Über die Einteilung von Gefühlen
Die Fülle der menschlichen Gefühle in Kategorien zu bringen, ist ein altes Anliegen der forschenden Menschheit. Ich möchte hier nicht auf die Details dieser Bestrebungen eingehen, sondern einen Aspekt herausgreifen.
Viele Menschen verstehen intuitiv die Unterscheidung von positiven und negativen Gefühlen: Wenn es mir gut geht, wenn ich also positiv drauf bin, habe ich positive Gefühle. Wenn es mir schlecht geht, dann negative. Dann ist folgende Idee aufgekommen: Gefühle sind Ausdruck des menschlichen Organismus, in der Evolution entstanden. Deshalb müssen alle Gefühle einen Sinn haben, und deshalb kann es keine negativen Gefühle geben, sondern nur unterschiedliche. Damit ist die Abwertung bestimmter Gefühle, die uns zwar unangenehm sind, aber dennoch ihre Funktion erfüllen, vom Tisch.
Von dieser Auffassung stammen dann die Aufzählung von vier bis acht Grundgefühlen, die manchmal auch zu Anschauungszwecken mit Farben versehen in Kreisen grafisch angeordnet werden, gewissermaßen demokratisch, sodass jedes Gefühl seinen gleichen Rang hat. Dazu passen auch Sprüche wie „Wut tut gut“ oder „Wo die Angst ist, da geht es lang.“ Lebe also alle Gefühle aus, wie sie gerade kommen, alle sind gleich wichtig und richtig.
Denn die Wissenschaft belehrt uns, dass das Ausleben von Wut selbstverstärkend ist: Wutausbrüche bahnen das Gehirn, sodass Wut immer leichter zum Ausdruck kommt. Außerdem genügen fünf Minuten Wut, um die Produktion von IgA auf sechs Stunden zu stoppen – IgA (Immunglobulin A) ist ein wichtiger Baustein für die Immunabwehr. Zu verstehen, dass zuviel Angst krank macht, braucht es gar keine Wissenschaft, das leuchtet uns auch so ein.
Wachstumsgefühle und Schutzgefühle
Unzufrieden mit dieser unterschiedslosen Gleichmacherei, suchte ich meine eigene Einteilung, die ich der Zellbiologie entlehnt habe. Zellen trachten grundsätzlich danach zu wachsen, sie müssen sich zeitweise auch vor Gefahren schützen. Entsprechend müssen sie ihr Inneres jeweils der Situation angepasst umorganisieren. Das wirkt sich auf die innere Chemie aus, darauf, wie sich die Zelle „fühlt“.
Ähnliches finden wir im Bereich der menschlichen Emotionen: Es gibt welche, die uns in unserem Wachstum begleiten und unterstützen (Freude, Lust, Neugier, Interesse) und andere, die uns dabei dienlich sind, wenn wir uns in Gefahrensituationen befinden (Angst, Wut, Schmerz, Ekel). Deshalb habe ich die eine Gruppe von Gefühlen Wachstumsgefühle, und die anderen Schutzgefühle getauft. Mit dieser Einteilung verstehen wir die biologische Notwendigkeit der Gefühle, aber auch, dass wir die einen suchen und die anderen meiden.
Hier hat auch die Auffassung Platz, dass der Normalzustand des Organismus das Wachstum mit den damit verbundenen Gefühlen ist, während der Schutzzustand einen Ausnahmezustand darstellt. Wir können uns ein Leben ohne Angst, Wut und Schmerz vorstellen, und streben dies auch im Innersten an. Wir wollen uns also aus den Mustern befreien, die uns in Schutzgefühle führen, auch wenn gar keine Gefahren da sind. Und wir wollen möglichst viele von den Wachstumsgefühlen und finden ein Leben ohne sie reichlich leer und unbefriedigend. Da wir mit diesen Gefühlen innerlich wachsen, gibt es für sie keine natürliche Grenze, ähnlich, wie ein Künstler keine vorgegebene Grenze seiner Schaffenskraft kennt, sondern, wenn er im kreativen Fluss ist, immer wieder Neues erschaffen wird. Die Schutzgefühle dagegen haben eine natürliche Grenze, weil sie die körperlichen Ressourcen erschöpfen und keine neuen Energien aufbauen.
Zugleich ist mit diesem Modell der wertende Aspekt in positiv und negativ überflüssig. Alle Gefühle haben ihren Sinn und ihre Bedeutung, abhängig von der jeweiligen Situation. Dysfunktional werden Gefühle dort, wo sie mit der aktuellen Situation und ihren Erfordernissen nicht zusammenpassen. Eine Angst, der keine Bedrohung entspricht, ist unnötig. Aber auch eine übermäßige Freude, die keinen Anlass im Äußeren hat, kann der Ausdruck einer manischen Fehlregulation sein.
Das hängt damit zusammen, dass Schutzgefühle „teuer“ sind, weil sie auf Energiereserven zurückgreifen, ohne neue zu produzieren. Sie kosten also mehr als sie einbringen. Das hängt damit zusammen, dass sie immer mit Stress verbunden sind. Sie erfordern die Mobilisierung des sympathischen Teils des vegetativen Nervensystems, und das ist nun mal ein Energieräuber. Ein Zuviel an Schutzgefühlen führt irgendwann zur Erschöpfung und bildet die Basis für verschiedene Erkrankungen und Degenerationserscheinungen, wie die Stressforschung mittlerweile gut belegen kann. Deshalb wird diese Gruppe von Gefühlen auch manchmal als Minus-Gefühle bezeichnet.
