Montag, 24. September 2018

Tun und geschehen lassen

Das Leben besteht aus Aktivitäten, mit denen wir verändern, gestalten und einwirken. Wir sollen uns „die Erde untertan machen“, wie es in der Bibel heißt. Nach unseren Taten werden wir bemessen und beurteilt, nach unseren Leistungen orientiert sich unser Status in der Gesellschaft, das haben wir immer wieder gehört. Je mehr wir tun, desto weiter kommen wir nach oben, usw. So oder so ähnlich lauten unsere Handlungsprogramme, Mischungen aus Überlebensstrategien und kreativen Impulsen. Danach bestimmt sich auch auf weite Strecken unser Selbstverständnis in der Leistungsgesellschaft: wo wir sind auf der Leiter, ist das Resultat unserer Handlungen, unseres Fleißes und unserer Anstrengungen.

Die Grundannahme, die wir dabei voraussetzen, besteht darin, dass  wir uns als die Akteure, Regisseure und  Verantwortliche für unser Leben wahrnehmen. Wir halten uns selbst für entscheidungs- und handlungsfähig, ebenso wie unsere Mitmenschen. Das ist auch wichtig und notwendig so, denn sonst hätte der Begriff Verantwortung keinen Sinn mehr. Allerdings gibt es dazu auch noch eine andere Seite zu beachten.


Unser Unterbewusstsein entscheidet


Wenn wir einen Blick hinter die Fassaden dieser Annahmen werfen, relativiert sich nämlich dieses Bild. Neurobiologen und Hirnforscher haben herausgefunden, dass die Entscheidungen, die unseren Handlungen vorausgehen, zuerst in den unterbewussten Teilen unseres Gehirns gefällt werden. Die bewussten Entscheidungszentren geben nachträglich die Zustimmung zu den zuvor getroffenen Entscheidungen und tun so, als wären sie es gewesen. Das erinnert an die Vorgänge in der Justiz der Stalinzeit, wo ein Gerichtsverfahren abgewickelt wurde und der Richter vor der Urteilsverkündung in sein Zimmer ging, um bei der Parteizentrale anzurufen, die ihm dann mitteilte, welches Urteil er zu verkünden hat.

Wir glauben, dass unsere Handlungen auf bewusst gefällten Entscheidungen beruhen. Doch offensichtlich sind wir da auf dem Holzweg: Wir handeln aufgrund von unbewusst ablaufenden Entscheidungsprozessen, denen unser Bewusstsein nachträglich zustimmt. 


Der freie Wille als Illusion


Die Konsequenzen, die wir aus diesem Befund ziehen müssen, decken sich mit Auffassungen aus ganz anderer Richtung, nämlich aus der Advaita-Lehre, die in Indien vor mehr als 2500 Jahren entstanden ist. Sie besagt, dass der freie Wille nur eine Illusion des Verstandes ist. Alles, was geschieht, ist genauso bestimmt, wie es geschehen soll. Wir bilden uns nur ein, dass wir einen Einfluss auf das Geschehen ausüben. Tatsächlich ist jeder Einfluss selbst Teil des Geschehens und als solcher ohne willentliche Veranlassung. Die innere Freiheit, die im Advaita in der Vereinigung von Brahma (Weltseele) und Atman (Individualseele) gefunden wird, wird möglich, wenn der freie Wille als Illusion erkannt und verstanden wird. Dann gibt es keine individuelle Schuld mehr, und die Unterschiede von Gut und Böse wie auch alle anderen Dualitäten fallen in sich zusammen. Advaita, was so viel wie Nicht-Dualität heißt, wird verwirklicht.

Was passiert, wenn dieses Konzept auf die Erfahrungsebene übersetzt wird? Wir erleben uns so, dass wir uns permanent im Fließen mit dem befinden, was gerade entsteht und wieder vergeht. Wir sind Teil eines Stromes von Veränderungen und gehen einfach mit, ohne uns einzumischen. 

Wer sich einmischen möchte, ist unser Ego. Befinden wir uns in diesem Fließen, so kann unser Ego daraus weder Nutzen oder Schaden ziehen. Es ist ruhiggestellt. Es wird zwar versuchen, sich immer wieder wichtig zu machen, indem es das Eine oder Andere an dem, was geschieht, ablehnt oder begehrt, wird aber bei der Rückbesinnung auf das Geschehen wieder ruhig gestellt. 

