„Der Mensch ist frei, und wäre er in Ketten geboren“, so tönt es laut seit Schillers Zeiten in allen fortgeschrittenen Gesellschaften. Der freie Wille ist das Markenzeichen des modernen Menschen, der aus seinem Leben machen kann, will und soll, was aus ihm selber entspringt, nicht gelenkt von Obrigkeiten oder gesellschaftlichen Erwartungen.
Zum Streit um den freien Willen
Doch immer wieder gibt es, vor allem aus dem Weltbild der Naturwissenschaften, massive Zweifel an der Existenz des freien Willens. Schließlich befindet sich jeder Ablauf in der Natur, also auch im Menschen, in einer lückenlosen Kausalkette, und wo eine solche nicht evident ist, wird sie gesucht. Ein Ereignis bedingt das nächste, und ein freier Wille wird in der Betrachtung und Beschreibung der Prozesse nicht benötigt (obwohl auch dessen Vorhandensein zumindest im Darüber-Reden Produkt der Kausalkette sein müsste). Dazu kommt noch, dass Vertreter der modernen Gehirnforschung gerne darauf hinweisen, dass der freie Wille nur eine Einbildung höherer Gehirnzentren ist, die das, was tiefere und unbewusst ablaufende Zentren bereits entschieden haben, hintennach mit dem Etikett versehen: „Das war jetzt meine freie Willensentscheidung“.
Aus einem ganz anderen Eck kommen spirituelle Lehrer z.B. aus der Advaita-Schule, die den freien Willen mit einem anderen Argument aushebeln: Die allwissende und alles bestimmende göttliche Intelligenz hat jedes Ereignis dieses Universums bis in jedes Detail hinein vorausgedacht, sodass bereits alles festliegt, was sich jemals ereignen könnte. Damit ergibt sich, ähnlich wie in der Ansicht moderner Gehirnforschung, der freie Wille als Illusion und Selbsttäuschung.
Heiß umstritten präsentiert sich somit der freie Wille den aufgeklärten Anhängern der Moderne, den Gläubigen der Naturwissenschaften und den Schülern fernöstlicher Lehren. Für unser Selbstverständnis und für unser Verständnis anderer Menschen erscheint es aber nicht gleichgültig oder akademisch, ob unser Wille nun frei ist oder nicht.
Zur Biographie des Willens
Wenn wir an unser Aufwachsen zurückdenken, können wir erkennen, dass irgendwann das Bewusstsein des eigenen freien Willens aufgetaucht ist. Als Neugeborenes hatten wir noch andere Sorgen, die ersten Kontakte aufzubauen und uns um unsere Sicherheit und Grundversorgung zu kümmern. Wir waren noch sehr im Fließen einer von biologischen Prozessen gesteuerten Entwicklung ohne das Wissen um Verhaltensalternativen und ohne Möglichkeiten, solche umzusetzen. Natürlich erkannten wir schon bald, dass unser Verhalten auf das Verhalten unserer Umgebung Auswirkungen hatte. Später wird dieser Eindruck immer stärker, und mit der Beherrschung des Wortes „Nein!“ und des Satzes „Will ich nicht!“ ist uns deutlich, dass wir über einen eigenen Willen verfügen.
Als Erwachsene ist uns klar: Wir können entscheiden, was wir wollen – nehmen wir uns jetzt die roten oder die grünen Äpfel aus dem Regal? Fahren wir mit dem Auto oder nehmen wir ein öffentliches Verkehrsmittel? Sind wir freundlich zu jemandem oder nicht? Allerdings: Sind diese Entscheidungen so frei, wie sie uns erscheinen? Wer oder was bestimmt wirklich, ob wir die grünen oder die roten Äpfel kaufen? Unsere Vorerfahrungen, unsere Erwartungen, der momentane Hungerzustand, die Platzierung im Geschäft, die Werbung…. Bin ich wirklich in der Lage, zu entscheiden, ob ich freundlich zu jemandem bin, vor allem, wenn ich gerade einen Konflikt mit der Person hatte? Aber was hindert mich daran, wenn ich doch frei bin?
Wie oben erwähnt, haben die Gehirnforscher festgestellt, dass sich das bewusste Entscheidungszentrum, das in unserem präfrontalen Cortex beheimatet ist, erst ganz am Schluss in den Prozess der Entscheidungsfindung einbringt, wenn schon alles klar ist. Vorgänge, die tief in unserem Unterbewussten ablaufen, fällen nach Abwägung aller Fürs und Widers die Entscheidung, und der Neocortex gibt am Schluss noch seinen Senf und Segen dazu, so als würde er sagen: „Ja, ich weiß zwar überhaupt nicht, warum gerade diese Entscheidung gefallen ist, aber das Ganze war eine durch und durch bewusste und rationale Entscheidung, für die ich jederzeit alle relevanten Gründe nennen kann.“ Wir wissen also nie, und können es auch nicht wissen, ob die Gründe, die uns für eine Entscheidung einfallen, wirklich diejenigen sind, die zur Entscheidung geführt haben. Dennoch tun wir so, als wären wir darüber voll im Bilde. Deshalb ist der Spruch über den Menschen als rationalisierendes (Gründe erfindendes) und nicht als rationales (vernünftiges) Tier nicht so abwegig.