Wenn wir unsere Gefühlslandschaft nach dem Gesichtspunkt von Schutz und Wachstum kartographieren, wird klar, dass nicht alle Gefühle gleichberechtigt gelebt werden sollen oder wollen. Vielmehr ist es wichtig und im Grund auch eine tief verwurzelte Bestrebung der Menschen, von Schutzgefühlen weg zu kommen und mehr Wachstumsgefühle spüren zu können. Das Zauberwort für diesen Schritt heißt Entspannung, weil wir mit ihr in den Bereich des Parasympathikus kommen, der uns zur Regeneration und zum Aufbau neuer Energien verhilft.
Nutzen wir also den Haupt-Indikator und -Korrektor für unseren inneren Zustand, wenn wir von zehrenden und lähmenden Schutzgefühlen weg wollen, hin zu erfüllten und entspannten Stimmungen: Unseren Atem. Er zeigt uns, wo wir uns gerade befinden, und er gibt uns die Möglichkeit, von Überspannung zurück zu unserer Mitte zu finden. Entspannen wir den Ausatem!
Lieber Wilfried,
AntwortenLöschenich finde deine funktionelle Einteilung der Gefühle sehr sinnvoll und hilfreich!
Gleichzeitig betrachte ich aber die "emotionale Gleichmacherei" von Gefühlen als weniger problematisch. Das Problem liegt meiner Ansicht nach darin, wenn Menschen beginnen sich an gewisse Gefühle zu klammern - unabhänigig davon ob es sich um Schutz- oder Wachstumsgefühle handelt.
Meiner Erfahrung nach besteht das Wesen der Gefühle darin im Fließen (also in kontinuierlicher Veränderung) zu sein. Eine schöne Analogie dazu ist das Wetter. Die Vorstellung konstanter Wetterverhälntisse stellt den Begriff Wetter in Frage und führt ihn ad absurdum. Vielmehr geht es um die verschiedenen Qualitäten von unterschiedlichen Wetterverhältnissen und wie sich diese verändern.
Sich nicht von seinen Gefühlen abhängig zu machen und sich an sie zu klammern ist mir auch deshalb ein wichtiges Thema, weil ich mich eine Zeit lang mit "Happiness-Forschung" beschäftigt habe. Dort gibt es die normative Grundhaltung das Menschen glücklich sein wollen und sollen. Diese moralische Komponente (Wilfried spricht vom wertenden Aspekt) kann aber dazu führen, dass Menschen den Kontakt zur Realität verlieren und die Gefühle mit der aktuellen Situation und ihren Erfordernissen nicht mehr zusammenpasst. Meiner Ansicht nach geht es im ersten Schritt also nicht darum das Menschen glücklich sind, sondern darum, dass Sie die Freiheit haben authentisch zu sein und mir ihren Gefühlen zu fließen, also nicht einem gesellschaftlichen "Happiness-Ideal" nachlaufen müssen. Die Happiness-Forschung und darauf aufbauende Ausbildungen bergen für mich die Gefahr des Anklammerns an Gefühle. (Abgesehen davon führt das Anklammern an Glücksgefühle zum paradoxen Resultat, dass man sich dabei immer in der Angst befindet nicht glücklich zu sein.)
lG, Wolfgang
Ich kann dem zustimmen, dass das Anklammern an Gefühle problematisch ist. Ich sehe es nur so, dass wir, solange wir in Wachstumsgefühlen sind, keine Tendenzen zum Anklammern haben. Diese entstehen dort, wo sich das Wachstumsgefühl gerade verabschiedet hat und wir es zurück haben wollen, weil es sich plötzlich nicht mehr so angenehm oder toll anfühlt. Da ist eben schon die Angst wirksam, etwas verloren zu haben und nicht wieder zu kriegen.
LöschenGlück kann man nach dieser Auffassung nicht "machen", es ist einfach da, wenn wir in Wachstumsgefühlen sind. Authentisch sein heißt, mit dem zu sein, was gerade ist, ob es angenehm oder unangenehm, passend oder unpassend ist. In diesem Sinn ist das Akzeptieren dessen, was gerade ist, wichtiger als das Glücklichsein, und das Letztere eine Folge des Ersteren.
Mir gefällt besonders Dein letzter Satz, weil er sehr schön ausdrückt, worum es mir in dem Kommentar ging :-).
AntwortenLöschenBezüglich dem Anklammern möchte ich noch was ergänzen. Ich glaube nämlich nicht, dass das Anklammern sich auf Wachstumsgefühle beschränkt. Es ist zwar eine ziemliche „Energieverschwendung“ (aus der Perspektive des Nervensystems betrachtet) sich an Schutzgefühle zu klammern. Wenn Menschen aber sehr stark mit Schutzgefühlen vertraut sind kann das Sinn machen, weil es mir Stabilität und Sicherheit gibt. In diesem Fall wirkt sich ein Loslassen können und das Einüben auf die Entspannung des Ausatmens besonders „Lebensverändernd“ für die betroffenen Personen aus.
Ich hatte ja gemeint, dass, wann immer wir uns anklammern, Schutzgefühle aktiv sind. Anklammern heißt, wir wollen etwas festhalten, was uns vor etwas schützt. Natürlich macht es Sinn, im Sinn der Psycho-Logik, an Schutzgefühlen festzuhalten, wie eben jede Neurose ihren Sinn hat. Und das Erlernen des Loslassens ist zugleich das Erlernen des Vertrauens in den Moment. Damit können wir aus den Schutzgefühlen herauswachsen.
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