In
vorigen Blogbeiträgen habe ich die „Existenz“ des freien Willens diskutiert und
den Schluss gezogen, dass wir keinen freien Willen brauchen, um die Art und
Weise unseres Lebens tiefer zu verstehen. Vielmehr kann uns der Verzicht auf
diesen Begriff und auf die damit verbundene Erfahrung auf dem Weg der inneren
Befreiung weiterhelfen.
Diesen
Einsichten widerspricht allerdings die hartnäckige Überzeugung, dass der innere
Wille eine selbstbestimmte und voraussetzungslose Regulationsinstanz und
Einflussgröße in uns darstellt. Wir stoßen immer wieder auf eine innere,
subjektive Wirklichkeit, die uns davon überzeugen will, dass wir freie,
undeterminierte Entscheidungen treffen. Warum ist das
so?
Keine soziale Verantwortung ohne Willensfreiheit
Diese
Überzeugung ist deshalb so stabil und einleuchtend, weil wir sie in den
sozialen Kontexten, in denen wir uns bewegen, notwendig brauchen. Ebenso ist
sie eine wichtige Bedingung für unseren eigenen Selbstbezug und Selbstwert. Das
Sozialleben unter vielen unterschiedlichen Menschen kann nur geregelt werden,
wenn jedem der Akteure die Verantwortung für das eigene Handeln zugesprochen
und zugerechnet wird. Wir setzen also im sozialen Umgang miteinander
wechselseitig unsere Zurechnungsfähigkeit voraus. Wir nehmen auch an, dass alle
handelnden Personen zu ihrer Verantwortung stehen. Sonst trauten wir uns über
keine einzige Straßenkreuzung oder müssten ständig eine Waffe bei uns tragen.
Mit
der Zumutung der Verantwortung an alle Akteure kann vermieden werden, dass
unter dem Deckmantel einer missverstandenen Freiheit von der Willensfreiheit
Gewalttaten und andere Bosheiten stattfinden können. Auf der sozialen Bühne
wird und muss jede grobe Regelverletzung geahndet werden, d .h. die Täter müssen
zu ihrer Verantwortung gezogen werden, die ihnen von der Gesellschaft zugemutet
wird. Gerichte können nur Recht sprechen, wenn den Tätern ein freier Wille unterstellt
wird. Resozialisierung hat nur dann einen Sinn, wenn davon ausgegangen werden
kann, dass Täter Reue empfinden und sich innerlich umorientieren können. Wünsche
nach Verhaltensänderung, die wir im Zusammenleben häufig aneinander richten,
sind nur verständlich unter der Annahme, dass wir auch in der Lage sind, uns selbstbestimmt
für unsere Handlungen zu entscheiden.
Selbstwert, Selbstmotivation und Willensfreiheit
Der
andere Kontext, in dem wir die Willensfreiheit benötigen, liegt in der
Beziehung zu uns selbst. Wir bauen unser Selbstwertgefühl über die Erfolge auf,
die wir uns selber zuschreiben. Wir sind stolz auf das, was wir erreicht und
geschaffen haben. Und unser Selbstwert leidet an den Misserfolgen und
Versagenserfahrungen, die wir erleben mussten. Wo bliebe unser Selbstwert, wenn
wir uns unsere Handlungen und deren Resultate nicht selber zuschreiben könnten?
Die Tochter hat einen Tanzwettbewerb gewonnen und die Eltern sagen: „Du weißt
ja, meine Liebe, dass das so geschehen ist, wie es geschehen ist, weil es nicht
anders geschehen konnte. Wenn du nächstes Mal nur fünfundzwanzigste wirst, ist
es genauso.“ Der Sohn hat die Mathematikprüfung geschafft,
und die Eltern sagen nur: „Was ist, ist, und was nicht ist, ist nicht.“ Da
würden sich die Kinder bestenfalls auf den Kopf greifen. Sie brauchen
Bestätigung, Anerkennung und Wertschätzung, um auf ihrem Weg gestärkt weitergehen
zu können. Genauso geht es uns als Erwachsene immer wieder. Auch wenn wir uns
selbst anerkennen und loben, gilt dies unserer Willensfreiheit.
Wie
könnte sonst Lernen aus Erfahrung funktionieren, wenn wir über keinen freien
Willen verfügten und nicht für unsere Handlungen verantwortlich
wären? Schließlich erfordert jedes Lernen eine bewusste Auseinandersetzung mit
den Inhalten und die Anstrengung, das eigene Gedächtnis zu nutzen. Oft geht es
darum, dass wir unsere Widerstände überwinden und uns gegen unseren Hang zur
Faulheit zwingen, Aufgaben bis zum Ende fertigzumachen. Würden wir nicht alle
als Couch-Potatoes enden, wenn wir nicht den Willen aufbrächten, Bücher zu
lesen oder die Wäsche aufzuhängen, statt viel bequemer vor der Glotze zu knotzen,
wo wir nicht einmal Seiten umblättern müssen?
