Der letztere Untertyp wird auch als „sexuell“ bezeichnet, wobei diese Zuordnung für Erwachsene Sinn macht, aber nicht für Kinder, geschweige denn für Ungeborene. Doch besagt die Theorie des Enneagramms, dass jeder Mensch seine Persönlichkeitsprägung „von Anfang an“ trägt, dass sie also nicht durch bestimmte hochwirksame Einflüsse in der psychosozialen Entwicklung entstanden sind. Deshalb bevorzuge ich bei der Untertypen-Einteilung die Bezeichnung „zweisam“ oder „eins-eins“, weil es darum geht, dass sich dieser Untertyp mit einer zweiten Person am wohlsten fühlt, während der selbstversorgende Typ am besten mit sich selbst zurechtkommt und der soziale Untertyp viele Beziehungen braucht, um sich sicher zu fühlen.
Aus der folgenden Betrachtung kann auch besser verständlich werden, wie die Kräfte und Energien der einzelnen Untertypen zusammenwirken und aufeinander angewiesen sind, um die Entwicklung des Lebens und der Individuen zu fördern.
In diesem Artikel möchte ich die Zusammenhänge unserer Frühentwicklung, und hier insbesondere die Empfängnis, mit den Enneagramm-Untertypen beleuchten. In der Bewältigung der zentralen Entwicklungsereignissen spielen alle Unter-Orientierungen eine Rolle, und es kann sein, dass Schwierigkeiten mit einem der vielfältigen Aspekte, die bei diesen Geschehnissen wichtig sind, zur Festlegung des Untertyps führen; es kann aber auch umgekehrt sein, dass der schon vorliegende Untertyp bewirkt, dass diese Schwierigkeiten als besonders gravierend erlebt wurden. Es handelt sich also um eine Henne-Ei-Frage, auf die es keine überzeugende Antwort, sondern nur modellhafte, im Grund willkürliche Festlegungen auf die eine oder die andere Variante gibt.
Die soziale Orientierung
Welche Elemente des Empfängnisgeschehens enthalten einen sozialen Schwerpunkt? Damit es zur Befruchtung kommen kann, muss sich eine Eizelle aus dem Verband und der Gemeinschaft der anderen Eizellen lösen, in der sie sich schon lange Zeit befunden hat. Sie muss alleine den Eisprung wagen und sich auf den Weg in den Eileiter begeben. Es kann also der Verlust der Gemeinschaft und die Aufgabe, es alleine schaffen zu müssen, bedrohlich, schockierend oder belastend wirken.
Auf der Seite der Samenzelle erfolgt die Abschiedsszene im dramatischen Geschehen vor der Ejakulation, indem die gewohnte Umgebung der Hoden hinter sich gelassen werden muss. Allerdings beginnt die Reise ins Unbekannte mit Millionen Gefährten. Erst am Ende der Reise, bei der Annäherung an die Eizelle muss die Entscheidung fallen, welche Samenzelle als einzige in die Eizelle eindringen kann, während alle anderen zurückbleiben und zugrunde gehen.
Das Empfängnisgeschehen symbolisiert die Wiedergewinnung einer Gemeinschaft. Sie setzt allerdings die völlige Selbstaufgabe der Samenzelle voraus, von der nur die Chromosomen übrigbleiben, während der Rest von der Eizelle verschluckt wird.
An diesen Elementen zeigen sich die Ressourcen für die soziale Orientierung: Die Offenheit für das Gemeinsame, die Kraft aus der Verbindung mit anderen und mit einer Gruppe schöpfen, die Vielfalt der Beziehungen wertschätzen und fördern.
