Willen zwar wahrnehmen, aber aus Angst und Vernunft auf
seine Anwendung verzichten.
Die Menschen werden „zur Verantwortung gezogen“, es wird
ihnen der freie Wille zugemutet, und sie können sich nicht mehr auf andere ausreden.
Sie „werden in die Pflicht genommen“. Bei jedem Regelverstoß drohen Strafen,
und die Angst davor motiviert zum Verzicht auf die Durchsetzung der eigenen
Wünsche. Die Loyalität, die die Machtträger einfordern, ist jedoch brüchig,
weil die Untertanen bei der erstbesten Gelegenheit versuchen, aus dem System
der Überwachung und Kontrolle auszubrechen.
Die vierte, materialistische Stufe
Der freie Wille bekommt wieder ein Betätigungsfeld im
Bereich der wirtschaftlichen Entscheidungen. Er ist ein prägender Faktor am
freien Markt. Jeder ist seines Glückes und seines Unglückes Schmied. Jeder kann
Millionär werden oder Tellerwäscher bleiben.
Das ist der Zynismus des freien Willens: Die Individuen
haben die volle Freiheit des autonomen Wirtschaftssubjekts und eine unendliche
Möglichkeit zu wählen, andererseits können sie nie die Einsicht in die gesamten
Zusammenhänge haben. Sie sind für all ihre Handlungen verantwortlich, und wenn
sie Fehler machen, tragen sie die Verantwortung. Sie nehmen z.B. einen Kredit
auf und können ihn nach einiger Zeit nicht mehr zurückzahlen, die Zinsen
steigen, und irgendwann haben sie alles verloren. Und sie tragen die ganze
Schuld an dieser Entwicklung, sie hätten sich ja auch anders entscheiden
können. Der freie Wille wird als abstraktes Konstrukt zugemutet und diese
Zumutung führt dazu, dass sich die Menschen noch mehr von sich selbst
entfremden.
Die Kritik an dieser Bewusstseinsstufe verdeutlicht, dass
die Wirklichkeit der Willensfreiheit an materielle Bedingungen geknüpft ist. Für
den einen bedeutet sie die Frage, ob sie ihre Villa auf diesem oder jenem Hügel
bauen, für die anderen, ob sie eine Drecksarbeit machen oder verhungern.
Deshalb Herausforderung an die 5. Stufe, die Freiheit neu zu
definieren, dort wird sie sich auch mit politischen Forderungen verbinden: Die
Möglichkeitsräume für alle Menschen so zu erweitern, dass sie sich selbst mehr
entfalten und verwirklichen können, dass sie also ihren freien Willen
gestaltend einsetzen können.
Die fünfte, personalistische Stufe
Hier kommt die Willensfreiheit zu ihrer höchsten Blüte. Der
Mensch der fünften Stufe kann sagen: „Ich bin frei, also bin ich“. Freiheit ist
der zentrale Begriff dieser Bewusstseinsstufe, als innere Erfahrung und als
Forderung, individuell wie gesellschaftlich. Ich kann alles aus mir machen, was
ich nur will. Ich muss nur richtig wollen und fest daran glauben. Die Freiheit
des Willens drückt sich in der kreativen Gestaltung des Lebens aus, wie sie im
künstlerischen Ausdruck vorgelebt wird. Dennoch: Auch wenn die Künstlerin frei
ist, wie sie die Pinselstriche setzt, muss sie sich ein Stück dem Kunstwerk unterordnen,
das ihr vorschreibt, was ins Bild passt und was nicht. Damit erfährt sie
bereits ein Element der nächsten Bewusstseinsstufe.
Die ethische Reflexion wird in alle Bereiche des Lebens
eingeführt. Alles ist Gegenstand der eigenen Entscheidung, des eigenen
Lebensentwurfs. Wir erleben uns als SchöpferIn unseres Lebens. Jeder Moment
stellt die Herausforderung, unser Leben neu zu beginnen und zu orientieren. Weder
die Vergangenheit noch die Erwartungen anderer Menschen können uns davon
abhalten, das zu tun, was wir für richtig halten und wofür wir uns entscheiden.
