Sonntag, 30. September 2018

Das Ego und der freie Wille


In vorigen Blogbeiträgen habe ich die „Existenz“ des freien Willens diskutiert und den Schluss gezogen, dass wir keinen freien Willen brauchen, um die Art und Weise unseres Lebens tiefer zu verstehen. Vielmehr kann uns der Verzicht auf diesen Begriff und auf die damit verbundene Erfahrung auf dem Weg der inneren Befreiung weiterhelfen.  

Diesen Einsichten widerspricht allerdings die hartnäckige Überzeugung, dass der innere Wille eine selbstbestimmte und voraussetzungslose Regulationsinstanz und Einflussgröße in uns darstellt. Wir stoßen immer wieder auf eine innere, subjektive Wirklichkeit, die uns davon überzeugen will, dass wir freie, undeterminierte Entscheidungen treffen.  Warum ist das so?

Keine soziale Verantwortung ohne Willensfreiheit


Diese Überzeugung ist deshalb so stabil und einleuchtend, weil wir sie in den sozialen Kontexten, in denen wir uns bewegen, notwendig brauchen. Ebenso ist sie eine wichtige Bedingung für unseren eigenen Selbstbezug und Selbstwert. Das Sozialleben unter vielen unterschiedlichen Menschen kann nur geregelt werden, wenn jedem der Akteure die Verantwortung für das eigene Handeln zugesprochen und zugerechnet wird. Wir setzen also im sozialen Umgang miteinander wechselseitig unsere Zurechnungsfähigkeit voraus. Wir nehmen auch an, dass alle handelnden Personen zu ihrer Verantwortung stehen. Sonst trauten wir uns über keine einzige Straßenkreuzung oder müssten ständig eine Waffe bei uns tragen. 

Mit der Zumutung der Verantwortung an alle Akteure kann vermieden werden, dass unter dem Deckmantel einer missverstandenen Freiheit von der Willensfreiheit Gewalttaten und andere Bosheiten stattfinden können. Auf der sozialen Bühne wird und muss jede grobe Regelverletzung geahndet werden, d .h. die Täter müssen zu ihrer Verantwortung gezogen werden, die ihnen von der Gesellschaft zugemutet wird. Gerichte können nur Recht sprechen, wenn den Tätern ein freier Wille unterstellt wird. Resozialisierung hat nur dann einen Sinn, wenn davon ausgegangen werden kann, dass Täter Reue empfinden und sich innerlich umorientieren können.  Wünsche nach Verhaltensänderung, die wir im Zusammenleben häufig aneinander richten, sind nur verständlich unter der Annahme, dass wir auch in der Lage sind, uns selbstbestimmt für unsere Handlungen zu entscheiden.

Selbstwert, Selbstmotivation und Willensfreiheit


Der andere Kontext, in dem wir die Willensfreiheit benötigen, liegt in der Beziehung zu uns selbst. Wir bauen unser Selbstwertgefühl über die Erfolge auf, die wir uns selber zuschreiben. Wir sind stolz auf das, was wir erreicht und geschaffen haben. Und unser Selbstwert leidet an den Misserfolgen und Versagenserfahrungen, die wir erleben mussten. Wo bliebe unser Selbstwert, wenn wir uns unsere Handlungen und deren Resultate nicht selber zuschreiben könnten? Die Tochter hat einen Tanzwettbewerb gewonnen und die Eltern sagen: „Du weißt ja, meine Liebe, dass das so geschehen ist, wie es geschehen ist, weil es nicht anders geschehen konnte. Wenn du nächstes Mal nur fünfundzwanzigste wirst, ist es genauso.“ Der Sohn hat die Mathematikprüfung geschafft, und die Eltern sagen nur: „Was ist, ist, und was nicht ist, ist nicht.“ Da würden sich die Kinder bestenfalls auf den Kopf greifen. Sie brauchen Bestätigung, Anerkennung und Wertschätzung, um auf ihrem Weg gestärkt weitergehen zu können. Genauso geht es uns als Erwachsene immer wieder. Auch wenn wir uns selbst anerkennen und loben, gilt dies unserer Willensfreiheit.

Wie könnte sonst Lernen aus Erfahrung funktionieren, wenn wir über keinen freien Willen verfügten und nicht für unsere Handlungen verantwortlich wären? Schließlich erfordert jedes Lernen eine bewusste Auseinandersetzung mit den Inhalten und die Anstrengung, das eigene Gedächtnis zu nutzen. Oft geht es darum, dass wir unsere Widerstände überwinden und uns gegen unseren Hang zur Faulheit zwingen, Aufgaben bis zum Ende fertigzumachen. Würden wir nicht alle als Couch-Potatoes enden, wenn wir nicht den Willen aufbrächten, Bücher zu lesen oder die Wäsche aufzuhängen, statt viel bequemer vor der Glotze zu knotzen, wo wir nicht einmal Seiten umblättern müssen?  