Wurzeln für Traumatisierungen gerade für die so essentielle Ausrichtung auf die anderen und die Gemeinschaft können aus dem Verlust der Gemeinschaft und der sicheren Verbindung beim Abschied aus dem Eierstock oder aus dem Hoden stammen. Plötzlich geht es darum, das Überleben alleine schaffen zu müssen. Der Schritt zur Individualisierung ist herausfordernd und mit dem Verlust von sozialer Sicherheit verbunden. Unsicher ist, ob sich die Art von intimer und vertrauter Gemeinschaft, wie sie vorher bestanden hat, jemals wieder finden wird. Andererseits ist klar, dass sich jeder soziale Körper nur dann dauerhaft am Leben erhalten kann, wenn er ab und zu auseinanderfällt und sich dann neu formiert.
Die Selbsterhaltungsorientierung
Hier steht der Aspekt des Selber-Schaffen-Müssens im Vordergrund, aus dem Kraft und Entschlussfreude geschöpft wird. Die Eizelle macht sich auf dem Weg, um einer Samenzelle zu begegnen, die eine noch viel längere Reise auf sich genommen hat. Aus der Sicht der sozialen Orientierung wird gewissermaßen die Not in die Tugend umgewandelt: Die Sicherheit wird aufgegeben, um ein spannendes, aber auch sehr riskantes Abenteuer zu erleben.
In diesen Akten tritt die Individualität der Gemeinschaft entgegen und eröffnet ein kreatives Spannungsfeld. Ohne die Aufbruchs- und Ausbruchsimpulse fehlt der Gemeinsamkeit das Wachstums- und Veränderungsmotiv. Die etablierte Ordnung gerät dadurch in ein Chaos, um sich zu einer neuen Ordnung transformieren zu können.
Die besonderen Kräfte dieser Orientierung zeigen sich in der fokussierten Kraft des Vorwärtsstrebens hin zum Risiko und zum Aufbruch ins Unbekannte und Unsichere. Es geht um die Vorwärtsbewegung in eine Region, in der es nur zwei Möglichkeiten gibt, unterzugehen oder im äußerst unwahrscheinlichen Fall eine Ekstase der Schöpfung zu ermöglichen. Die Bereitschaft zu solchen Schritten und das Einlassen auf das damit verbundene Risiko des totalen Scheiterns ist ein Grundkennzeichen des Lebens und konstitutiv für dessen Weiterentwicklung.
Die Selbsterhaltungsorientierung kann bei einigen Ereignissen im Rahmen des Befruchtungsgeschehens traumatisch belastet werden, so bei der Abtrennung des Samenschwanzes kurz vor dem Eindringen in die Eizelle und bei der darauffolgenden Auflösung des Spermienkopfes - die in der zur Befruchtung strebenden Samenzelle enthaltene Selbsterhaltungsorientierung hat im Dienst des Lebens alles daran gesetzt, damit sich die Samenzelle mit der Eizelle vereinen kann, und muss sich nun vollständig aufgeben.
Die Zweisamkeitsorientierung
Dieser Untertyp versöhnt in gewisser Weise die Spannung zwischen der sozialen und der selbsterhaltenden Orientierung. Die gemeinschaftliche Ordnung bereitet die Weitergabe des Lebens vor, die nur durch ihr Aufbrechen geschehen kann, die die individualisierende Ordnung übernimmt. Das neue Leben entsteht als Vereinigung von Zweien.
Die vorwärtsdrängenden Kräfte der Eizelle und der Samenzelle sind durch die Hoffnung auf Zweisamkeit ausgerichtet und angetrieben. Die Samenzelle strebt zur Eizelle und wird von dieser eingeladen und erwartet. Die selbstorganisierte Bewegung führt von der Gemeinschaft weg hin zur Begegnung mit dem Anderen, das Männliche trifft auf das Weibliche. Die Anziehung geschieht durch die Verschiedenheit.
Dieser Orientierungstyp ist mit traumatisierenden Herausforderungen beim Eindringen in die Eizelle und bei der Chromosomenpaarung konfrontiert. Die Zweisamkeit muss sich, kaum gelungen, schon wieder in der Verschmelzung, also in einer neuen Einheit verlieren, die die Erbanlagen beider Seiten zusammenfügt und ein Individuum schafft – das sich dann gleichwohl nach einiger Zeit wieder teilen muss.
