Der Opferstolz und die österreichische Identität
Viele Kollektive haben ihre Identität auf einem Opferstolz errichtet. Ein Beispiel bietet die zweite Republik in Österreich seit 1945, die sich lange Zeit als erstes Opfer des Nationalsozialismus definiert hat und u.a. mit dieser Erzählung die Besatzungszeit nach dem 2. Weltkrieg nach 10 Jahren beenden konnte. Dieser Opferstolz wirkte andererseits dabei mit, dass die Gräueltaten, die Österreicher während der Nazi-Diktatur begangen haben, unter den Teppich gekehrt wurden, ebenso wie die Mitläuferschaft einer großen Zahl bekennender Nationalsozialisten und Sympathisanten unter den Österreichern. Neben den offenen Anhängern der Nazis gab es einen noch größeren Anteil jener, die die neuen Machthaber mit Duldung und Unterordnung unterstützten, aber die sich nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft gerne als deren Opfer sahen. Die Täterscham suchte sich ein Schlupfloch mit dem Opferstolz
Die erste Republik tat sich schwer mit dem Opferstolz, denn sie entstand als Überbleibsel der Habsburgermonarchie und als Verlierermacht des 1. Weltkriegs. Das kollektive Gefühl war eher eines der Demütigung und existenzbedrohenden Verkleinerung. Der Stolz konnte allein im kulturellen Bereich aufrecht bleiben, in dem zumindest die Stadt Wien als Weltmetropole erhalten blieb. Die Demütigung machte viele Österreicher anfällig für die Großmauligkeit der Nationalsozialisten, die versprachen, gerade diese verletzte Ehre durch eine aggressive Eroberungspolitik wieder gutzumachen.
Zur deutschen Geschichte des Opferstolzes
Denn typisch für die Nazi-Propaganda war das Ummünzen der Opferscham („Der Verrat von Versailles“ und die Dolchstoßlegende) in einen Opferstolz („Deutschland über alles“), aus dem wiederum die Grundlagen für den Täterstolz gezimmert wurden. Die Verletzung des nationalen Stolzes Deutschlands, der aufstrebenden Zentralmacht in Europa, durch den als schändlich, demütigend und ungerecht wahrgenommenen Vertrags von Versailles wurde genutzt, um die eigene Gewalttätigkeit und Aggressivität zu rechtfertigen. Das Opfer fordert eine Wiedergutmachung, und wenn diese nicht freiwillig gewährt wird, muss sie mit aller Gewalt erzwungen werden.
Angesichts des materiellen, emotionalen und ideologischen Trümmerhaufens nach dem Ende des Krieges brachte die Nation die Scham der Täter zum Schweigen, zu überwältigend und monströs waren die Verbrechen wider die Menschlichkeit, die das nationalsozialistische Regime, dem sich viele Deutsche mit Leib und Seele verschrieben hatten, zu verantworten hatte. Nur vereinzelt meldete sich der Opferstolz bei jenen, die die Täterscham nicht tragen wollten, z.B. bei der Anprangerung von Kriegsverbrechen der Alliierten an den Deutschen. Diese hat es auch gegeben, aber sie stehen in keinem Vergleich mit den Taten der Deutschen, vor allem ihrer Vernichtungstruppen von der SS, aber auch von vielen Angehörigen der Wehrmacht, also der regulären Armee. Dennoch ist bis heute vor allem aus rechten und nationalen Kreisen zu hören, dass bei der Bombardierung von Dresden vom 13. – 15. Februar 1945 250 000 Tote zu beklagen waren, eine Zahl, die die NS-Propaganda verbreitete, die aber durch historische Forschungen auf ein Zehntel reduziert wurde, sodass heute offiziell von 25 000 Toten ausgegangen wird. Doch viele wollen bis heute an der größeren Zahl festhalten, um ein inneres Gegengewicht gegen die Scham zu haben, die z.B. mit der Verantwortung verbunden ist, dass durch die Nazis 6 000 000 Juden ermordet wurden. So kann man gegenrechnen, obwohl die Zahlenverhältnisse lächerlich sind, aber scheinbar einen moralischen Gutschein verbuchen: Wir haben ja auch unschuldige Opfer zu beklagen, was regt ihr euch über uns auf und macht uns schlecht?
Serbien und die Opfergeschichte
Ein anderes Beispiel für den Opferstolz liefert die Geschichte Serbiens, das seine moderne Identität auf der im Jahr 1389 verlorenen Schlacht am Amselfeld (Kosovo) gegen die Türken begründet. In dieser Schlacht wurde nicht nur der Großteil des serbischen Adels getötet, sondern auch die bis ins 19. Jahrhundert reichende Unterwerfung unter das osmanische Reich besiegelt. Bis heute wird der Jahrestag dieser Schlacht gefeiert, zeitweilig mit Unterstützung der serbisch-orthodoxen Kirche und der Verwendung des Vergleichs der Geschichte Serbiens mit der Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu. Der serbische Präsident Slobodan Milošević hat dieses Gedenkereignis 1989 genutzt, um den serbischen Nationalgeist zu stärken und offensichtlich auf kriegerische Auseinandersetzungen vorzubereiten, die dann bald darauf begonnen haben und den Zerfall von Jugoslawien herbeiführten.
