Samstag, 18. Februar 2023

Grandioser und verdeckter Narzissmus

Die Alltagsdiagnose Narzissmus

Der Begriff des Narzissmus hat es in die Alltagspsychologie geschafft. Er gewinnt an Bekanntheit und wird über den Kreis der eingefleischten Psychologen und Therapeuten hinaus zu einer beliebten Fremddiagnose. Manch einer ist gerade einer narzisstischen Beziehung entronnen oder vermeldet, dass sein Vater ein Narzisst war. Dieser oder jener Schauspieler oder Entertainer ist doch ein typischer Narzisst. Und spätestens der Paradenarzisst als mächtigster Mann der Welt hat jedem psychologisch Interessierten klargemacht, was es mit dieser Störung auf sich hat und wovor wir uns dabei in Acht nehmen sollten.  

Offenbar hat dieser Begriff – über seine Wurzeln in der griechischen Mythologie hinaus – eine eindringlich beschreibende Kraft für diverse Erfahrungen der unliebsamen Art. Denn Begegnungen mit Narzissten fallen dadurch auf, dass sie einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen, von dem man nicht genau weiß, woher er eigentlich kommt. Schließlich war die Person, mit der man auf einer Party geplaudert hat, eloquent, gewinnend und interessant. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings, dass in dieser Begegnung eigentlich nur eine Person anwesend war und man selber mehr oder weniger als Staffage gedient hat. Das ist der offensichtliche und offensive Narzissmus.  

Offener und versteckter Narzissmus

Daneben gibt es auch die weniger sichtbare Form. Das Bild des selbstverliebten und selbstbezogenen Narzissten, der andere nur als Mittel zum Zweck sieht und dauernd die eigene Grandiosität vor sich herträgt, wurde inzwischen ergänzt durch eine hintergründige und unauffällige Form. Sie heißt verdeckter oder vulnerabler Narzissmus. 

Narzissten sind selbstbezogen, d.h. die Rücksichtnahme auf andere und die Empathie mit ihnen steht an zweiter Stelle oder ist überhaupt nur zugänglich, wenn sie eigenen Zwecken dienlich ist. Der Überlebensmechanismus, der sich früh in der Kindheit ausgebildet hat, besteht in der Abspaltung von negativen Seiten, die verdrängt wurden. Nach außen hin wird ein makelloses und strahlenden Bild vor sich hergetragen (grandioser Narzissmus) oder ein sozial angepasstes Image präsentiert (verdeckter Narzissmus).  

Dieser Typ wirkt nach außen nett und verbindlich, zeigt seine Schattenseiten vor allem im privaten Umgang. Da in diesen Bereichen die Angst vor dem Aufdecken der eigenen Schwächen besonders stark ausgeprägt ist, schützt er sich hier durch Abwertungen, Kritik, Zynismus und Sarkasmus. Wird er darauf angesprochen, fühlt er sich ungerecht angegriffen und setzt sich sofort beleidigt zur Wehr. Der Spieß wird schnell umgedreht, der Täter verwandelt sich flugs ins Opfer. Der verdeckte Narzisst trachtet danach, die Menschen für sich einzunehmen, damit sie ihm nicht gefährlich werden. Er tut sich leicht, Beziehungen zu knüpfen, findet aber aufgrund seiner hohen Empfindlichkeit rasch ein Haar in der Suppe, an dem er seine Kritik aufhängt. Denn er befürchtet, allzu leicht Opfer der Schwächen seiner Mitmenschen zu werden und hofft, mit vorauseilender abwertender Kritik den Schaden abzuwenden. 

Narzissten neigen zum Verwischen von Grenzen; sie dehnen ihr Selbst auf ihre Mitmenschen aus, mit der heimlichen Hoffnung, dass diese so werden wie sie selber und ihnen dann kein Ungemach mehr bereiten. Alle müssten nach der eigenen Fasson ticken, alle müssen sich der eigenen Meinung anschließen, alle müssen verstehen, dass es nur eine richtige Meinung geben kann, nämlich die eigene. Das Mitgefühl ist ihnen schwer zugänglich, weil sie aus ihrer Selbstbezogenheit nicht herausfinden. 