Der Zweisamkeitstyp repräsentiert die besondere Qualität, die in der Anbahnung und Herstellung einer Zweier-Beziehung liegt, die eine besonders intensive Form der Kommunikation und des Austauschs ermöglicht. Das Vertrauen, das in einer Zweierbeziehung aufgebaut werden kann, erlaubt besonders viel emotionale, geistige und materielle wechselseitige Unterstützung.
Grundzyklen des Lebens
Wir erkennen hier einen Grundzyklus des Lebens im Wechsel von Ordnung und Chaos, von größeren Verbänden zu kleineren zu Einzelwesen. Bei dem hier besprochenen Prozess steht die Gemeinschaft der Eizellen und der Samenzellen am Anfang, gefolgt vom Zerfall und dem Heraustreten des Einzelnen, um dann als Paar zusammenzukommen und eine neue Einheit zu formen, eine neue Ordnung, die dann sich wieder zum Chaos auseinanderfaltet. Jeder Zustand ist ein Übergang zum nächsten. Zum Gelingen des Ganzen ist jede der Orientierungen mit ihren eigenen Qualitäten gefragt und das organische Zusammenwirken all dieser Kräfte erst erlaubt Wachstum und Entfaltung. Dieser Prozess im Inneren des mütterlichen Organismus findet seine Entsprechung und Voraussetzung in der Umgebung, indem zwei Einzelwesen, Vater und Mutter, als Paar zusammenkommen, sich in der Sexualität vereinigen und daraus ein neues Einzelwesen entsteht, das die Paarbeziehung zu einer Dreierbeziehung, einer neuen sozialen Ordnung erweitert.
Auch im täglichen Leben gehen wir immer wieder durch diesen Zyklus. Wir treffen uns mit einer zweiten Person, sind mit Gruppen zusammen und verbringen dann wieder Zeit alleine. Es scheint, dass wir Menschen jede dieser Sozialformen brauchen und darunter leiden, wenn eine auf Dauer fehlt oder unterbelichtet ist. Unterschiedlich ist dagegen das Ausmaß, das die Bedürfnisse steuert, die einen, die das Alleinesein besonders schätzen, die anderen, die viel Zeit in Gruppen verbringen wollen und die dritten, die zu zweit am meisten Gewinn erfahren.
Jeder der drei Enneagramm-Untertypen repräsentiert einen Aspekt, eine Koordinate, eine Triebkraft dieses Geschehens. Nach der Enneagramm-Theorie zeigt sich in jedem Menschen eine der Aspekte besonders stark ausgeprägt, was den Sinn haben könnte, dass auf diese Weise die Gesellschaft optimal zusammenarbeiten kann. Denn alle diese Kräfte sind notwendig, und die beste Form der Kooperation ist gegeben, wenn alle Orientierungen in gleicher Weise zum Ausdruck kommen und ihre Wirkung entfalten.
Für die Selbsterforschung und -entwicklung gilt, dass die besondere Stärke der eigenen Grundorientierung zu nutzen, um die Ressourcen der anderen Orientierungen nutzbar zu machen und damit deren Potenziale besser für das eigene Leben einsetzen zu können. Das Enneagramm mit seinen Typenbeschreibungen und -zuordnungen dient als Ausgangspunkt für die Entwicklung zur Ganzheit. Ein Blick auf die möglichen, durch Traumatisierungen im Rahmen des Empfängnisprozesses entstandenen Hemmungen und Blockaden kann dabei sehr hilfreich sein.
Zum Weiterlesen:
Das Enneagramm und frühe Prägungen
Die Typenwahl und das Enneagramm
Reaktionsweisen auf die Scham nach dem Enneagramm
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