Dazu kommt, dass das Land 1914 das erste Opfer des österreichisch-ungarischen Angriffskrieges war und im zweiten Weltkrieg von den kroatischen Faschisten und den Deutschen unterdrückt wurde. In den Zerfallskriegen von Jugoslawien konnten Serben endlich die Täterseite ausleben. Die inzwischen verurteilten Kriegsverbrecher genießen in manchen Kreisen bis heute Heldenstatus. Andererseits kam Serbien wieder in einen Opferstatus, als die NATO begann, Serbien zu bombardieren, um die Gräueltaten und ethnischen Säuberungen im damaligen albanischen Teil Serbiens, dem Kosovo, zu beenden.
Nationsbildung und Opferstolz
Diese Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Nationsbildungen, die die Bewohner eines Staates emotional zusammenhalten sollen, sind mit der Symbolik des Opferstolzes aufgeladen und nutzen ihn, meist in Verbindung mit dem Täterstolz, für den Zweck des Aufbaues einer nationalen Identität. Jeder Staatsbürger soll auf seinen Staat stolz sein, sei es auch nur für die Opfer, die in seinem Namen begangen wurden. Mit diesen Mitteln ist es gelungen, aus Menschen, die ein bestimmtes Gebiet bewohnen, Nationen zu formen, und ihnen eine einheitliche Identität zu verpassen. Es gibt nicht mehr nur Menschen als Einwohner eines bestimmten Tales oder Landstriches, sondern als Zugehörige zu einem weit umfassenderen Gebilde, dessen Identität mit allen Stolz- und Schamanteilen sie mit der Geburt übertragen bekommen und ihr Leben lang weitertragen, ob sie es wollen oder nicht.
Erst die bewusste Beschäftigung mit der eigenen Geschichte löst aus dem Bann dieser emotionalen Fallen, die mit den Opfermythen und Heldengeschichten errichtet werden, um die Menschen an abstrakte Staatsgebilde zu binden. Der Kontakt und die Begegnung mit den Angehörigen anderer Nationen kann ebenso den Blick für die Beschränktheit der nationalen Perspektiven, die vor allem von rechten Parteien immer wieder in ihre Propaganda eingebaut werden*, öffnen und die eigene Identität aus den Engen des Nationalen in das Weltbürgerliche weiten.
Kriegerdenkmäler: Institutionalisierter Opferstolz
Die Erhaltung und Pflege der Kriegerdenkmäler gehören in diesen Zusammenhang mit Scham und Opferstolz. Tote verdienen eine Ehrung durch ihre Angehörigen, dafür sind Friedhöfe da. Dass aber den Soldaten, die im Krieg gefallen sind, besondere Ehrungen auf öffentlichen Plätzen gewidmet werden, hat mit dem Opferstolz zu tun, der durch diese Traditionen hochgehalten werden soll. Den nachfolgenden Generationen soll das Bewusstsein bleiben, dass der Tod von Soldaten in einem Krieg eine wesentlich wichtigere Bedeutung trägt als jede andere Form des Todes. Die Denkmäler sollen symbolisieren, dass die Nachkommen stolz auf ihre opferwilligen Vorfahren sind, die für irgendeine Sache im Krieg ihr Leben gegeben haben. Das Opfer wird Teil der nationalen Identität und soll überindividuelle Motivationskraft erzeugen, die dann im Fall eines Krieges mobilisiert werden kann.
Wieweit die Symbolik von Leid, Opfer und Auferstehung, wie sie im Zentrum des christlichen Glaubens steht, an dieser Thematik beteiligt ist, wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung.
* Der neugewählte Vorsitzende der Freiheitlichen Partei Österreichs sprach bei seiner Parteitagsrede davon, er wolle „nicht in einem Islamistengrätzel leben, sondern unter meinesgleichen.“ Der Generalsekretär dieser Partei bemerkt bei dem gleichen Ereignis: „Wir sind die einzige Partei …, die vorbehaltslos hinter unseren Vorfahren steht.“ (Er erklärte dabei nicht, wie man hinter den Vorfahren steht, die man sich meistens hinter sich selber vorstellt.) Der Vorvorgänger des neuen Vorsitzenden hatte bekanntlich von einer „ideologischen Missgeburt der österreichischen Nation“ gesprochen, um zu belegen, dass die Österreicher sich gefälligst wie Angehörige der deutschen Nation fühlen sollten und ohne zu bedenken, dass damit gesagt ist, dass jede Nation und nationale Identität aus dem Schoß von Ideologien entsprungen ist.
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