Samstag, 20. Oktober 2018

Gefühle machen Gedanken machen Gefühle

Das Erwachen der Gefühle


Das Verhältnis von Gefühlen und Gedanken trägt viel dazu bei, wie wir mit uns selbst und unserem Inneren umgehen können, aber auch, wie wir den Austausch mit anderen Menschen gestalten. Wenn wir in unserer Entwicklungsgeschichte zurückgehen, fällt es uns nicht schwer, dass wir uns die Entwicklung unserer Subjektivität in folgender Weise vorstellen: Wir beginnen als winziger Organismus, dessen einzige Form der Selbsterfahrung auf der Empfindungsebene gelegen ist, vermutlich darin, bedrohliche von vertrauenerweckenden Situationen unterscheiden zu können. Dann entstehen komplexere Strukturen, die zur Entstehung von Gefühlen zusammenwirken. 

Schließlich entwickelt sich die Denkfähigkeit zusammen mit den höheren Gehirnfunktionen. Auf diese Weise baut sich in uns eine Hierarchie der Subjektivität und Selbstbezüglichkeit auf, wodurch ein mehrstufiger Prozess der Bedeutungsgebung für innere und äußere Vorgänge möglich wird:

Körperempfindungen bekommen mehr Sinn, wenn sie sich in Gefühle zusammenschließen, und Gefühle werden besser verstanden, wenn sie begrifflich benannt und in Denkzusammenhänge eingefügt werden können. Auf diese Weise verfügen wir über verschiedene Möglichkeiten zum Umgang mit der Wirklichkeit, was wiederum für unsere Handlungsfähigkeit von großer Bedeutung ist: wir können mit Empfindungen Situationen schnell einschätzen und unmittelbar reagieren, wir können mit Gefühlen genauere Bewertungen vornehmen und angepasstere Handlungen setzen und wir können mittels unseres Denkens die Situation umfassender verstehen und unterschiedliche Konsequenzen einplanen. Je nach Dringlichkeit und Gefahrenpotenzial entscheidet unser inneres Organisationssystem, ob Körperempfindungen, Gefühle oder Denken als Entscheidungsinstanz zur Handlungsleitung verwendet werden.


Als Gefühlswesen werden wir geboren


Wenn wir ein Baby erleben, erkennen wir, was intensive Gefühle sind. Das kleine Wesen kann mit solcher Inbrunst schreien und toben, so, als wäre es in diesem Moment nichts anderes als dieses Gefühl und als könnte es nicht anders, als es in alle Welt hinauszuschreien, scheinbar ohne jede Rücksicht auf die Umwelt. Sein ganzer Körper ist dieses Gefühl, in einem alles mit einbeziehenden Prozess, in dem die gesamte Energie dieses Gefühls zum Ausdruck kommt und dann wieder verebbt. Das Baby verfügt noch über keine Kontrolle und Regulation und ist dem Schwall der emotionalen Antriebe ausgeliefert.

Es zeigen uns die Beispiele der kindlichen Emotionen, dass Gefühle ursprünglich nichts anderes sind, als die äußere Seite von inneren organismischen Prozessen. Ihr Ausdruck dient als Signale an die Umgebung, einzugreifen, um dem inneren Spannungszustand abzuhelfen, wozu ein Baby selber noch nicht in der Lage ist. Über ihre Gefühle drücken die Kleinsten aus: „Bitte tu was, damit es mir wieder besser geht.“ Und sie sagen es so lange und so heftig, bis die entsprechende Reaktion von außen kommt – oder bis die Kräfte erlahmen. Wir alle kennen das, wir alle haben das schon erlebt, wir alle waren einmal ein emotional gesteuertes Energiebündel.

Diese unmittelbare Impulsivität wird durch die Reaktionen der Umwelt, also vor allem der bezugnehmenden Menschen geformt. Das vehement geäußerte Bedürfnis wird gleich oder in überschaubarer Zeit und in der erforderlichen Form erfüllt, und der Zyklus schließt sich, Zufriedenheit und Entspannung breitet sich aus. 