Zur Notwendigkeit des freien Willens
Wieso haben wir dann überhaupt diese Instanz, die uns einen freien Willen vorspiegelt? Ich denke, sie erfüllt zwei wichtige Funktionen. Die eine liegt darin, dass wir damit ein Selbstgefühl als Handelnde, als Akteure im Geschehen entwickeln, das uns bei der Zukunftsplanung hilft. Auch die Entwicklung kreativer Ideen wird damit unterstützt, weil wir uns rückversichern, dass wir etwas Tolles geschaffen haben und damit motiviert, dran zu bleiben. Wir erleben uns selbst als Zentrum unserer Welt, als Nabelpunkt, um den sich alles dreht.
Die andere Funktion liegt im sozialen Gefüge, in der Gestaltung des Zusammenlebens einer Gruppe und einer Gesellschaft. Es setzt voraus, dass sich die Mitglieder an Regeln halten können und diese anwenden, also je nach Situation das Verständnis von Regeln frei umsetzen. Außerdem sollen die einzelnen Willensäußerungen immer wieder zu einer gemeinsamen Willensbildung finden. Dabei gehen die Mitglieder davon aus, dass sie selbst und alle anderen auch über einen freien Willen verfügen. Bei Verstößen gegen Regeln werden sie demnach zurechtgewiesen oder bestraft, um sie zur Reflexion der eigenen Willensentscheidungen zu bringen. Wenn sie selbst einen Fehler begangen haben, rechtfertigen sie sich auch nicht mit dem Hinweis, dass sie über keinen freien Willen verfügen, sondern vielleicht damit, dass sie in der betreffenden Begebenheit nicht im Vollbesitz ihres Willens waren.
Wir nehmen auch an, dass wir uns in unseren Entscheidungsfähigkeiten entwickeln und weiterbilden, was auch wieder die Annahme eines freien Willens stützt. Es bildet eine Stütze unseres Selbstbewusstseins, in der Rückschau zu erkennen, was wir an Wachstumsschritten erworben haben, Unsicherheiten, die sich aufgelöst haben, Ängste, die verschwunden sind, Fähigkeiten, die wir ausgebaut und erweitert haben. Wir schreiben uns diese Lernschritte selbst zu und gehen nicht davon aus, dass sie uns einfach von irgendwo her zugefallen sind oder ohne unser Zutun entstanden sind. Die Annahme des freien Willens ist damit eine Basis unseres Selbstwertgefühls.
Unser praktisches Leben ist also durchzogen von Zusammenhängen, die ohne die Annahme eines freien Willens keinen Sinn machen. Erst auf der Stufe der Weisheit beginnen wir zu verstehen, dass der freie Wille nicht einfach eine Gegebenheit ist, die an unserem Menschsein dranhängt wie das Ohrläppchen am Ohr, sondern eine Funktion, die wir unter bestimmten Umständen einsetzen und unseren Mitmenschen unterstellen.
Zum Verzicht auf den freien Willen
Wir fangen erst an, den freien Willen für obsolet zu erklären, (abgesehen von den Erkenntnissen und Schlussfolgerungen der modernen Gehirnforschung, die wir vielleicht interessant finden, die aber unsere Wirklichkeitserfahrung nicht wesentlich verändern), wenn wir in spirituelle Bereiche eintauchen. Sie geben uns ein Gespür dafür, welch Winzigkeit wir im großen Strom des Lebens oder der Existenz sind, während wir uns so gerne mit unseren Eitelkeiten als Riesen aufblasen, und wie sehr wir uns dabei anstrengen und abmühen. Wir als die Urheber unseres Lebens, als das alles schaffende und erschaffende Zentrum unserer Welt – was für eine Mühsal, und wie unnötig erscheint sie, sobald wir erkennen, dass wir getragen und gehalten werden, und sobald wir uns dieser größeren, von unserem Willen unabhängigen Kraft hingeben können. Dann ist die Idee des freien Willens ein überflüssiger Faktor, der nur dem Widerstand gegen die Hingabe dient.
Deshalb ist es wohl unerlässlich, dass wir uns immer wieder bewusst machen, dass wir verschiedene Ebenen des Bewusstseins in uns tragen, die situationsabhängig unterschiedlich stark wirksam sind, sich beständig weiter entwickeln und, so lange wir leben, nie zu einem Abschluss kommen. Wenn wir unserem Erleben vertrauen, finden wir immer eine Antwort auf die Frage, ob es den freien Willen „gibt“. Sind wir in unserem Wahrnehmen, Denken und Handeln im Außen, orientiert an der Vergangenheit und an der Zukunft, dann gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass wir über einen freien Willen verfügen. Wenn wir ganz im Moment sind und mit dem Leben mitfließen, dann brauchen wir keinen freien Willen, dann fügen wir uns vielmehr ganz in ein Geschehen ein, das einer höheren Intelligenz folgt. Es braucht unser Zutun nicht, um immer wieder sein Optimum zu finden.
Zum Weisen werden wir, wenn wir die Stufen der Reflexion durchlaufen haben, wenn wir also mit den Wässern der lebenspraktischen und der philosophischen Argumentation gewaschen sind und die Argumente im Für und Wider verstanden haben, auch wenn wir Einsicht genommen haben in die Entwicklung des Bewusstseins. Und wenn wir schließlich alle Illusionen zurücklassen können, ohne sie geringzuschätzen oder abzuwerten. Denn Illusionen werden dort gebraucht, wo die Angst größer ist als die Bereitschaft, sich der Wahrheit zu stellen. Der Luxus des Weisen liegt darin, dass er auf Konzepte verzichten kann, die sich als Illusion herausgestellt haben. Ein Ballast weniger auf dem Weg...
Zum Weiterlesen:
"Alles ist bestimmt"
Freier Wille - heilige Kuh, Illusion oder Wesensmerkmal?
Freier Wille und die Ebenen der Bewusstseinsentwicklung
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