Freier Wille und Bewusstseinsevolution
Soweit
die „Sonderzonen“, in denen der freie Wille unverzichtbar ist. Sie beide
beruhen auf einem Konzept des Menschen in einem bestimmten Entwicklungsstadium,
gewissermaßen auf einem Durchschnittsmaß für die Stufe der
Bewusstseinsevolution, auf der wir uns individuell und kollektiv befinden. Ich
habe die entsprechenden Entwicklungsstufen in Bezug auf die Willensfreiheit modellhaft
in einem früheren Beitrag beschrieben. Die Gesellschaft muss sich an diesem
Durchschnitt orientieren, um unreifes und sozialschädliches Verhalten zu
verhindern oder einzudämmen. Wir müssen auch Kinder in ihrem Verhalten anleiten
und an die Grenzen ihrer Willkür erinnern, solange es ihnen selber noch an der
Einsicht und Selbstkontrolle mangelt. Wir müssen potenzielle Verbrecher darauf
aufmerksam machen, dass sie mit schmerzhaften Konsequenzen zu rechnen haben,
wenn sie ihre Taten begehen. Wir müssen uns selbst dazu motivieren, die
Steuererklärung zu machen, unangenehme Bewerbungsgespräche zu führen und
Fremdsprachen oder Marketingstrategien zu lernen, die wir für unser
Weiterkommen brauchen.
Solange
das Verhalten der Menschen von ihren Überlebensängsten geleitet ist, brauchen
wir die Idee des freien Willens als Angelpunkt, anders gesagt als Stütze oder
als Krücke. So können wir jedem sagen, der sich danebenbenimmt, dass er es auch
anders könnte (wir unterstellen die Willensfreiheit) und es einfach probieren
sollte (wir unterstellen die Handlungsfreiheit). Das Gleiche gilt für uns
selber: Wir können uns selber auch klarmachen, dass wir nicht die Sklaven
unserer Gewohnheiten oder asozialen Antriebe sind, sondern dass wir unsere
Verhaltensmuster auch verändern können, was eben die Verfügbarkeit über einen
freien Willen voraussetzt.
In
dem Maß, wie wir in unserer inneren Entwicklung weiterkommen, verliert sich
allerdings die Notwendigkeit für solche Verhaltensregulationen. Denn je mehr
wir unsere Ängste auflösen können, die uns zu unbewussten Willküraktionen und fremd- und selbstschädigendem Verhalten verleiten,
desto weniger Bedarf haben wir nach willentlich herbeigeführten
Verhaltensänderungen. Wir brauchen keine Neujahrsvorsätze mehr, wenn wir in uns
nur mehr oder vorwiegend prosoziale und selbststärkende Impulse vorfinden. Wir
machen die Hausarbeit, weil sie zu tun ist und wir gar nicht darüber
nachdenken, ob sie angenehm oder lästig ist. Wir erledigen die Buchhaltung,
weil sie jetzt gerade dran ist und lamentieren nicht, dass sie so anstrengend
und langweilig ist. Wir lernen eine Sprache, weil etwas in uns diese Sprache
beherrschen will und nicht, weil wir sonst befürchten müssten, unseren Job zu
verlieren.
Damit
löst sich auch die Notwendigkeit auf, unseren Selbstwert über die Erfolge in
unserem Leben zu stabilisieren. Denn wir brauchen das Konzept unseres
Selbstwertes nur so lange, so lange wir an ihm zweifeln. Sobald uns klar ist,
dass wir wertvoll sind, weil wir über ein menschliches Leben verfügen und nicht
weil wir bestimmte Erfolge vorweisen können, braucht es kein Konzept eines
Selbstwertes mehr und auch keine Selbstdefinitionen über das, was wir so in
diesem unserem Leben weiterbringen.
Mit
einem Wort: Überall, wo unser Ego mit seinen Ängsten und neurotischen Prägungen
mitspielt, brauchen wir das Konzept des freien Willens als Leitfaden,
Kontrollinstanz und Selbstzuschreibung. Der freie Wille ist also eine Funktion
unseres Egos. Überall, wo sich dieses zurückzieht und nicht den Ton angibt, ist
die Annahme des freien Willens nicht notwendig und überflüssig. Wir sind mit
dem verbunden, was gerade geschieht und fließen mit, tun, was zu tun ist, und
lassen zu, was sich von selber tut. So halten wir uns frei von kleinlichen
Problemen, die von selber zu ihrer Lösung finden und geben den größeren
Problemen die Zeit, die sie brauchen, um sich zu ihrer Lösung hinzubewegen, mit
dem, was wir aus uns dazu beitragen, oder anders gesagt: Was das Unsere dazu
beiträgt.
Vom Missbrauch der Nicht-Willensfreiheit
Vorsicht
ist allerdings geboten, wenn wir uns zu leichtfertig und frühzeitig mit der
Möglichkeit beschäftigen, das Konzept oder die Illusion des freien Willens aus
unserem Leben zu verabschieden. Es ist ein anspruchsvoller Schritt, der einen
hohen Bewusstseinszustand voraussetzt, wenn es um mehr als bloß ein
interessantes philosophisches Modell gehen soll. Die Umsetzung in die Praxis geht
nur mit einem selbstkritischen, urteilsfähigen Geist, der konsequent darüber wachen kann,
dass wir diese Erkenntnis nicht missbrauchen.
