Wenn wir alles einfach geschehen lassen, wie es von selber geschieht, könnte passieren, dass wir in unseren Gewohnheiten festhängen bleiben. Gewohnheiten bilden wir uns aus, um uns das Leben leichter zu machen und die Risiken von Überraschungen und Neuanfängen zu vermeiden. Wenn wir uns in der Flexibilität schulen wollen, geht es gerade darum, Neues auszuprobieren und Routineabläufe zu verändern. Wir greifen in den Vorgang einer Gewohnheit ein und machen es auf eine neue Weise. Wenn wir eine Gewohnheit beim Zähneputzen haben, putzen wir mal andersherum. Wenn wir in der Suppe rühren, stellen wir uns auf ein Bein oder fangen an, mit dem Becken zu kreisen. Wir spazieren am Gehsteig und flechten tänzelnde Beinbewegungen ein, usw. Wir machen also eine Musterunterbrechung, wie sie auch aus verschiedenen Therapierichtungen bekannt ist. Das Muster wird erkannt, in seinem Ablauf aufgehalten, und eine neue Handlungskette wird in Gang gesetzt, die durch das Vorige nicht festgelegt ist. Wir werden unvorhersehbar und unberechenbar, für andere und für uns selber.
Dazu braucht es offensichtlich Bewusstheit und Entscheidung: Was läuft gerade ab und was möchte ich stattdessen? Ich mache mir bewusst, was gerade geschieht und lasse mir etwas Neues einfallen. Dann setze ich die Neuigkeit in eine Handlung um, indem ich mich dafür entscheide und diese Entscheidung umsetze.
Musterhafte Gewohnheiten geschehen einfach, ohne unser Zutun, ohne unsere bewusste Beteiligung. Sie sind also ein gutes Beispiel für die Unnotwendigkeit eines freien Willens. Wir bilden solche Gewohnheiten nachgerade zu diesem Zweck aus, dass sie uns von Willensentscheidungen entlasten. So müssen wir uns nicht jeden Tag überlegen, auf welche Weise wir eine Orange schälen oder die Schuhbänder knöpfen. Die Schulung der Flexibilität hingen scheint einen freien Willen vorauszusetzen. Wie sonst könnten Gewohnheiten unterbrochen werden? Es muss da gewissermaßen eine äußere Instanz geben, die in solche vorgegebenen Abläufe eingreifen kann, um sie zu unterbrechen und umzugestalten.
Natürlich ist diese äußere Instanz eine innere, und sie hat, wie alle Entscheidungs- und Handlungsabläufe, einen Hintergrund. Von vorne betrachtet, gehen wir davon aus, dass wir frei handeln, gerade dann, wenn wir aus einer Gewohnheit aussteigen und etwas Neues, vorher nicht Dagewesenes beginnen. Wenn wir dahinter schauen, fragen wir uns, woher die Impulse kommen, die uns auf Gewohnheiten aufmerksam machen und uns dazu motivieren, bewusste Änderungen vorzunehmen. Wir könnten sagen, dass diese Impulse aus unserem Willen kommen. Wer oder was aber wäre denn dieser Wille? Ein kleines Männchen in uns, das seine Befehle formuliert und als Befehle an die Körperperipherie weitergibt? Woher nimmt denn dieses Männchen seine Ideen? Vielleicht enthält das Männchen ein noch kleineres Männchen, das sich dauernd neue Ideen einfallen lässt?
Daraus können wir ersehen, dass wir in eine theoretisch unendliche Kette gelangen, wenn wir nach einem Urheber unserer Handlungen fragen. Also befinden wir uns in einem Gedankenexperiment, das kein Fundament in der Sache, in der äußeren Wirklichkeit hat und deshalb auch keine Wirkungen auf die Außenwelt haben kann, sprich für unsere Handlungen irrelevant ist.
Flexibles Handeln als Meta-Gewohnheit
Was geschieht also, wenn wir unsere Handlungsmuster bewusst und intentional ändern? Wir balancieren auf einem Bein, während wir auf die U-Bahn warten, etwas, was wir vorher noch nie gemacht haben. Es gibt also dafür keine Handlungsroutine in uns, und deshalb nehmen wir an, dass wir gerade eine freie Willensentscheidung getroffen haben. Allerdings gründet diese Annahme auf keinem Sachverhalt, sondern nur auf einem subjektiven „Gefühl“ oder einer inneren „Gewissheit“. Denn wenn wir in uns nachschauen, was uns zu der neuen Aktion gebracht hat, werden wir eben nichts vorfinden, sondern ins Leere forschen. Und das ist die Gewohnheit, die dahinter steckt: Diese Leere füllen wir einfach mit dem Konzept eines freien Willens – ein abstrakter Begriff für ein Nichtwissen, und es ist dieser Begriff, der uns dann das „Gefühl“ oder die „Gewissheit“ gibt, dass „wir“ es sind, die unser Leben lenken und bestimmen.
Wir steigern unsere Flexibilität und damit unsere Unabhängigkeit von eingeprägten Gewohnheiten und unnützen Verhaltensschablonen, weil die Impulse dazu in uns entstanden und gewachsen sind und nicht, weil wir sie erschaffen haben. Mit der Pflege unserer Flexibilität erwerben wir eine Meta-Gewohnheit, die unser Leben abwechslungsreicher und kreativer gestaltet. Künstler oder schlagfertige Kommunikatoren sind Menschen, die über solche Meta-Gewohnheiten verfügen. Flexibilität besteht ja darin, dass spontane Ideen in uns aufsteigen, die wir dann einfach umsetzen – oder: die sich in uns umsetzen –, ohne Dazwischenschaltung einer abwägenden Entscheidungsinstanz, also ohne Notwendigkeit für einen freien Willen.
Subtile Ego-Entmachtung
Auf diese Weise lässt sich die Idee des Lernens und der inneren Weiterentwicklung mit dem Konzept der Freiheit von der Willensfreiheit vereinbaren. Lernen geschieht, und jeder Lernschritt eröffnet neue Möglichkeiten und vergrößert damit den Spielraum für Flexibilität. Als Folge der Erweiterung dieser Spiel-Räume, in denen eben das Tun ins Spielen hinübergleitet, geschieht immer mehr Geschehen, und geplantes, von Entscheidungen initiiertes Handeln wird zunehmend überflüssig. So entpuppt sich die Entwicklung der Flexibilität als ein subtiler Weg zur Entmachtung des Egos.
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