Freitag, 6. Oktober 2023

Gesellschaftskritik und Familienmuster

Immer wieder sagen oder schreiben Leute, dass sie die Gesellschaft, so wie sie ist, nicht aushalten, schlecht finden, aussteigen wollen etc. Da es keine vollkommene Gesellschaft gibt, hat jede Gesellschaft ihre Schwächen und Mängel. Es ist gut und wichtig, an Missständen Kritik zu üben und an Verbesserungen mitzuarbeiten. Denn jede Gesellschaft enthält Kräfte, die sie weiterentwickeln wollen. Diese Sichtweise enthält die Annahme, dass die jeweilige Gesellschaft weder gut noch böse, weder vollkommen noch verkommen ist, sondern viele Bereiche enthält, die annehmbar sind, und viele, die Verbesserungsbedarf aufweisen. 

In den verbesserbaren Bereichen können wir partielle und strukturelle Mängel unterscheiden. Mängel in Teilen der Gesellschaft, wie z.B. im Bildungswesen oder im Gesundheitssystem sind ein Dauerbrenner, weil sich diese Bereiche dauernd an die Weiterentwicklung der Gesellschaft anpassen müssen und dadurch zwangsläufig immer wieder in eine Schieflage geraten. 

Unter strukturelle Mängel fallen z.B. die Dynamiken des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das auf permanenter Ressourcenausbeutung beruht und damit eine Hauptursache für den Klimawandel darstellt. Eine andere Dynamik ist der Patriarchalismus, der langsam zurückweicht, aber noch immer Elemente der Benachteiligung der Frauen aufrechterhält. Dann gibt es den Nationalismus, der die Nationen gegeneinander ausspielt und bis zu Kriegen führen kann. Das sind einige Beispiele für die strukturellen Mängel, die die Handlungsfähigkeit von Gesellschaften einschränken und unter denen viele Menschen leiden. Eine Bewusstseinsentwicklung in Richtung systemisches Denken und Handeln kann solche strukturelle Mängel einer Besserung zuführen. Das gelingt, wenn diese Bewusstseinsform eine genügend große Zahl von Menschen erreicht hat.

Das Leiden an der Gesellschaft mit seinen frühen Wurzeln 

Wenn Menschen die gesamte Gesellschaft schlecht machen und angreifen, ohne sich bewusst zu sein, dass es Defizite nur in Teilbereichen und darunterliegenden Strukturen gibt, dann können sie Projektionen unterliegen. Sie sind ja selbst Teil dieser Gesellschaft und merken nicht, dass sie sich selbst dabei abwerten. Woher kommen diese Impulse, die gerne von Politikern und Demagogen aufgegriffen werden? Warum kommen Brandreden gegen die gesamte Gesellschaft, in der wir alle leben und zu derem Sosein wir alle beitragen, bei so vielen Menschen an? Warum fühlen sich viele verstanden, wenn auf die Gesellschaft oder auf das System hingehackt wird?

Wenden wir den Blick auf die Herkunftsfamilie. Sie ist die erste kleine Gesellschaft, die wir kennenlernen und durch die wir die frühesten und prägenden Eindrücke über das menschliche Zusammenleben erwerben. Wie Menschen miteinander umgehen und aufeinander reagieren, erleben und beobachten die Kinder und ziehen daraus ihre Schlüsse. Später wenden sie ihre Erfahrungen auf die anonyme Gesellschaft an, die in der projektiven Fantasie zu einem Einzelwesen wird, das bewertet, bekämpft oder verlassen werden kann.

Wenn also die Rede von „der Gesellschaft“ oder von „dem System“ ist, dann handelt es sich dabei mit viel Wahrscheinlichkeit um Projektionen aus frühen Erfahrungen. Die Einstellungen zum System im Kleinen werden später einfach auf das System im Großen übertragen. Das Leiden, das einem als Kind widerfahren ist, wird ihm angelastet.

Der Wunsch, aus der Gesellschaft auszusteigen, zeigt sich als Impuls, aus der Familie auszubrechen, die als unerträglich erlebt wird. Als Kind ist das nicht möglich; als Erwachsener richtet sich die Phantasie mit der Wut des Kindes auf die unerträgliche Gesellschaft. Der Wunsch, die Gesellschaft umzustürzen, nährt sich aus der Wut auf ein ungerechtes, ausbeuterisches, heuchlerisches oder missbräuchliches Familiensystem.

Die Familie ist nicht nur „die Keimzelle der Gesellschaft“, wie das gerne konservative Politiker in ihr Programm schreiben und auf ihren Reden verkünden, sondern auch die Keimzelle für die Einstellungen zur Gesellschaft als ganzer. Eine wertschätzende Atmosphäre in der Familie legt den Grundstein für eine differenzierte positive Einstellung zur Gesellschaft, während schlechte Erfahrungen mit der eigenen Familie ein Misstrauen und eine Abneigung gegen die Gesellschaft bewirken. Herrschte in der Familie Distanz und Kontaktarmut, so wird die Gesellschaft leicht als kalt und herzlos erlebt. Haben sich in der Familie traumatisierende Ereignisse abgespielt, so erscheint die Gesellschaft als bedrohlich und gefährlich. War die Familie einengend und kontrollierend, so kommt es zu besonders heiklen Reaktionen gegen jede Freiheitseinschränkung durch die Gesellschaft.

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