Montag, 10. Dezember 2018

Empfindlichkeiten in Beziehungen

Warum können uns nahestehende Menschen besonders leicht und besonders stark kränken? Warum reagieren wir bei den Menschen, die wir am meisten lieben, besonders empfindlich?

Je mehr Zeit wir mit anderen Menschen verbringen, desto mehr werden diese Beziehungen mit Projektionen aufgeladen, natürlich immer wechselseitig. Auf nahestehende Personen übertragen wir unsere unerfüllten Bedürfnisse, emotionalen Mängel und Frustrationen. Besonders stark sind diese Tendenzen bei Intimbeziehungen, denn dort wiederholen wir eine Intimität, die wir ganz früh in unserem Leben mit unserer Mutter und vielleicht auch mit unserem Vater hatten. Gerade aus diesen frühen Nahebeziehungen stammen unsere tiefsten Verletzungen und Missachtungen, die wir dann speziell mit Beziehungspartnern wie in einem Theaterstück wiederbeleben. 

Dazu kommt ein pragmatischer Gesichtspunkt: Die Menschen, mit denen wir am meisten Zeit verbringen, sollten besonders nett sein, denn wir wollen eine angenehme Zeit mit ihnen verbringen. Wenn sie uns kränken, befürchten wir, dass das immer wieder passieren könnte und damit unser Alltag zur Hölle wird. Deshalb reagieren wir schnell und heftig, um dieser Tendenz sofort Einhalt zu gebieten.

Außerdem sammeln unser Unbewusstes gerne mit den Menschen in unserer Umgebung ganze Archive von Kränkungsgeschichten mit allen Details aus all den Jahren. Unser Angstgedächtnis speichert akribisch, was uns irgendwann angetan wurde, und stellt es sofort mit all den dazu gehörigen Gefühlen zur Verfügung, sobald sich eine auch nur entfernt ähnliche Situation einstellt. Deshalb neigen wir dazu, bei kleinen Kleinigkeiten allzu leicht unsere mit alten Geschichten vollgefüllten Kränkungskisten zu öffnen, die ihren Inhalt mit unangemessener Heftigkeit in die gegenwärtige, möglicherweise ziemlich harmlose Situation hineinschwemmen.

Empfindlichkeiten als Zeichen von Selbstwertmangel


Je vielfältiger die möglichen Auslöser für Beleidigungen bei jemandem sind und je häufiger sie auftreten, desto schwächer ist das Selbstwertgefühl der betreffenden Person ausgeprägt. Menschen, die sehr an sich selbst zweifeln, neigen dazu, sich sofort in Frage gestellt zu fühlen, wenn sie irgendwo eine Ablehnung auch nur vermuten. Oft stellt sich heraus, dass es von anderen Personen gar nicht so gemeint war. Aber der Verdacht kommt leicht und schnell, dass andere einen selbst nicht mögen könnten und kritisch einschätzten. Menschen mit dieser Disposition haben ihre Sensoren auf Ablehnungsreize geschärft und scannen permanent die Umwelt nach möglichen Anzeichen für eine Zurückweisung ab. „Kleinigkeiten“ können dann schon die Kränkungsreaktion auslösen und eine Wunde im Emotionalkörper erzeugen oder reaktivieren. Allerdings meint die betroffene Person in so einem Fall überhaupt nicht, dass es eine Kleinigkeit ist, sondern ist überzeugt von der Gravität der Ungerechtigkeit oder Respektlosigkeit ebenso wie von der Angemessenheit der Intensität ihrer Reaktion darauf.

Es wirkt, als hätte die Außenhaut bei diesen Menschen viele Löcher, in die alle möglichen Widrigkeiten von außen sehr schnell tief nach innen eindringen. Oder, um ein anderes Bild zu versuchen, als wäre die Haut so dünn, dass sie leicht von Außenreizen durchbrochen werden kann wie von vergifteten Pfeilen. Jedenfalls kommt es zum Kippen von der Selbstmächtigkeit in die Ohnmacht, sobald die zerstörerische Kraft der Kränkung in das innere System eindringt, ähnlich wie ein Virus, der das Immunsystem überwunden hat und sich nun unbeschränkt vermehren und ausbreiten kann.

Und jede ablaufende Kränkungsgeschichte samt den mit ihnen verbundenen Gefühlsverläufen fügt dem Selbstwertkonto einen weiteren Minuspunkt hinzu. Wir sollten es doch endlich geschafft haben, uns nicht über jede Misslichkeit gleich so maßlos aufzuregen und jede kleine Unbedachtheit unserer Mitmenschen mit so viel Wut oder so viel beleidigtem Rückzug zu erwidern. Wir sind unzufrieden mit unseren Mitmenschen, die uns da kränken und wir sind unzufrieden mit uns selber, weil wir wieder darauf hereingefallen sind. Damit trennen wir uns noch mehr von uns selber ab und verlieren noch mehr an Selbstachtung.

Die Kränkungsabwehr


Es gibt auch die vermeidende Reaktionsvariante auf Kränkungen, die darin besteht, die eigene Verletztheit infolge einer ungerechten Kritik oder eine offensichtlichen Missachtung nicht zu zeigen und scheinbar nach außen die überlegene Rolle dessen zu spielen, dem nichts etwas anhaben kann. Sie geben sich den Anschein, über den Bosheiten ihrer Mitmenschen zu stehen.

