Warum können uns nahestehende Menschen
besonders leicht und besonders stark kränken? Warum reagieren wir bei den Menschen, die wir am meisten lieben, besonders empfindlich?
Je mehr Zeit wir mit anderen Menschen
verbringen, desto mehr werden diese Beziehungen mit Projektionen aufgeladen,
natürlich immer wechselseitig. Auf nahestehende Personen übertragen wir unsere
unerfüllten Bedürfnisse, emotionalen Mängel und Frustrationen. Besonders
stark sind diese Tendenzen bei Intimbeziehungen, denn dort wiederholen wir eine
Intimität, die wir ganz früh in unserem Leben mit unserer Mutter und vielleicht
auch mit unserem Vater hatten. Gerade aus diesen frühen Nahebeziehungen stammen unsere tiefsten Verletzungen und Missachtungen, die wir dann speziell mit Beziehungspartnern wie in einem Theaterstück wiederbeleben.
Dazu kommt ein pragmatischer
Gesichtspunkt: Die Menschen, mit denen wir am meisten Zeit verbringen, sollten
besonders nett sein, denn wir wollen eine angenehme Zeit mit ihnen verbringen.
Wenn sie uns kränken, befürchten wir, dass das immer wieder passieren könnte
und damit unser Alltag zur Hölle wird. Deshalb reagieren wir schnell und
heftig, um dieser Tendenz sofort Einhalt zu gebieten.
Außerdem sammeln unser Unbewusstes gerne
mit den Menschen in unserer Umgebung ganze Archive von Kränkungsgeschichten mit
allen Details aus all den Jahren. Unser Angstgedächtnis speichert akribisch,
was uns irgendwann angetan wurde, und stellt es sofort mit all den dazu
gehörigen Gefühlen zur Verfügung, sobald sich eine auch nur entfernt ähnliche
Situation einstellt. Deshalb neigen wir dazu, bei kleinen Kleinigkeiten allzu
leicht unsere mit alten Geschichten vollgefüllten Kränkungskisten zu öffnen,
die ihren Inhalt mit unangemessener Heftigkeit in die gegenwärtige,
möglicherweise ziemlich harmlose Situation hineinschwemmen.
Empfindlichkeiten als Zeichen von Selbstwertmangel
Je vielfältiger die möglichen Auslöser für
Beleidigungen bei jemandem sind und je häufiger sie auftreten, desto schwächer
ist das Selbstwertgefühl der betreffenden Person ausgeprägt. Menschen, die sehr
an sich selbst zweifeln, neigen dazu, sich sofort in Frage gestellt zu fühlen,
wenn sie irgendwo eine Ablehnung auch nur vermuten. Oft stellt sich heraus,
dass es von anderen Personen gar nicht so gemeint war. Aber der Verdacht kommt
leicht und schnell, dass andere einen selbst nicht mögen könnten und kritisch
einschätzten. Menschen mit dieser Disposition haben ihre Sensoren auf
Ablehnungsreize geschärft und scannen permanent die Umwelt nach möglichen
Anzeichen für eine Zurückweisung ab. „Kleinigkeiten“ können dann schon die
Kränkungsreaktion auslösen und eine Wunde im Emotionalkörper erzeugen oder
reaktivieren. Allerdings meint die betroffene Person in so einem Fall überhaupt
nicht, dass es eine Kleinigkeit ist, sondern ist überzeugt von der Gravität der
Ungerechtigkeit oder Respektlosigkeit ebenso wie von der Angemessenheit der
Intensität ihrer Reaktion darauf.
Es wirkt, als hätte die Außenhaut bei
diesen Menschen viele Löcher, in die alle möglichen Widrigkeiten von außen sehr
schnell tief nach innen eindringen. Oder, um ein anderes Bild zu versuchen, als
wäre die Haut so dünn, dass sie leicht von Außenreizen durchbrochen werden kann
wie von vergifteten Pfeilen. Jedenfalls kommt es zum Kippen von der
Selbstmächtigkeit in die Ohnmacht, sobald die zerstörerische Kraft der Kränkung
in das innere System eindringt, ähnlich wie ein Virus, der das Immunsystem
überwunden hat und sich nun unbeschränkt vermehren und ausbreiten kann.
Und jede ablaufende Kränkungsgeschichte
samt den mit ihnen verbundenen Gefühlsverläufen fügt dem Selbstwertkonto einen
weiteren Minuspunkt hinzu. Wir sollten es doch endlich geschafft haben, uns
nicht über jede Misslichkeit gleich so maßlos aufzuregen und jede kleine
Unbedachtheit unserer Mitmenschen mit so viel Wut oder so viel beleidigtem
Rückzug zu erwidern. Wir sind unzufrieden mit unseren Mitmenschen, die uns da
kränken und wir sind unzufrieden mit uns selber, weil wir wieder darauf
hereingefallen sind. Damit trennen wir uns noch mehr von uns selber ab und
verlieren noch mehr an Selbstachtung.
Die Kränkungsabwehr
Es gibt auch die vermeidende
Reaktionsvariante auf Kränkungen, die darin besteht, die eigene Verletztheit infolge
einer ungerechten Kritik oder eine offensichtlichen Missachtung nicht zu zeigen
und scheinbar nach außen die überlegene Rolle dessen zu spielen, dem nichts
etwas anhaben kann. Sie geben sich den Anschein, über den Bosheiten ihrer
Mitmenschen zu stehen.
