Donnerstag, 29. November 2018

Fremdschämen - ein eigentümliches Gefühl

Wenn Kinder sich daneben benehmen, können sich Eltern für sie schämen, vielleicht weil sie meinen, dass sie schlechte Eltern sind und die Mitmenschen mit verstecktem Zeigefinger auf sie zeigen. Wenn Kinder sich für ihre Eltern schämen (meist erst in der Pubertät), dann meinen sie vielleicht, dass ihre Eltern verzopft und altmodisch sind und bei ihren Freunden als uncool ankommen. Beim Fremdschämen sind wir mit den betreffenden Personen über-identifiziert oder von ihnen mangelhaft abgegrenzt.

Das Phänomen des Fremdschämens hat deshalb eine ganz besondere Stellung, weil es das einzige Gefühl ist, das wir für jemand anderen, also stellvertretend empfinden. Wir sind nicht für jemand anderen traurig, wütend oder eifersüchtig; das geht nur bei der Scham, auch ein Grund, warum sie ein derartig komplexes Gefühl ist. Dazu kommt, dass wir das Gefühl für vollkommen fremde Personen empfinden können, z.B. für jemandem im Fernsehen, dem ein blödes Missgeschick passiert oder der bei einer gestellten Aufgabe versagt oder während der Sendung völlig den Faden verliert. Forscher haben außerdem herausgefunden, dass das Gefühl des Fremdschämens genauso stark sein kann, wenn der peinliche Fehler absichtlich oder unabsichtlich passiert und unabhängig davon, ob die Person überhaupt bemerkt, was geschieht.

Laut Gehirnstudien werden bei dieser Art der Scham die gleichen Areale aktiviert, die bei körperlichem Schmerz und beim Beobachten von schmerzhaften Situationen von Mitmenschen (Spiegelneurone) reagieren. Es tut also buchstäblich weh, jemand anderen in einer peinlichen Situation zu beobachten. Es geht, genauer gesagt, um den vorderen zingulären Kortex und die anteriore Insula. Das sind die Gehirnareale, die aktiv sind, wenn man Mitleid mit Menschen hat, die eine körperliche Verletzung erlitten haben, und dabei den Schmerz des anderen in sich selber spürt.

Die Forschungen haben auch gezeigt, dass es individuelle Unterschiede beim Ausmaß des Fremdschämens gibt. Es reagieren nicht alle Menschen gleich stark und gleich oft. Offenbar gibt es einen Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Empathie, die unter den Menschen verschieden ausgeprägt ist. Das könnte der Grund sein, warum diese Form der Scham bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männer, denn Frauen sind durchschnittlich besser in der empathischen Kommunikation als Männer. Autisten dagegen, die sich mit Empathie schwer tun, haben auch schwächere Tendenzen zum Schämen für andere. 

Empathie sollte in diesem Zusammenhang allerdings klar von der Identifikation unterschieden werden, die eine wichtige Rolle beim Fremdschämen spielt. Empathie ist die Fähigkeit, die Gefühle anderer Menschen „lesen“ zu können und dafür Verständnis aufzubringen. Identifikation, ein Abwehrmechanismus in der Theorie der Psychoanalyse, geschieht dagegen, wenn die Gefühle eines anderen Menschen zu den eigenen werden und nicht mehr davon unterschieden werden können. Diese Unterscheidung wird weiter unten noch genauer besprochen.

Ähnlich wie die Scham von kulturellen Trends und Standards abhängig ist, gilt das auch für das Fremdschämen. Kleidungsstile, die vor einigen Jahrzehnten peinlich und unmöglich empfunden wurden, können heutzutage Teil der Mode sein, an der sich niemand stößt. Es scheint so, als würde die Schamabhängigkeit der Kunden vom Modemarketing ausgenutzt, um sie davon zu überzeugen, die Garderobe regelmäßig zu erneuern, nach dem Motto: „Sie wollen doch nicht das Objekt des Fremdschämens Ihrer Mitmenschen werden, also ziehen Sie an, was gerade die Mode diktiert!“


Fremdschämen fürs Kollektiv


Die Kultur, in der wir leben, prägt nicht nur die Schamthemen, sondern bietet auch reichlich den Anlass für den Aufbau von Identifikationen bei ihren Mitgliedern. Wenn andere Mitglieder aus dem kulturellen Konsens ausscheren, meldet sich schnell das Fremdschämen. Im Jahr 2014 gewann die österreichische Sängerin Conchita Wurst den Europäischen Songcontest, und vielen ihrer Landsleute war es äußerst peinlich, bis hinauf zum damaligen Vizekanzler, auf eine transsexuelle Kunstfigur und einen besonderen Menschen wegen einer ausgezeichneten künstlerischen Leistung stolz sein zu sollen.

Ein anderes Fremdschäm-Thema liefert in vielen Ländern der Sport, insbesondere der Fußball: Die Nationalmannschaft des eigenen Landes hat eine blamable Vorstellung abgegeben und das wichtige Spiel kläglich verloren – wie konnte „uns“ das nur passieren? Wie stehen „wir“ jetzt da vor allen anderen, die uns ab jetzt nur mehr abschätzig bemitleiden? Die Identifikation mit der Nation über das Vehikel Sport spielt eine zentrale Rolle im Seelenleben vieler Menschen.

Auch andere, vom Mainstream abweichende Kulturproduktionen können Fremdschäm-Reaktionen hervorrufen – abstrakte Denkmäler, atonale Musikstücke, unkonventionelle Inszenierungen, provokante Filme usw. bieten Anlass für peinliches Berührtsein bei Menschen, die nur Äußerlichkeiten oder Nebensächlichkeiten wahrnehmen und den Kontext und die künstlerische Aussage nicht verstehen. Um solche Schamreaktionen zu vermeiden, tendieren autoritäre Staaten dazu, solche Werke einfach zu verbieten und aus der Öffentlichkeit zu verbannen, vgl. die  Bücherverbrennungen und die Brandmarkung von „entarteter Kunst“ im Nationalsozialismus.