Freier Wille und Bewusstseinsevolution


Soweit die „Sonderzonen“, in denen der freie Wille unverzichtbar ist. Sie beide beruhen auf einem Konzept des Menschen in einem bestimmten Entwicklungsstadium, gewissermaßen auf einem Durchschnittsmaß für die Stufe der Bewusstseinsevolution, auf der wir uns individuell und kollektiv befinden. Ich habe die entsprechenden Entwicklungsstufen in Bezug auf die Willensfreiheit modellhaft in einem früheren Beitrag beschrieben. Die Gesellschaft muss sich an diesem Durchschnitt orientieren, um unreifes und sozialschädliches Verhalten zu verhindern oder einzudämmen. Wir müssen auch Kinder in ihrem Verhalten anleiten und an die Grenzen ihrer Willkür erinnern, solange es ihnen selber noch an der Einsicht und Selbstkontrolle mangelt. Wir müssen potenzielle Verbrecher darauf aufmerksam machen, dass sie mit schmerzhaften Konsequenzen zu rechnen haben, wenn sie ihre Taten begehen. Wir müssen uns selbst dazu motivieren, die Steuererklärung zu machen, unangenehme Bewerbungsgespräche zu führen und Fremdsprachen oder Marketingstrategien zu lernen, die wir für unser Weiterkommen brauchen. 

Solange das Verhalten der Menschen von ihren Überlebensängsten geleitet ist, brauchen wir die Idee des freien Willens als Angelpunkt, anders gesagt als Stütze oder als Krücke. So können wir jedem sagen, der sich danebenbenimmt, dass er es auch anders könnte (wir unterstellen die Willensfreiheit) und es einfach probieren sollte (wir unterstellen die Handlungsfreiheit).  Das Gleiche gilt für uns selber: Wir können uns selber auch klarmachen, dass wir nicht die Sklaven unserer Gewohnheiten oder asozialen Antriebe sind, sondern dass wir unsere Verhaltensmuster auch verändern können, was eben die Verfügbarkeit über einen freien Willen voraussetzt.  

In dem Maß, wie wir in unserer inneren Entwicklung weiterkommen, verliert sich allerdings die Notwendigkeit für solche Verhaltensregulationen. Denn je mehr wir unsere Ängste auflösen können, die uns zu unbewussten Willküraktionen  und fremd- und selbstschädigendem Verhalten verleiten, desto weniger Bedarf haben wir nach willentlich herbeigeführten Verhaltensänderungen. Wir brauchen keine Neujahrsvorsätze mehr, wenn wir in uns nur mehr oder vorwiegend prosoziale und selbststärkende Impulse vorfinden. Wir machen die Hausarbeit, weil sie zu tun ist und wir gar nicht darüber nachdenken, ob sie angenehm oder lästig ist. Wir erledigen die Buchhaltung, weil sie jetzt gerade dran ist und lamentieren nicht, dass sie so anstrengend und langweilig ist. Wir lernen eine Sprache, weil etwas in uns diese Sprache beherrschen will und nicht, weil wir sonst befürchten müssten, unseren Job zu verlieren. 

Damit löst sich auch die Notwendigkeit auf, unseren Selbstwert über die Erfolge in unserem Leben zu stabilisieren. Denn wir brauchen das Konzept unseres Selbstwertes nur so lange, so lange wir an ihm zweifeln. Sobald uns klar ist, dass wir wertvoll sind, weil wir über ein menschliches Leben verfügen und nicht weil wir bestimmte Erfolge vorweisen können, braucht es kein Konzept eines Selbstwertes mehr und auch keine Selbstdefinitionen über das, was wir so in diesem unserem Leben weiterbringen.   

Mit einem Wort: Überall, wo unser Ego mit seinen Ängsten und neurotischen Prägungen mitspielt, brauchen wir das Konzept des freien Willens als Leitfaden, Kontrollinstanz und Selbstzuschreibung. Der freie Wille ist also eine Funktion unseres Egos. Überall, wo sich dieses zurückzieht und nicht den Ton angibt, ist die Annahme des freien Willens nicht notwendig und überflüssig.  Wir sind mit dem verbunden, was gerade geschieht und fließen mit, tun, was zu tun ist, und lassen zu, was sich von selber tut. So halten wir uns frei von kleinlichen Problemen, die von selber zu ihrer Lösung finden und geben den größeren Problemen die Zeit, die sie brauchen, um sich zu ihrer Lösung hinzubewegen, mit dem, was wir aus uns dazu beitragen, oder anders gesagt: Was das Unsere dazu beiträgt.  

Vom Missbrauch der Nicht-Willensfreiheit


Vorsicht ist allerdings geboten, wenn wir uns zu leichtfertig und frühzeitig mit der Möglichkeit beschäftigen, das Konzept oder die Illusion des freien Willens aus unserem Leben zu verabschieden. Es ist ein anspruchsvoller Schritt, der einen hohen Bewusstseinszustand voraussetzt, wenn es um mehr als bloß ein interessantes philosophisches Modell gehen soll. Die Umsetzung in die Praxis geht nur mit einem selbstkritischen, urteilsfähigen  Geist, der konsequent darüber wachen kann, dass wir diese Erkenntnis nicht missbrauchen.