Kränkungsunempfindliche Personen sind
nicht automatisch selbstwertstärker. Auf einer subtilen Ebene rächen sich Menschen,
die sich immer überlegen und unverletzbar zeigen (müssen), bei denen, die sie
verletzen, mit Verachtung. Sie folgen dem Motto: „Wenn du dich so aufführst,
hast du dich selbst als Mitmensch disqualifiziert. Ich nehme dich nicht einmal
soweit ernst, dass ich mich von dir beleidigen lasse.“ Wenn jemand dieses
Reaktionsmuster ausspielt, geht er in die Rolle eines Adelsangehörigen der
vornehmen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, der sich nur mit Seinesgleichen
duellierte, während alle, die weniger hochwohlgeboren waren, selbst im Fall
einer ehrenrührigen Beleidigung nicht satisfaktionsfähig waren, also wegen
ihres minderen Ranges nicht einmal als Duellgegner geachtet wurden.
Mit dieser Form, mit Kränkungen umzugehen,
vermeiden wir die Konfrontation mit der Täterperson und ziehen uns mit
verachtungsvoller Miene aus dem kommunikativen Kontakt zurück. Dann verkapseln
wir uns in der eigenen Unversehrtheit und erklärten die menschliche Umwelt zum
Feindesland, der nur mehr mit Vorsicht und Misstrauen begegnet werden kann. Der
eigene Selbstwert braucht für seine Stabilität die strikte Abgrenzung von
außen, er ruht nicht in sich selbst, sondern zeigt sich vor allem in der
Fähigkeit, das eigene Territorium schützen zu können und nicht in der
Fähigkeit, mit Klarheit und Kraft in der kommunikativen Auseinandersetzung mit
den anderen Menschen diesen Raum zu sichern. Hinter der Maske der überlegenen
Verachtung versteckt sich das vergrabene Beleidigtsein, und dahinter findet
sich wiederum ein mangelhaftes Selbstwertgefühl.
Kränkungsvermeider wappnen sich mit allen
Mitteln gegen Kränkungen, wie jemand, der sich aus Angst vor einer Erkältung
dick einpackt und noch alle möglichen Pillen schluckt, bevor er in die Kälte
raus geht. Kränkungsvermeidende Personen vertrauen nicht auf ihr natürliches
Immunsystem, sondern haben so viel Angst vor ihren vielen Ängste in sich, dass
sie dauernd auf der Hut sein müssen, nicht nur, um bedrohliche Situationen zu
vermeiden, sondern auch, um darauf zu achten, dass die Fassade gewahrt bleibt.
Als kleine Kinder haben sie gelernt, dass
sie für den Ausdruck ihrer Gefühle kein Verständnis kriegen, sondern
Belehrungen und Erklärungen. Wenn sie sich frustriert und verletzt fühlten, ist
niemand darauf eingegangen. So haben sie gelernt sich zu schützen und eine
glatte Fassade aufzubauen. Die erlittenen Belehrungen und Erklärungen haben sie
mit der Zeit gelernt, in Zynismen und Spott umzuwandeln und auf die Mitmenschen
anzuwenden.
Die Meisterschaft
Wie können wir die kränkungsvermeidende Person von einer unkränkbaren
unterscheiden?
Vielleicht gibt es von außen gar keinen
sichtbaren Unterschied. Denn die Erregung bei der vermeidenden Person bleibt im
Inneren, und sie hat gelernt, sie gut zu überdecken, so weit, dass sie sie unter
Umständen selber gar nicht mehr spüren kann. Aber der Ärger kommt im Verhalten
zum Ausdruck, etwa durch eine verächtliche oder spöttische Form der Abwendung.
Es zeigt sich eine andere Haltung, wenn
jemand tatsächlich von einer Beleidigung nicht betroffen ist. Die Person bleibt
ruhig und zugewandt, vielleicht verwundert oder überrascht, und wenn sie mit
Humor reagiert, so ist dieser nicht boshaft oder gespielt. Statt sich subtil zu
rächen, entsteht ein Mitgefühl und Verständnis für die angreifende Person,
jedoch ohne Anzeichen von Überheblichkeit oder Verachtung. Die Bereitschaft ist
da, sich zu entschuldigen, wenn es etwas zu entschuldigen gibt, aber auch klar
zu sagen, wenn es ein Missverständnis oder eine falsche Anschuldigung war.
Diese Meisterschaft im Umgehen mit
Kränkungen erscheint uns möglicherweise übermenschlich oder nur besonders hoch
entwickelten Wesen vorbehalten. Doch können wir aller ihrer mächtig sein, wenn
wir uns im Mitgefühl und in der Achtsamkeit üben. Paradoxerweise wird sie uns
dort am schwersten fallen, wo die meiste Liebe da ist. Da wir aber wissen, dass
Intimität mit Empfindlichkeit und Verletzbarkeit zusammenhängt, können wir auch
in diesem Bereich verständnisvoll mit uns selber und unseren Schwächen sein
sowie an unseren Stärken arbeiten. Mit jedem Schritt in diese Richtung fördern
wir unsere Liebesfähigkeit.
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