Mit dem Ja zum Moment verbinden wir uns mit der gerade aktuellen Realität. Wir nehmen sie so an, wie sie gerade ist, gleich ob sie uns unangenehme oder angenehme Gefühle bereitet. Wenn wir dieses Ja nicht schaffen, sondern die Realität anders wollen als sie ist, trennen wir uns von der Welt um uns ab. Aber auch in uns selbst entsteht eine Spaltung: Ein Teil repräsentiert die Realität, die gerade besteht, und ein anderer Teil will sie anders als sie ist. Wir leiden an einem inneren Konflikt.
Das Ja zu uns selbst
Wir geraten also nicht nur mit der Welt um uns herum in Widerstreit, wenn wir sie ablehnen. Wir entzweien uns auch von uns selbst, weil wir ja Teil dieser Welt sind. Besonders deutlich erleben wir diese Abtrennung, sobald wir an uns herumzumäkeln beginnen: Wir entsprechen nicht einmal unseren eigenen Erwartungen, wir bleiben laufend hinter dem zurück, was wir in Bezug auf uns selbst für richtig und gut halten, wofür wir uns geeignet halten, was unsere optimalen Möglichkeiten wären usw. Wir streben einem Ideal von uns nach, das wir nie erreichen, und nehmen dieses Versagen als Anlass, um uns selbst zu kritisieren und abzuwerten. Nie wieder soll mir eine Vase aus der Hand gleiten und zerbrechen, nie wieder möchte ich mich so unhöflich benehmen, nie wieder möchte ich so unmäßig in mich hineinfressen usw.
Wir spalten uns in den inneren Kritiker und in sein Opfer. Wir haben etwas falsch gemacht, ein Missgeschick ist uns unterlaufen, eine Herausforderung haben wir nicht gemeistert. Wir sind unzufrieden mit uns selber und folglich uneins. Damit lähmen wir unsere Handlungsmöglichkeiten. Der Kritiker möchte, dass das Opfer seinen Misstritt eingesteht, das Opfer möchte, dass es vom Kritiker verstanden und in Ruhe gelassen wird. Häufig geschieht dann überhaupt nichts, außer dass der Kritiker noch unzufriedener wird und das Opfer noch hilfloser.
Deshalb müssen wir unsere inneren Teile wieder zusammenführen, um weiterzukommen. Dem Kritiker muss klar werden, dass er akzeptieren muss, was geschehen ist. Es lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Dem Opfer muss einleuchten, dass es keinen Grund zur Ohnmacht gibt. Es braucht nur das Vertrauen darauf, dass es weitergeht. Jedes Versagen ist nur ein weiterer Schritt auf der eigenen Lernlaufbahn. Jeder Fehler war wichtig dafür, zu erkennen, was passiert ist, und neue Möglichkeiten zu erlauben.
Kritiker und Opfer können sich versöhnen, indem der Kritiker die Erfahrung des Opfers in sich aufnimmt, während das Opfer die Kraft des Kritikers fürs Weitergehen nutzt. Wir schließen uns wieder mit uns selber zusammen, als Voraussetzung, um wieder in die Gegenwart zu kommen. Solange wir im Fehlermachen und Versagen festhängen, sind wir an die Vergangenheit und an ihre Unveränderlichkeit gefesselt – unfähig, die Kraft des gegenwärtigen Moments (Eckhart Tolle) zu nutzen und zu genießen. Die Vergangenheit kann uns nicht helfen, die Gegenwart zu meistern, weil sie nichts von der Gegenwart wissen kann. Wir müssen sie also hinter uns lassen, wenn wir weiterkommen wollen.
Dazu sagen wir zunächst Ja zur Vergangenheit und nehmen uns in unserer Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit an. So können wir das Alte in Frieden verabschieden. Dann gehen wir in den gegenwärtigen Moment und geben auch ihm ein Ja, und schauen, was sich als nächstes zeigen will.
Das Ja zum eigenen Körper
Es gibt Zusammenhänge, in denen wir wollen, dass ein Teil der Realität verschwindet, sofort, für immer: Lästige Körpersymptome wie Zahnschmerzen oder Kopfweh, menschenverachtende Verhaltensweisen von Zeitgenossen, ungerechte politische Systeme usw. Da akzeptieren wir nicht einmal die Existenz dieser Phänomene, sondern fühlen uns in jedem Recht, dafür zu sorgen, dass sie aus dem Bereich des Wirklichen gelöscht werden.
Allerdings ist das Nicht-Akzeptieren keine Hilfe. Bloß weil wir nicht wollen, dass wir Zahnweh haben, hört es nicht auf. Erst wenn wir akzeptieren, was ist, auch wenn es arg schmerzt oder unerträglich schlimm ist, können wir etwas dagegen tun. Aus dem Akzeptieren erwächst das Handeln, umgekehrt funktioniert es nicht. Häufig machen wir sogar die Erfahrung, dass das Akzeptieren von Schmerzen die Schmerzen verringert. Denn im Akzeptieren entspannen wir uns, und das kommt dem Gewebe entgegen, in dem sich der Schmerz gebildet hat. Dazu kommt, dass wir aufhören, gegen das Schicksal zu kämpfen, das uns gerade drangsaliert, und geben wir damit dem Leiden weniger Energie.
