Sonntag, 8. Oktober 2023

Der allgegenwärtige Narzissmus

Jede Gemeinschaft, in der es Narzissten gibt, ist von narzisstischen Strukturen durchzogen und durchtränkt. So wie die Narzisse vertrocknet, wenn sie zu wenig Wasser bekommt, so würde die Narzisstin verzweifeln und nach Hilfe suchen, wenn sie nicht Menschen hätte, die ihr Muster bestätigen und auf ihre Manipulationen hereinfallen. Die verbreitete Blindheit gegenüber narzisstischen Verhaltensweisen und Persönlichkeitszügen führt dazu, dass Narzissten immer wieder Bewunderer und Verehrer finden, sowie Leute, die sie in Führungspositionen hieven, auf Rednertribünen bringen und in Machtpositionen wählen. Menschen, deren narzisstischen Anteile versteckt sind, bestätigen die narzisstischen Muster der offenen Narzissten und verstärken damit die Verblendung in der Gesellschaft. 

Es erstaunt immer wieder, wie narzisstische Menschen mit Täuschungen und Verwirrtaktiken Medien und Gerichte an der Nase herumführen können und mit ihren Schamlosigkeiten ungestraft durchkommen. Sie haben ihre Helfer und Helfeshelfer überall im Publikum, die heimlich oder offen Beifall klatschen, wenn ein Narzisst seine Gegner und Kritiker fertigmacht oder die Gerichte beschimpft, die ihn zur Rechenschaft ziehen wollen. 

Der Narzissmus ist allgegenwärtig und kommt gewissermaßen in den besten Kreisen vor. Deshalb ist er allen in irgendeiner Weise bekannt und vertraut. Da wir alle über narzisstische Anteile verfügen, haben wir Affinitäten und Resonanzen zu den narzisstischen Phänomenen, sobald sie irgendwo auftauchen. Jede Unbewusstheit, die uns unterläuft, füttert diesen Narzissmus in uns selber und in der ganzen Gesellschaft. Das Gestörte wird zum Normalen.

Offensichtlich narzisstisch gestörten Personen wird besonderes Vertrauen entgegengebracht, weil sie ins eigene unbewusste Erwartungsbild passen. Im Witz sagt der Mann zur Frau, während im Fernsehen jemand redet: „Sicher ist er der Satan, der Fürst der Dunkelheit, der König der Hölle, der Meister der Lügen, der Verblender und Überbringer von Übel und Verführung, aber er fürchtet sich nicht, auszusprechen, was die Leute denken.“ Der offene Narzisst bedient die unbewussten Fantasien der verdeckten Narzissten. Sie haben ihre Gefühle unter Kontrolle und würden nie in Hassreden verfallen. Das erledigt die Identifikationsfigur für sie. Deshalb verehren sie diese Person und hassen alle ihre Gegner. Sie fühlen sich erkannt und verstanden, ohne dass sie sich selber zu ihrem Hass und zu ihrer Bosheit bekennen müssen. Sie können in der Deckung bleiben, während die narzisstische Identifikationsfigur ihre Aggressivität stellvertretend in der Öffentlichkeit auslebt. 

Diesen Identifikationen ist auch geschuldet, dass gerade mutige Aufdecker von narzisstischen Übergriffen und Machenschaften besonderen Hass von jenen ernten, die weder mit den Tätern etwas zu tun haben noch von deren Manipulationen profitieren. Dieser Hass dient dem Schutz vor der eigenen Scham, die sich zeigen würde, wenn offenbar wird, dass die eigene Bewunderung und Verehrung einer gestörten Persönlichkeit gegolten hat.

Die innere Leere

Ein Kennzeichen des Narzissmus besteht in der Ausblendung und Ausleerung der eigenen Innerlichkeit. Er erzeugt immer eine Wirklichkeitsverzerrung, denn die Wirklichkeit kann nur dann adäquat erfahren werden, wenn das Innere mit dem Äußeren in einer fließenden Wechselbeziehung steht. Beim Narzissmus ist die Verbindung zum Inneren unterbrochen, wodurch das Innere zur Leerstelle wird.

Damit gibt es erstens keine klare Unterscheidung zwischen Innen und Außen und zweitens erlebt die Narzisstin das Außen als das Innen, während in Wirklichkeit es das Innere ist, das im Außen auftaucht. Da aber das Innen für die Innenwahrnehmung leer ist, wird diese Verwechselung nicht bemerkt. Es entsteht eine verschwommene Zone zwischen Innen und Außen, in die dann ungeprüft einfließen kann, was immer das narzisstische Muster bekräftigt.

Da das Innere als leer erlebt wird, indem es eben nicht erlebt wird, gibt es keinen Zugang zu einer Wahrheit mehr, die über die Subjektivität hinausginge. Für den Narzissten bemisst sich der Wahrheitsgehalt von Informationen daran, wieweit sie nützlich sind, um die anderen Menschen zu kontrollieren. Sie müssen in Schach gehalten werden, damit sie nicht auf die Idee kommen, die innere Leere zu erkennen.

Die narzisstische Wirklichkeitsproduktion

Narzissten neigen besonders zu Informationsquellen, die keine klare Unterscheidung zwischen Subjektivität und Objektivität aufweisen. Umgekehrt gilt, dass Menschen, die solchen Informationsquellen den Vorzug geben, einer narzisstischen Störung unterliegen. Die vor allem in deutschsprechenden Gebieten verbreitete Wissenschaftsskepsis hat genau dort ihre psychologischen Wurzeln. 

Narzissten suchen Informationen, die zwischen Subjektivität und Objektivität schwanken, die also ihre Quellen nicht benennen oder auf unseriöse Quellen zurückgreifen. Die Verschleierung der Herkunft des Wissens soll die Überprüfbarkeit der behaupteten Wahrheit erschweren und damit das schummrige Halbdunkel, in dem die narzisstische Selbstbestätigung am besten gedeiht, aufrechterhalten. Für diese Ausrichtung eignen sich die sogenannten sozialen Medien ganz besonders. Sie sind geradezu dadurch gekennzeichnet, dass Fantasien und Fakten wild durcheinandergewirbelt werden und alle Unterschiede zwischen Meinung und Wahrheit eingeebnet sind. Jeder kann dort jedes behaupten. Die Überprüfung der Wahrheitsansprüche erfordert Mühe und wird dann wieder als subjektive Behauptung klassifiziert, die einem gefallen mag oder nicht. Diese Form der Medienkommunikation hat den narzisstischen Wahrnehmungsmustern einen riesigen Aufschwung beschert. 

Die Inhalte, um die es bei den diversen Debatten geht, kennen in der narzisstischen Sphäre ebenfalls keine klare Grenze zwischen Innen und Außen, also zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven. Subjektive, gefühlserzeugte Fantasien werden zu Fakten, ohne dass die Umwandlung bemerkt wird. Da das narzisstische Muster durch die Vermischung von Innen und Außen gekennzeichnet ist, werden solche Verwirrungen von allen, die eine narzisstisch geprägte Wahrnehmung aufweisen, als normal und sinnhaft empfunden. Wer dem nicht beipflichten kann, kann nicht normal sein. Und wer diese aus dem Narzissmus erzeugten Einsichten nicht teilt oder durchschaut, bedroht das fragile Selbstverständnis der narzisstischen Persönlichkeit und muss deshalb bekämpft werden.

Zum Weiterlesen:
Grandioser und verdeckter Narzissmus
Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung
Rollen von Kindern narzisstischer Eltern


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