Offengebliebene Bedürfnisse


Es kann auch vorkommen, dass das Bedürfnis nicht genau erkannt wird, weil die erwachsene Person zu wenig Resonanz und Empathie für die Gefühlsäußerung des Kindes aufbringen kann. Sie reagiert zwar, aber nicht in der passenden Form. Das Kind kriegt z.B. einen Schnuller statt Körperkontakt, den es gebraucht hätte. In diesem Fall beruhigt sich das Kind, weil es wahrnimmt, dass es wahrgenommen wurde und dass eine Reaktion erfolgt ist, aber entspannt nicht vollständig. Denn das eigentliche Bedürfnis wurde nicht befriedigt. Es erfolgte bloß eine Ersatzbefriedigung.

Das Körperlichsein der Gefühle in ihrer elementaren und ursprünglichen Form ist der Ausgangspunkt für einen Entwicklungsprozess, in dem schrittweise Unterscheidungen und Differenzierungen entstehen. Erst langsam mischt sich das Denken ein, das den Gefühlen Namen gibt und die Unmittelbarkeit des Erlebens unterbricht. Es zieht eine neue Ebene ein, von der aus das Gefühlserleben distanziert betrachtet werden kann. Dadurch wird es den heranwachsenden Kleinkindern dann möglich, Gefühle „strategisch“ einzusetzen, aus dem unbewussten Impuls, drängende Bedürfnisse zu erfüllen, notfalls auf Umwegen, wenn es direkt nicht geht. 

Die aus Frustrationen stammenden Gefühle wie Schmerz und Wut brauchen intensive und feinfühlige Zuwendung der Eltern, am besten mit Körperkontakt, damit sich das Kind sicher fühlen kann und sich seine inneren Gefühlsaufwallungen beruhigen. Bekommt es keine Zuwendung, sondern Schelte wegen der negativen Gefühle, baut das Kind in sich eine Gefühlsabwehr auf, die den Zugang zur Gefühlswelt sukzessive verschüttet. Es kann zwar sein, dass später die Gefühle eruptiv auftreten, insbesondere bei der Wut oder bei mit Zorn vermischtem Schmerz, aber die Tiefe dieser Gefühle ist dann nicht mehr zugänglich. Das mag zwar die Eltern erleichtern, die mit den starken Gefühlen des Kindes nicht umgehen konnten und sie können den Eindruck haben, dass sie es richtig erzogen haben. Aber häufig zeigt sich dann in der Pubertät, wie die aus der Kindheit aufgestauten Gefühle mit großer Vehemenz durchbrechen und massive Eltern-Kind-Konflikte bewirken können.


Denken und Gefühlskontrolle


Aus diesen Zusammenhängen wird deutlich, dass sich in Lauf der Entwicklung eine andere Ebene zwischen den Organismus und die Gefühle hineindrängt, die sich langsam als Regulationsinstanz über das Organismus-Emotionen-System aufbaut. Es ist der Verstand mit seinem Denken, der zunehmend Einfluss auf die Welt der Gefühle ausübt. Über das Denken erhalten die Gefühle eine Zeitdimension und werden in Kausalzusammenhänge eingebettet: Wenn A passiert, dann führt das zu Gefühl X, wenn B geschieht, kommt es zum Gefühl Y. Wenn mich die Mutter hochnimmt, fühle ich mich warm und angenehm. Wenn ich unten nass bin, fühlt sich das unangenehm und kalt an.

Mit zunehmendem Fortschritt in der Gefühlsregulierung bilden sich, wenn es nicht anders geht, irgendwann „instrumentelle Gefühle“, also Gefühle, die das Kind für seine eigenen Zwecke einsetzen kann, z.B. die Wut, um ein Wunschobjekt zu bekommen oder Weinen, um Trost zu kriegen. Unser Denken stellt dafür die Zusammenhänge zur Verfügung.

Schließlich sind wir in der Lage, über Gedanken Gefühle in uns wachzurufen. Wir denken an einen schönen Sonnentag und schon kommt ein angenehmes Gefühl, obwohl uns vorher der nebelige Herbsttag missfallen hat. Wir denken an jemanden, mit dem wir irgendwann einmal einen Konflikt hatten, und schon steigt Ärger in uns hoch. Wir üben uns darin, mittels Gedanken Gefühle zu erschaffen.


Erschaffen die Gedanken die Gefühle?