Unser Körper zeigt seine Symptome nicht aus einer fiesen Tendenz, uns lästig sein zu wollen. Es zwackt irgendwo, weil wir uns dort verspannt haben. Es drückt im Bauch, weil wir etwas Ungesundes gegessen haben. Es schmerzt der Kopf, weil wir ihn überlastet haben. Unser Körper signalisiert uns, dass wir etwas ändern sollten: Unsere Bewegungsweise, unsere Ernährung, unser Arbeits- und Schlafverhalten usw. Er will in seiner Form des Ausdrucks angenommen und verstanden werden. Wenn uns das gelingt, nehmen wir uns selber tiefer an und weiten das Verständnis für uns selbst.
Wir alle wünschen uns einen gesunden, aktiven Körper und erwarten und erhoffen, dass wir ihn so rasch wie möglich wiedererlangen, wenn wir akut erkranken oder wenn wir an einem langwierigen Leiden laborieren. Was aus dem Lot ist, möchte wieder zurück ins Gleichgewicht. Wir unterstützen den Wunsch nach Heilung aber nicht dadurch, dass wir gegen das Leiden kämpfen, sondern dadurch, dass wir im ersten Schritt das Leiden annehmen, um erst im zweiten Schritt die Maßnahmen zu ergreifen, die zur Heilung führen. Wir greifen erst dann ein, wenn klar und verstanden ist, wo die Störung liegt und was sie braucht, um sich zu verbessern oder sich wieder zu verabschieden.
Es so lassen können, wie es ist
Die Aufgabe liegt also darin, das, was ist, im Moment zu lassen, damit wir es erkennen und verstehen können. Häufig ist unser Impuls, sofort verändernd einzugreifen, wenn etwas nicht in unserem Sinn ist. Sticht uns eine Mücke, wollen wir uns sofort kratzen, was meist den Schmerz verstärkt und verlängert. Der spontane Impuls zum Verändern ist in vielen Fällen nicht der beste, weil wir oft noch zu wenig erkannt haben, worum es wirklich geht und was der beste nächste Schritt wäre. Häufig steuern früh geprägte Reaktionsmuster und Überlebensstrategien diese Impulse: Kampf, Flucht oder Erstarren.
Mit der Übung im Annehmen schaffen wir eine Unterbrechung, ein Innehalten. Indem wir aus dem, was sich unmittelbar aufdrängt, heraustreten, unterbrechen wir die unbewussten reaktiven Abläufe. Ein Raum für Klärung entsteht, aus dem der nächste bewusste Schritt entspringen kann. Alles Weitere kann dann von selbst geschehen.
Vor allem bei emotionsgeladenen, stressbesetzten Erfahrungen hilft das Innehalten als Grenze zwischen dem Akzeptieren der Situation und dem eingreifenden Handeln. In einem hitzigen Disput gibt ein Wort das andere, ohne Kontrolle über all die emotionalen Racheimpulse, die sich Bahn brechen und die Konflikteskalation beschleunigen. Was ist, ist, und es ändert sich nicht grundlegend durch blinden Aktionismus; allenfalls versteckt es sich und taucht dann hinterrücks in neuem Gewand auf.
Nur wenn es uns gelingt, den zwanghaften Ablauf zu unterbrechen, die Aufmerksamkeit nach innen zu bringen und zum Moment Ja zu sagen, können neue Perspektiven mit neuen Handlungsmöglichkeiten auftauchen. Auf diese Weise befreien wir uns von den Verstrickungen aus Reaktionsmustern, die uns scheinbar klar die nächsten Aktionen diktieren, statt das Beste für die aktuelle Situation finden zu können.
Wenn wir wirklich Ja zum Moment sagen können, ist es ein bedingungsloses Ja zu diesem Moment mit Verzicht auf jede Änderung und auf jeden Eingriff. Es darf gerade so sein, wie es ist, und wir vertrauen darauf, dass uns der nächste Moment zeigen wird, was als nächstes geschehen soll. Wir nehmen uns mit unseren vorgeprägten Impulsen heraus aus dem Fluss der Ereignisse und spielen dort mit, wo wir nicht die erste Geige spielen müssen.
Die Grundlage der Achtsamkeit
In der Erfahrung des Ja zum Moment nutzen wir das Grundprinzip der Achtsamkeit. Es besagt, dass wir uns ganz in die Erfahrung des Moments hineinbegeben, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen. Wir verbinden uns innig und möglichst vollständig mit diesem Moment, und wenn nichts mehr zwischen uns und der Wirklichkeit unserer Erfahrung steht, sind wir mit uns eins und mit der Welt um uns.
Der achtsame Umgang mit uns selbst beinhaltet die bewusste Bejahung all dessen, was unser Inneres uns zeigt, Körperwahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Gedanken. Wenn sich alte Muster und früh geprägte Überlebensstrategien einmischen, wird diese unmittelbare Beziehung zu uns selbst und zum Fließen des Lebens durch uns unterbrochen. Wir können aber immer wieder gegensteuern, indem wir uns bewusst machen, was jetzt, in diesem Moment, in uns abläuft. Wir brauchen nur unsere Aufmerksamkeit auf unsere Atmung lenken, und schon sind wir mit uns in einer umfassenden Weise verbunden.
Der nächste Kurs in Achtsamkeit, den ich anleite, läuft vom 17. September bis 12. November 2018 (jeden Montag mit Ausnahme 29. Oktober), jeweils 19:00 - 20:30 in der Cervantesgasse 5/5, 1140 Wien.
Zum Weiterlesen:
Sag Ja zum Moment
Das Ja zum Selbst
Unterschiede im inneren Wachstum
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