Bisher war die Rede von zwei Typen des Narzissmus, doch die Sachlage ist komplizierter, weil sich der offene und der verdeckte Narzissmus nicht klar abgrenzen lassen. Es kommt häufig vor, dass Narzissten mal in den einen Typ und dann wieder in den anderen wechseln. Zum Beispiel können grandiose Narzissten nach einem Misserfolg zu selbstmitleidigen vulnerablen Narzissten werden. Oder verdeckte Narzissten schwelgen in Fantasien von Grandiosität. Es gibt also Mischformen oder ein Überwiegen der einen oder der anderen Spielart.

Die Scham im Zentrum des Narzissmus

Die großspurige Variante wehrt die Scham durch Arroganz und Größenwahn ab. Hier wird so getan, als gäbe es keine Scham: die Schamlosigkeit gilt als Stärke. Bei der zurückgezogenen Variante ist die Scham hingegen das immer wieder wahrgenommene Gefühl, das immer wieder kompensiert werden muss. Narzissten jedweder Spielart sind Virtuosen beim Austricksen des Schamgefühls. Sie schaffen es, Lügengebäude aufzubauen und ihre Mitmenschen zu verwirren, nur damit ihre eigenen Schwächen, für die sie sich schämen, nicht offenbar werden. Sie nutzen z.B. die Projektion, die ihnen hilft, die Schwächen der anderen überscharf wahrzunehmen. Sie können diese dann für die eigenen Zwecke nutzen, indem sie immer einen Schritt voraus sind im Beschämen, bevor sie die eigene Scham spüren müssen. 

Empfindlichkeit und Empathiemangel

Die feine, immer nach außen gerichtete Wahrnehmung der Narzissten ist die Quelle für Sicherheit. Da sie im Inneren fehlt, muss die Umgebung beobachtet werden, und die Beobachtungsgabe, die sich durch die andauernde Wachsamkeit herausgebildet hat, verhindert einerseits das Sich-selbst-Spüren im Inneren und ermöglicht andererseits abwertende bis hinterhältige Präventivangriffe gegen die Menschen, die bedrohlich werden könnten. Sie merken dabei nicht, dass sie Täter sind, denn sie haben keine Gefühle für ihre Opfer.

Die mangelhafte Empathiefähigkeit ist die Folge einer empathiearmen Atmosphäre in der Kindheit. Empathie kann nur durch erfahrene Empathie gelernt werden. Das fremde Leid zu spüren, ist dem Narzissten versperrt, weil es an das eigene Leid und an die eigene Zerbrechlichkeit erinnern würde. Auch Personen mit der vulnerablen Form des Narzissmus müssen sich vor ihrer wirklichen Verletzlichkeit schützen. Deshalb kultivieren sie eine Art des Scheinleidens, das als Ersatz für das Selbsterleben genommen wird.

Der Verlust des Selbst und die mühsame Suche

Alle Menschen wollen um ihrer selbst willen geliebt werden, und Kinder brauchen diese Erfahrung ganz besonders. Hat sie von Früh an gefehlt, so können sie keinen primären Narzissmus entwickeln, keine intakte Selbstbeziehung. Der sekundäre Narzissmus, der sich als Ausgleich für diesen grundlegenden Mangel ausbilden kann, hat kein Fundament, sondern „erfindet“ gewissermaßen ein Selbst, das sich aus den von den Eltern aufgeschnappten Erwartungen zusammensetzt. Deshalb spricht man von einem falschen Selbst, obwohl es vielleicht besser als Not-Selbst benannt wäre. Denn Narzissten leiden unter besonders großer innerer Not, die im Verlust des authentischen Selbst besteht. Ihr ganzes Bemühen, ihre angestrengte Fassadenbewahrung und ihr verzweifelter Kampf gegen all die vermeintlichen Feinde dienen der vergeblichen Suche nach diesem Selbst, weil es in der Außenwelt nie gefunden werden kann.

Den Ausweg aus der Falle des Narzissmus können die Betroffenen nur finden, wenn ihre Fassade, ihre Maske zerbröckelt und es ihnen gelingt, sich nicht die nächste Maske aufzusetzen, z.B. die verletzliche nach der grandiosen. Wie die anonymen Alkoholiker nur Leute aufnehmen, die sich selber eingestehen können, dass sie selber nicht mehr vom Alkohol loskommen können, gibt es für den Narzissten nur dann eine Hilfe, wenn er versteht, dass er Hilfe braucht, wenn er versteht, dass er alleine sein verlorenes Selbst nie finden wird. 

Zum Weiterlesen:
Der elterliche Narzissmus und die Selbstfindung
Rollen von Kindern mit narzisstischen Eltern



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