Nachdem sich also aus unseren Gefühlen das Denken entwickelt hat, kann es auf die Gefühle zurückwirken, zu einem kleinen Teil auf bewussten und zu viel größeren Teilen auf unbewussten Bahnen. So erscheint es, als ob wir mit unserem Denken große Teile unserer Wirklichkeit konstruieren und damit auch unsere Gefühlswelt manipulieren. Allerdings stecken hinter diesen Konstruktionsbemühungen wiederum unbewusste Gefühlsprozesse, die wir dann nur nachträglich mit unserem Denken, das die dazu passenden Erzählungen erzeugt, zu begründen:

„Da wir all unser Fühlen, Denken und Handeln vor uns selbst und vor den anderen sprachlich-logisch rechtfertigen müssen, erfinden wir ständig Geschichten. Wir glauben auch in aller Regel an sie und versuchen, unsere Mitmenschen von ihnen zu überzeugen.“ (Gerhard Roth, Hirnforscher)

Möglicherweise aus Unkenntnis dieser komplexen Interaktionen zwischen dem Denken und dem Fühlen kommen manche Autoren zur Meinung, dass Gedanken unsere Gefühle produzieren. Als Beispiel: Robert Betz schreibt in einem Buch: „Wir erschaffen unsere Gefühle mit unseren Gedanken. Da wir jedoch weitgehend unbewusst denken, ist uns dieser Vorgang selten klar. Wie … erläutert …, denken wir – als Reaktion auf das kritisierende Verhalten unserer Eltern – bereits als Kind Gedanken wie: ‚Ich bin nicht in Ordnung. Ich bin nicht liebenswert. Ich muss mich bessern.‘ Solche Gedanken erzeugen in uns Trauer,  Minderwertigkeit, Schuld- und Schamgefühle.“ (Robert Betz: Raus aus den alten Schuhen! So gibst du deinem Leben eine neue Richtung. München, Heyne 2016, S. 163)


Primäre und sekundäre Gefühle


Wir können das Beispiel auch so verstehen: Unsere Eltern kritisieren uns, das löst in uns primäre Gefühle aus (Angst, Schmerz, Ärger). Wenn wir bereits gelernt haben, dass diese Gefühle unerwünscht sind und deren Ausdruck die Situation verschlimmert, nutzen wir unseren Verstand, um die Erfahrung einzuordnen. Dazu bauen wir Denkstrukturen mit defensiven und selbstschädigenden Schlussfolgerungen auf, wie z.B. dass wir nicht in Ordnung sind, wie wir sind. Wir internalisieren die Kritik der Eltern und wenden sie gegen uns selbst. Das hilft uns zwar, unsere tieferen Gefühle nicht spüren zu müssen, hinterlässt aber auch Spuren in unserem Gefühlsleben, indem wir uns innerlich zurückziehen, und klein machen und resignieren. Schmerz und Angst verwandeln sich in Scham und Schuld. Beides sind sekundäre, kognitiv und sozial regulierte Gefühlsmuster, die bewirken sollen, dass wir nicht wieder aus der Rolle herausfallen und die Abwertung durch unsere Eltern auslösen.

Primäre Gefühle sind die unmittelbare Reaktion des Kindes auf die Gefühlsebene der Eltern, die in ihrer Kritik mitschwingt. Erst dann schaltet sich das Denken ein und produziert Selbstüberzeugungen, die dann wiederum sekundäre Gefühle hervorrufen und damit verbundene Haltungen wie Resignation oder Unterordnung oder Ressentiment verstärken. An all diesen Vorgängen ist unser Unbewusstes maßgeblich beteiligt, es handelt diese Prozesse gewissermaßen intern ab, und wir bekommen nur die Wirkungen zu spüren, die uns oft dann ein Leben lang in Bann halten, bis wir uns bewusst machen, was da eigentlich abgelaufen ist. 

Auf diese Weise können wir jetzt unsere höheren Denkfunktionen nutzen, um die defensiven Schlussfolgerungen zu korrigieren und ihre Macht über unser Selbsterleben zu brechen. Mit Hilfe der Kraft dieser Bewusstheit  beginnen sich unsere Scham- und Schuldgefühle aufzulösen und wir nehmen uns mehr als das an, was wir sind. Wir bekommen wieder einen ungehinderten Zugang zu unseren primären Gefühlen und zu unserer Lebendigkeit.

Zum Weiterlesen:
Gefühle - solche und solche

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