Hierher gehört auch die Entscheidungsfreiheit, die uns auf
den spirituellen Weg führt. Die personalistische Ebene erinnert uns daran, dass
wir spirituelle Weisheiten nicht als Ausrede verwenden sollten, wie z.B. dass
ja alles vorherbestimmt ist und wir deshalb tun und lassen können, was wir
gerade wollen, auch wenn es uns oder anderen schadet und Leid zufügt. Auch auf
dem Weg nach innen stehen wir immer wieder vor einer persönlichen Entscheidung,
das Gute zu wählen statt dem Bösen oder Schlechten.
Die sechste, systemische Stufe
Der freie Wille verliert seine dominante Stellung und ordnet
sich den systemischen Zusammenhängen unter. Zwar kann jeder aus einem System
ausscheren, wenn er will, aber die systemische Vernunft lehrt, dass es
sinnvoller und nützlicher ist, immer wieder den eigenen Willen zurückzustellen
und der Kraft des Systems Raum zu geben. Sich im rechten Moment einbringen und
dann wieder zurücknehmen, gehört zu den Tugenden dieser Stufe. Damit werden die
Grandiosität und der Pathos des freien Willens eingeschränkt und aus dem
Zentrum der eigenen Identität an die Peripherie verschoben. Wichtig ist es
nicht, den eigenen Willen durchzusetzen, sondern mit den eigenen Mitteln zum
Gelingen des Ganzen beizutragen.
Die siebte, holistische Stufe
Auf dieser Stufe werden alle Ideen von Freiheit, wie sie auf
den früheren Stufen gebildet worden waren, überprüft und revidiert. Hier geht
es darum, wie sich das Ich und die Welt darstellen, wenn es keine Ängste und
starren Festlegungen mehr gibt und wenn statt dessen das volle Vertrauen in die
fließende Entwicklung des Lebens und der Wirklichkeit zugelassen werden kann.
Die Befreiung von der Freiheit des Willens lässt uns hier in einen größeren
Raum fallen, in dem wir alles nur als Ballast empfinden, was wir uns an
Grundprinzipien und Wesenserkenntnissen aufgebaut haben.
Der freie Wille wird jetzt als Instanz des Egos entlarvt,
als Wichtigtuer, der nur Hindernisse auf dem Weg zur eigentlichen inneren
Freiheit auftürmt. Denn er vermeint, alles aus eigenem Antrieb und eigener
Kraft schaffen zu müssen, während ihm in Wirklichkeit selber nichts gehört und
alles gegeben wird. Es gibt keine eigene Leistung mehr, weil das Eigene nicht
Eigenes ist, sondern Geschenktes. Also braucht es keinen freien Willen mehr,
der sich solche Leistungen zuschreiben will.
Wenn sich die Ängste aufgelöst haben, erkennen wir, dass wir
auf die Konzepte und Konstrukte verzichten und uns statt dessen dem Strom des
Lebens anvertrauen können. Ist es für den Wassertropfen im Ozean wichtig, ob er
sich entscheidet, ein wenig nach unten oder nach oben zu schweben? Er hat schon
alles und ist schon alles, in einer willenslosen oder willentlichen, jedenfalls
grenzenlosen Freiheit.
Ist dir bewusst was Erleuchtung ist lieber Wilfried?
AntwortenLöschenIn Liebe
Liebe Elisabeth, ich bin schon oft Menschen begegnet, die von sich gesagt haben, dass sie erleuchtet sind. Deshalb ist mir bewusst, dass es möglich ist, sich ganz der inneren Freiheit zu überantworten.
LöschenIch selber suche und brauche keine Bezeichnung, weiß aber um die Geschenke der inneren Freiheit.
Ich würde noch gerne wissen, was hinter deiner Frage steckt!