Freitag, 3. November 2023

Die zweigeteilte Welt und der Nahostkonflikt

Die unterschiedlichen, quer durch die Welt und die Gesellschaften gehenden Parteinahmen in der aktuellen Phase des Israel-Palästina-Konflikts spiegeln die Teilung der Menschheit in zwei Welten wieder. In der einen Welt leben die Menschen in ziemlichem Wohlstand und Luxus, in der anderen Welt am Subsistenzminimum, in einer Spannbreite zwischen Elend und Hunger einerseits und prekärem Wohlstand andererseits. Die eine Welt, geografisch ungenau, der Westen, die andere, ebenso ungenau, der Süden. Diese Ungenauigkeit stammt aus einer nach wie vor dominanten eurozentrischen Sichtweise, so, als gäbe es einen archimedischen Punkt, von dem aus die Sicht auf die Welt erfolgt und von dem aus die Regionen eingeteilt werden, und dieser Angelpunkt befindet sich in der Mitte des angehäuften materiellen Reichtums.

In dem Konflikt identifizieren sich die einen mit der Wohlstandsnation Israel, der sie ihre Solidarität gegen Überfälle und Terror zusichern. Sie geben ihre Hilfe, damit die Grenzen der Wohlstandsoasen an der vordersten Front gegen Grenzüberschreitungen verteidigt werden. Aggressionen von außen müssen mit massiver Gegenaggressivität bekämpft werden, damit sie nie wieder zu einer Gefährdung der Privilegien, die sich im Lauf der Zeit angehäuft haben, werden können.

Die anderen fühlen sich solidarisch mit den Armen und Unterdrückten, weil sie ihre eigene missliche Lage darin wiedererkennen und weil ihre Wut auf die Reichen und Satten ein Objekt bekommt, an dem sie sich entladen kann. Sie soll die Ohnmacht und Aussichtslosigkeit kompensieren, die die Lebenssituation auf dieser Seite der Welt prägt. 

Auch in den wohlhabenden Ländern gibt es Menschen, die sich in Ohnmachtspositionen befinden, und deshalb kommt es auch dort zu aggressiven Demonstrationen gegen Israel. Das Land wird gewissermaßen als Repräsentant der Ungleichverteilung von Chancen und Ressourcen angesehen.

Außerdem wird Israel in vielen Ländern des armen Weltteils als Apartheid-Regime angesehen, das wie eine Kolonialmacht die autochthone Bevölkerung unterdrückt, deklassiert und verachtet. Aus dieser Sicht erscheint die Hamas wie eine Befreiungsbewegung gegen eine ungerechtfertigte Herrschaft. Das Konzept des Genozids ergibt sich aus dieser Betrachtungsweise, unterstützt von der Rhetorik radikaler Siedlerparteien in Israel, die eine Ausrottung der Araber fordern – und die jetzt in der israelischen Regierung sitzen. Andererseits enthält das Programm der Hamas die Auslöschung des jüdischen Staates.

Die Nebenrolle des Antisemitismus

Der Antisemitismus spielt in dieser Perspektive nur eine Nebenrolle, allerdings eine ziemlich einflussreiche, weil diese perfide Ideologie zusätzlich Emotionen mobilisiert und mit Hass auflädt. Ebenso aber lenkt die Antisemitismuskritik von der globalen Bruchlinie ab, durch die sich die Lebenschancen der Menschen grundlegend unterscheiden. Wenn die Kritik oder das Entsetzen über die israelischen Aggressions- und Zerstörungsaktionen schon als antisemitisch bezeichnet werden, wird der Grundkonflikt zwischen arm und reich ausgeblendet und damit gerechtfertigt. Diese Haltung ist genauso ideologiegetränkt wie die Einmischung des Antisemitismus in Solidaritätskundgebungen mit den palästinensischen Opfern.

Für die einen wirkt der Angriff auf die Wohlstandsinseln traumatisierend – eine Rave-Party wird brutal überfallen –, die anderen schockieren die Bilder von zerbombten Häusern und Babyleichen in den Elendsvierteln von Gaza. Die Angst auf der einen Seite, dass das Böse und Unmenschliche von außen in die Sicherheitszonen eindringen kann, kontrastiert mit der Angst auf der anderen Seite, selber Opfer der Übermacht einer Unterdrückungsmaschinerie zu werden oder für immer bleiben zu müssen.

Die zweigeteilte Welt

Es handelt sich um eine reale Zweiteilung der Welt, die jetzt überdeutlich als Spaltung sichtbar wird. Es gibt allerdings keine messerscharfe Trennlinie zwischen Armut und Reichtum, sondern viele Übergangsfelder. Maßgeblich sind die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen, aus denen die jeweilige Mentalität entsteht (Subjektive Befindlichkeiten, die von kollektiven Bewusstseinsfeldern bestimmt sind). Armut ist also nicht nur die Folge von niedrigem Einkommen, sondern auch von unsicheren und zerbrechlichen Strukturen ringsum, oft verbunden mit repressiven politischen Systemen.