Denn sobald sich das Ego einmischt, macht der Ansatz keinen Sinn mehr und stiftet höchstens Verwirrung. Unser Ego ist an den freien Willen gekoppelt und kann mit dessem illusionären Charakter nichts anfangen. Wir nutzen diesen Zugang allenfalls dafür, uns aus der eigenen Verantwortung zu stehlen, z.B. wenn wir Fehler begangen haben und jede Schuld von uns weisen, weil es ja keinen freien Willen und folglich keine Schuld geben könne. Wir belügen uns selbst und täuschen andere, indem wir nicht merken, dass es unser Ego ist, das sich mit dem Konzept des nichtfreien Willens auf Kosten anderer entlasten und durchsetzen will.  

Ignoranz in der spirituellen Belehrung


Spirituelle Lehrer, die die Advaita-Philosophie in Bezug auf den freien Willen als absolute Wahrheit verbreiten, machen oft den Fehler, dass sie von ihrem eigenen inneren Entwicklungsschritt, der sie oft ganz plötzlich in einen besonderen Zustand von innerer Freiheit geführt hat, auf andere schließen. Sie fühlen sich frei von Ego-Täuschungen und haben deshalb einen intuitiven Zugang zu einer Welt, in der alles Geschehen geschieht, ohne dass es einen Urheber braucht. Häufig übersehen sie, dass ihre Schüler fortwährend den Tricks ihrer Muster und Prägungen ausgesetzt sind, und sie vergessen, dass sie ihnen auf den Weg mitgeben sollten, wie wichtig es wäre, an den Ängsten zu arbeiten, die das Ego bekräftigen. Stattdessen lehnen viele unter den spirituellen Lehrern Therapie und Traumaheilung als unnütze Ablenkungen vom eigentlichen Weg ab und füttern damit die Egos der Suchenden, die meinen, dass es genügt, möglichst häufig beim Meister zu sitzen, dann würde schon alles werden, sprich alle Traumatisierungen würden sich von selber auflösen.

Doch die Verletzungen aus unserer Geschichte lassen sich nicht mit spirituellen Belehrungen wegstreicheln. Sie wirken aus dem Unbewussten, das durch die Präsenz von Meistern oder Lehrern übertönt, aber nicht entmachtet und aufgelöst werden kann. Sobald der Kontakt mit dem Menschen vorbei ist, melden sie sich wieder und üben weiterhin ihren Einfluss auf die Handlungen im Leben aus. Sowie das der Fall ist, verschwindet die befreiende Erfahrung einer Welt, in der es keinen freien Willen gibt. Das Ego meldet sich zurück und spricht allen die Urheberschaft für ihre Handlungen zu. Es beschuldigt die anderen, dass sie einem Leid antun und sich selbst, dass es nicht gut genug ist.

Räume der Freiheit


Wir dürfen einander auch nicht aus der Verantwortung entlassen, wenn sich das Ego bei einer anderen Person vordrängt. Sonst unterbleibt das soziale Lernen und es entsteht Verwirrung. Die Radikalität des Konzepts der Nicht-Willensfreiheit kann nur gelebt werden, wenn eine völlige Klarheit über die Mechanismen des Egos herrscht und alle Tendenzen zur Selbstmanipulation nachhaltig abgestellt werden können.

Was uns immer wieder möglich ist, ist die Wahrnehmung der Momente, in denen diese Mechanismen außer Kraft gesetzt sind und wir das freie Fließen von Augenblick zu Augenblick mit der völligen Abwesenheit jeder Willensanstrengung genießen können. Diese Räume, in denen die Willensfreiheit spurlos verschwunden ist, können wir kultivieren, ohne ein Jota der Verantwortung, die wir in unserem relativen Leben  zu tragen haben, aufzugeben.

Wir sind nie besser, als wir sind, und müssen es auch gar nicht sein, weder im moralischen noch im spirituellen Sinn. Es ist genau richtig und in Ordnung, auf welcher Stufe unserer inneren Entwicklung wir stehen, welche Themen und Ängste uns noch plagen und was aus uns heraus geschieht, um unser Leiden zu mindern und auf dem inneren Weg weiterzukommen. Das ist auch eine Folgerung aus dem Advaita-Ansatz, die uns helfen kann, uns noch mehr zu entspannen und aus dieser Entspannung heraus unser inneres Wachstum geschehen zu lassen.

Zum Weiterlesen:
Advaita und die Vorherbestimmung
Flexibilität und Ego-Entmachtung

Tun und Geschehenlassen
Die Kraft des Ja
Freier Wille - Heilige Kuh oder Wesensmerkmal?
Freier Wille und Bewusstseinsentwicklung

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