Kränkungsunempfindliche Personen sind nicht automatisch selbstwertstärker. Auf einer subtilen Ebene rächen sich Menschen, die sich immer überlegen und unverletzbar zeigen (müssen), bei denen, die sie verletzen, mit Verachtung. Sie folgen dem Motto: „Wenn du dich so aufführst, hast du dich selbst als Mitmensch disqualifiziert. Ich nehme dich nicht einmal soweit ernst, dass ich mich von dir beleidigen lasse.“ Wenn jemand dieses Reaktionsmuster ausspielt, geht er in die Rolle eines Adelsangehörigen der vornehmen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, der sich nur mit Seinesgleichen duellierte, während alle, die weniger hochwohlgeboren waren, selbst im Fall einer ehrenrührigen Beleidigung nicht satisfaktionsfähig waren, also wegen ihres minderen Ranges nicht einmal als Duellgegner geachtet wurden.

Mit dieser Form, mit Kränkungen umzugehen, vermeiden wir die Konfrontation mit der Täterperson und ziehen uns mit verachtungsvoller Miene aus dem kommunikativen Kontakt zurück. Dann verkapseln wir uns in der eigenen Unversehrtheit und erklärten die menschliche Umwelt zum Feindesland, der nur mehr mit Vorsicht und Misstrauen begegnet werden kann. Der eigene Selbstwert braucht für seine Stabilität die strikte Abgrenzung von außen, er ruht nicht in sich selbst, sondern zeigt sich vor allem in der Fähigkeit, das eigene Territorium schützen zu können und nicht in der Fähigkeit, mit Klarheit und Kraft in der kommunikativen Auseinandersetzung mit den anderen Menschen diesen Raum zu sichern. Hinter der Maske der überlegenen Verachtung versteckt sich das vergrabene Beleidigtsein, und dahinter findet sich wiederum ein mangelhaftes Selbstwertgefühl.

Kränkungsvermeider wappnen sich mit allen Mitteln gegen Kränkungen, wie jemand, der sich aus Angst vor einer Erkältung dick einpackt und noch alle möglichen Pillen schluckt, bevor er in die Kälte raus geht. Kränkungsvermeidende Personen vertrauen nicht auf ihr natürliches Immunsystem, sondern haben so viel Angst vor ihren vielen Ängste in sich, dass sie dauernd auf der Hut sein müssen, nicht nur, um bedrohliche Situationen zu vermeiden, sondern auch, um darauf zu achten, dass die Fassade gewahrt bleibt.

Als kleine Kinder haben sie gelernt, dass sie für den Ausdruck ihrer Gefühle kein Verständnis kriegen, sondern Belehrungen und Erklärungen. Wenn sie sich frustriert und verletzt fühlten, ist niemand darauf eingegangen. So haben sie gelernt sich zu schützen und eine glatte Fassade aufzubauen. Die erlittenen Belehrungen und Erklärungen haben sie mit der Zeit gelernt, in Zynismen und Spott umzuwandeln und auf die Mitmenschen anzuwenden.

Die Meisterschaft


Wie können wir die  kränkungsvermeidende Person von einer unkränkbaren unterscheiden?
Vielleicht gibt es von außen gar keinen sichtbaren Unterschied. Denn die Erregung bei der vermeidenden Person bleibt im Inneren, und sie hat gelernt, sie gut zu überdecken, so weit, dass sie sie unter Umständen selber gar nicht mehr spüren kann. Aber der Ärger kommt im Verhalten zum Ausdruck, etwa durch eine verächtliche oder spöttische Form der Abwendung.

Es zeigt sich eine andere Haltung, wenn jemand tatsächlich von einer Beleidigung nicht betroffen ist. Die Person bleibt ruhig und zugewandt, vielleicht verwundert oder überrascht, und wenn sie mit Humor reagiert, so ist dieser nicht boshaft oder gespielt. Statt sich subtil zu rächen, entsteht ein Mitgefühl und Verständnis für die angreifende Person, jedoch ohne Anzeichen von Überheblichkeit oder Verachtung. Die Bereitschaft ist da, sich zu entschuldigen, wenn es etwas zu entschuldigen gibt, aber auch klar zu sagen, wenn es ein Missverständnis oder eine falsche Anschuldigung war.

Diese Meisterschaft im Umgehen mit Kränkungen erscheint uns möglicherweise übermenschlich oder nur besonders hoch entwickelten Wesen vorbehalten. Doch können wir aller ihrer mächtig sein, wenn wir uns im Mitgefühl und in der Achtsamkeit üben. Paradoxerweise wird sie uns dort am schwersten fallen, wo die meiste Liebe da ist. Da wir aber wissen, dass Intimität mit Empfindlichkeit und Verletzbarkeit zusammenhängt, können wir auch in diesem Bereich verständnisvoll mit uns selber und unseren Schwächen sein sowie an unseren Stärken arbeiten. Mit jedem Schritt in diese Richtung fördern wir unsere Liebesfähigkeit.

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