Denn
sobald sich das Ego einmischt, macht der Ansatz keinen Sinn mehr und stiftet
höchstens Verwirrung. Unser Ego ist an den freien Willen gekoppelt und kann mit
dessem illusionären Charakter nichts anfangen. Wir nutzen diesen Zugang
allenfalls dafür, uns aus der eigenen Verantwortung zu stehlen, z.B. wenn wir
Fehler begangen haben und jede Schuld von uns weisen, weil es ja keinen freien
Willen und folglich keine Schuld geben könne. Wir belügen uns selbst und
täuschen andere, indem wir nicht merken, dass es unser Ego ist, das sich mit
dem Konzept des nichtfreien Willens auf Kosten anderer entlasten und durchsetzen
will.
Ignoranz in der spirituellen Belehrung
Spirituelle
Lehrer, die die Advaita-Philosophie in Bezug auf den freien Willen als absolute
Wahrheit verbreiten, machen oft den Fehler, dass sie von ihrem eigenen inneren
Entwicklungsschritt, der sie oft ganz plötzlich in einen besonderen Zustand von
innerer Freiheit geführt hat, auf andere schließen. Sie fühlen sich frei von
Ego-Täuschungen und haben deshalb einen intuitiven Zugang zu einer Welt, in der
alles Geschehen geschieht, ohne dass es einen Urheber braucht. Häufig übersehen
sie, dass ihre Schüler fortwährend den Tricks ihrer Muster und Prägungen
ausgesetzt sind, und sie vergessen, dass sie ihnen auf den Weg mitgeben
sollten, wie wichtig es wäre, an den Ängsten zu arbeiten, die das Ego bekräftigen.
Stattdessen lehnen viele unter den spirituellen Lehrern Therapie und
Traumaheilung als unnütze Ablenkungen vom eigentlichen Weg ab und füttern damit
die Egos der Suchenden, die meinen, dass es genügt, möglichst häufig beim
Meister zu sitzen, dann würde schon alles werden, sprich alle Traumatisierungen
würden sich von selber auflösen.
Doch
die Verletzungen aus unserer Geschichte lassen sich nicht mit spirituellen
Belehrungen wegstreicheln. Sie wirken aus dem Unbewussten, das durch die
Präsenz von Meistern oder Lehrern übertönt, aber nicht entmachtet und aufgelöst
werden kann. Sobald der Kontakt mit dem Menschen vorbei ist, melden sie sich
wieder und üben weiterhin ihren Einfluss auf die Handlungen im Leben aus. Sowie
das der Fall ist, verschwindet die befreiende Erfahrung einer Welt, in der es
keinen freien Willen gibt. Das Ego meldet sich zurück und spricht allen die
Urheberschaft für ihre Handlungen zu. Es beschuldigt die anderen, dass sie
einem Leid antun und sich selbst, dass es nicht gut genug ist.
Räume der Freiheit
Wir dürfen
einander auch nicht aus der Verantwortung entlassen, wenn sich das Ego bei
einer anderen Person vordrängt. Sonst unterbleibt das soziale Lernen und es
entsteht Verwirrung. Die Radikalität des Konzepts der Nicht-Willensfreiheit kann
nur gelebt werden, wenn eine völlige Klarheit über die Mechanismen des Egos
herrscht und alle Tendenzen zur Selbstmanipulation nachhaltig abgestellt werden
können.
Was uns immer
wieder möglich ist, ist die Wahrnehmung der Momente, in denen diese Mechanismen
außer Kraft gesetzt sind und wir das freie Fließen von Augenblick zu Augenblick
mit der völligen Abwesenheit jeder Willensanstrengung genießen können. Diese
Räume, in denen die Willensfreiheit spurlos verschwunden ist, können wir
kultivieren, ohne ein Jota der Verantwortung, die wir in unserem relativen
Leben zu tragen haben, aufzugeben.
Wir sind nie
besser, als wir sind, und müssen es auch gar nicht sein, weder im moralischen
noch im spirituellen Sinn. Es ist genau richtig und in Ordnung, auf welcher
Stufe unserer inneren Entwicklung wir stehen, welche Themen und Ängste uns noch
plagen und was aus uns heraus geschieht, um unser Leiden zu mindern und auf dem
inneren Weg weiterzukommen. Das ist auch eine Folgerung aus dem Advaita-Ansatz,
die uns helfen kann, uns noch mehr zu entspannen und aus dieser Entspannung
heraus unser inneres Wachstum geschehen zu lassen.
Zum Weiterlesen:
Advaita und die Vorherbestimmung
Flexibilität und Ego-Entmachtung
Tun und Geschehenlassen
Die Kraft des Ja
Freier Wille - Heilige Kuh oder Wesensmerkmal?
Freier Wille und Bewusstseinsentwicklung
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