Das Skandalon ist die massive soziale Ungerechtigkeit in der Menschheit. Es ist eine Trennlinie, die irgendwo zwischen Tel Aviv und Gaza City verläuft. Es ist ein Gebiet, in dem die zwei Welten hart aneinander aufeinander prallen, der Reichtum auf der israelischen Seite und die Armut auf der palästinensischen. Jeder Gewaltausbruch seitens der Palästinenser enthält auch einen Schrei nach mehr ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit.

Es gibt verschiedene Narrative, die das Wohlstandsgefälle rechtfertigen. Die meisten kommen aus der liberalen und neoliberalen Richtung und gehen von der (empirisch nicht haltbaren) zynischen Annahme aus, dass Reichtum durch Leistung geschaffen wird und Armut durch zu wenig Leistung entsteht. Wird dieses Konzept auf den Nahostkrieg angelegt, so werden die Araber als rückständig und arbeitsscheu beschrieben, die sich deshalb ihr Los selber zuzuschreiben hätten.  Solche Stereotypisierungen sind immer ideologisch aufgeladen und weisen das gleiche Strickmuster auf wie die antisemitistischen Vorurteile. Sie dienen nicht nur der Entlastung von der kollektiven Scham als Folge der skandalösen Armut, sondern auch der Rechtfertigung von Aggressivität und Zerstörungswut, die sich bei Gelegenheit destruktiv entlädt, z.B. bei gewaltsamen Übergriffen israelischer Siedler auf Palästinenser. 

Die Logik der Gewalt

Die Logik der Gewalt ist aus archaischen menschlichen Antrieben, die aus massiven Ängsten stammen, zu verstehen: Zahn um Zahn, Auge um Auge. Wenn ich keine Rache übe, stehe ich als Schwächling da und das Böse wird nur noch stärker. Vielmehr muss meine Rache massiver und zerstörerischer ausfallen, damit das Böse nie wieder auftaucht.

Diese Logik und damit ihre Akteure zu verstehen heißt nicht, sie gutzuheißen, im Gegenteil: Das Verständnis zeigt auf, dass die Eskalationsspirale nur durchbrochen werden kann, wenn eine Seite aussteigt – und das kann in diesem Fall nur die mächtigere Partei tun. Denn die schwächere ist immer wieder aus der Gewaltlogik ausgestiegen und hat versucht, gewaltfreie Wege zu gehen, z.B. beim „Marsch für die Rückkehr“ 2018, und hatte hunderte Tote und tausende Verletzte als Folge der israelischen Gewalt zu beklagen.

Das Verständnis für die Logik der Gewalt befreit vom Impuls der Parteinahme. Neben der Parteilichkeit für die Opfer brauchen wir die Parteilichkeit für den Ausstieg aus der Gewalteskalation und aus den Rachezyklen. Als Menschheit sollten wir im 21. Jahrhundert schon weiter sein, und es ist kollektiv beschämend, dass wir es nicht sind.

Zum Weiterlesen:
Über die Notwendigkeit und die Grenzen der Parteinahme
Parteilichkeit verstärkt die Gewalt


1 Kommentar:

  1. Ich möchte mir erlauben, folgenden Absatz zu kritisieren:

    "Das Verständnis zeigt auf, dass die Eskalationsspirale nur durchbrochen werden kann, wenn eine Seite aussteigt – und das kann in diesem Fall nur die mächtigere Partei tun. Denn die schwächere ist immer wieder aus der Gewaltlogik ausgestiegen und hat versucht, gewaltfreie Wege zu gehen, z.B. beim „Marsch für die Rückkehr“ 2018, und hatte hunderte Tote und tausende Verletzte als Folge der israelischen Gewalt zu beklagen."

    Ich vermute und hoffe, dass du bezüglich des erwähnten "Marsches für die Rückkehr" nicht das entsprechende Hintergrundwissen hast, denn sonst wäre diese Sichtweise äußerst bedenklich. Die damaligen Aktivitäten um diesen "Marsch" herum hatten mit Gewaltlosigkeit nicht das geringste zu tun. Ich darf dir dazu folgenden Artikel empfehlen:

    https://www.mena-watch.com/der-marsch-der-rueckkehr-ein-fazit/

    Auch würde mich interessieren, wann die schwächere Seite "immer wieder aus der Gewaltlogik ausgestiegen ist, diese angeblichen Vorgänge müssen sich in den letzten Jahrzehnten an mir vorbei geschmuggelt haben.

    Abschließend die immer noch gültige Replik auf die Behauptung, nur die mächtigere Seite könne aus der Gewaltspirale aussteigen. Wenn die Araber die Waffen niederlegen, herrscht Frieden, wenn Israel es tut, gibt es kein Israel mehr.

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