Das Advaita-Konzept mag manchem als abgehoben und weit hergeholt erscheinen. Dennoch ist es nicht so weit entfernt von dem, was unser tagtägliches Leben ausmacht. Die meisten Abläufe unseres Lebens geschehen einfach, ohne unser bewusstes Zutun. Wir bekommen zwar mit, was wir gerade tun, aber brauchen gar nicht den Eindruck, dass wir die Entscheidungen dazu treffen. Wir ziehen unsere Schuhe an, wenn wir rausgehen und nehmen noch einen Schirm, wenn es regnet. Wir setzen unsere Schritte und schauen, wohin wir gerade schauen, ohne dass es dafür eine Entscheidungsinstanz braucht. 


Wie erleben wir Entscheidungsprozosse?


Dann gibt es Situationen, in denen wir mit Entscheidungen ringen: soll ich oder soll ich nicht? Passen diese oder jene Schuhe besser zum aktuellen Wetter? Braucht es heute wirklich einen Schirm? Irgendwann fällt die Entscheidung, und wir bewegen uns weiter. Wie aber fallen solche Entscheidungen? Wir lamentieren in uns selber herum, erwägen dies und jenes, sind mal bei der einen Option, dann erscheint uns die andere als verlockend usw. Irgendwann schreiten wir zur Handlung und haben das Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben. Wir alle kennen das, wir unterscheiden uns nur im zeitlichen und energetischen Ausmaß dieser Entscheidungsphase; manche Menschen zögern und zaudern, manche überwinden diese Phase rasch und stürzen sich schnell ins Tun, manchmal mit einer Nachentscheidungsdissonanz: Hätte ich nicht doch besser die andere Option wählen sollen?

Wenn wir uns näher anschauen, was in diesen expliziten Entscheidungsprozessen geschieht, stellt sich die Frage, ob es einen Punkt gibt, an dem wir unser inneres Lavieren bewusst beenden und bewusst wählen, was als nächstes geschehen soll. Ich stehe jeden Morgen vor der Dusche und überlege ein paar Momente, ob ich mich der kalten Dusche aussetzen soll. Ich mache das schon einige Jahre lang, jeden Morgen, und doch kommen diese Momente des Zögerns jedes Mal. Nach ein paar Sekunden gehe ich in die Dusche und freue mich nach dem ersten Schock über die angenehmen Wirkungen der Kälte. All das ist Teil eines gewohnten Rituals, das mit kleinen Variationen jeden Tag in gleicher Form abläuft. Subjektiv habe ich das Gefühl, ich treffe die Entscheidung, wann ich mit dem Duschen beginne, aber genauso gut kann ich annehmen, dass die Entscheidungsprozesse in mir jeden Morgen in gleicher oder ähnlicher Weise ablaufen, und dass es dieser bewussten Zutat gar nicht bedürfte, damit in Gang kommt, was sowieso in Gang kommt. 


Wichtigtuer Ego


Also scheint es, dass die Entscheidungsfreiheit, auf die wir so stolz sind, nur ein Entgegenkommen an unser Ego ist, damit es sich als Urheber dessen, was geschieht, ansehen kann. Es wird in seiner Wichtigkeit bestätigt: Ich war es, ich habe diese Entscheidung getroffen, das ist auf meinem wunderbaren Mist gewachsen. Ich bin so mächtig in meinem Leben. Die Kehrseite dabei ist, dass ich es auch war, wenn die Entscheidung negative Konsequenzen zeitigt. Dann bin ich schuld, weil ich eine falsche Wahl getroffen habe. Ich habe etwas verbockt und muss mich dafür kritisieren.

Wir sind stolz auf unsere Leistungen und wir suchen Anerkennung dafür. Doch sollten wir stolz auf unser Unterbewusstsein sein, das sich im richtigen Moment für die richtige Sache entschieden hat, die uns dann einen Erfolg beschert hat. Schnell übersetzt sich in dieser Perspektive unser Stolz in Dankbarkeit, dass uns unsere Leistungsfähigkeit, unsere Willenskraft, unsere Zielstrebigkeit geschenkt wird, mal mehr und mal weniger. Damit zieht sich unser Ego ins Eck der Bescheidenheit zurück und kann sich entspannen.

Und wir brauchen dann nicht mehr verächtlich auf jene hinunterblicken, die es nicht so toll geschafft haben wie wir selber. Auch sie führen aus, was aus ihren inneren Programmen kommt, und das ist möglicherweise weniger erfolgsträchtig in unserer Gesellschaft, aber von einem anderen Standpunkt aus betrachtet vielleicht nicht weniger wertvoll als das, was wir hochschätzen.

Sagen wir ganz einfach Ja zum Moment und schauen wir, was als nächstes geschieht - vielleicht genau das, was wir erwarten, vielleicht eine Überraschung.

Zum Weiterlesen:
Advaita und die Vorherbestimmung
"Alles ist bestimmt"
Freier Wille - heilige Kuh, Illusion oder Wesensmerkmal?
Freier Wille und die Ebenen der Bewusstseinsentwicklung

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