Die psychologischen Hintergründe 


Wir vollziehen die Schamreaktion an der Stelle der anderen Person, wir nehmen ihr gewissermaßen ab, was sein soll, damit die soziale Ordnung nach der Störung wieder ins Gleichgewicht kommt. Es ist etwas Blamables geschehen, das muss mit Scham zur Kenntnis genommen und entschuldigt werden und dann kann das Leben nach den gewohnten Regeln weitergehen. Wir wollen für die andere Person ausbessern, was durch deren Fehlverhalten, Unachtsamkeit oder Missgeschick aus dem Lot geraten ist. 

Solche stellvertretende Manöver, die ja vom Unbewussten unseres Seelenlebens gesteuert sind, wirken ein wenig schräg und tragen zu dem zwiespältigen Bild bei, das wir vom Fremdschämen haben. Einesteils trägt es den Anschein des Altruismus, einfühlend mit einer Person in einer Notlage zu sympathisieren und ihr ein Stück der Last abnehmen zu wollen. Allerdings passiert das Ganze nur in der Vorstellungs- und Gefühlswelt der nichtbeteiligten Person. Die vom Fremdschämen betroffene Person hat nichts davon, im Gegenteil, es kann ihre Notlage sogar noch verstärken. Jemand stolpert vor laufenden Kameras auf die Bühne; sofort meldet sich die eigene Scham, aber das Wissen, dass alle sehen, was geschehen ist, und dass sich alle für einen schämen, erschwert die Situation zusätzlich. Die Peinlichkeit erleichtern würde es, wenn alle Zuseher einfach über das Missgeschick hinwegsähen und nicht davon Kenntnis nähmen, geschweige denn selber beschämt wären. Jeder Akt des Fremdschämens belastet die eigene Scham zusätzlich.

Und das ist die andere Seite: Je stärker das Fremdschämen wirkt, desto wirksamer sind wir mit der Person, für die wir uns schämen, identifiziert. Wir schaffen es nicht, ihr zuzutrauen, aus dem Schlamassel herauszufinden und die Situation aus eigenen Kräften zu meistern. Wir nehmen ihr einen Teil der Verantwortung ab, ohne Rücksicht darauf, ob sie den nicht ohnehin selber tragen könnte. Dazu kommt: Wir nutzen unsere sichere Position des Außenstehenden, um uns ein Stück besser zu fühlen als die in ihrer Peinlichkeit bloßgestellte Person. Denn unsere Fremdscham tut uns zwar weh, aber wir spüren diesen Schamschmerz im Rahmen einer moralischen Rechtschaffenheit, dem Objekt unseres Schämens scheinbar das Leben zu erleichtern und nach dem Fehltritt die Rückkehr in die Gesellschaft der Normalos zu beschleunigen.

Die Identifikation liefert uns die Brücke: Wären wir selber in der Situation, würden wir uns schämen. Wir versetzen uns in die Person und in deren peinliche Situation, leiden mit, aber genießen zugleich die Gewissheit, tatsächlich auf der sicheren, unbetroffenen Seite zu sein, ähnlich wie wir uns mit dem Opfer eines Verbrechens in einem Krimi identifizieren, aber immer auch wissen, dass uns nichts geschehen kann, weil wir sicher im Lehnstuhl vor dem Fernseher sitzen.

Darin liegt offenbar der Gewinn beim Fremdschämen: Wir fühlen uns als Mensch, der Gutes geleistet hat und sozial eingestellt ist, als jemand, der sich um andere kümmert und stets bereit ist, ihnen eine Last abzunehmen. Dafür verdienen wir Anerkennung und Wertschätzung. Wir nehmen das Schicksal anderer Menschen ernst und bleiben deshalb im sozialen Netz verbunden. Ob die Form des Ernstnehmens und Gutes Tuns beim Fremdschämen tatsächlich hilfreich ist, ist allerdings zweifelhaft.

Die Spiegelneuronen sind der Schlüssel zur Fremdscham. Studien konnten zeigen, dass das bloße Beobachten von jemandem, der gerade in einer peinlichen Situation feststeckt, in unserem Hirn die gleichen Areale anspringen lässt, als wenn wir selbst in der Situation wären. Dafür ist es aber nötig, dass der andere sich auch selbst darüber bewusst ist, dass er sich gerade die Blöße gibt.

Ist dem nicht der Fall, können wir uns natürlich trotzdem fremdschämen. Nur spiegeln wir jetzt eben nicht die Scham des anderen, sondern schämen uns an seiner statt – dafür vielleicht manchmal auch doppelt so stark.


Die Schadenfreude


Die Schadenfreude ist gewissermaßen das Gegenteil des Fremdschämens. Statt den anderen Menschen, der sich gerade eine Blöße gegeben hat (manchmal sogar im wörtlichen Sinn), zu verstehen und ihm helfen zu wollen, vergönnen wir ihm das Problem. Schadenfreude ist eine Form der Rache und setzt voraus, dass uns die andere Person bereits Böses angetan hat. Wir mögen z.B. bestimmte politische Parteien nicht, weil wir den Eindruck haben, dass sie mit ihrer Politik uns und uns nahestehenden Menschen Lebenschancen beschneiden und Möglichkeiten einschränken. Wenn solchen Parteien oder deren Protagonisten Missgeschicke (schlechte Wahlergebnisse, imageschädigende Korruptionsfälle, Gerichtsverurteilungen usw.) widerfahren, freuen wir uns, weil wir hoffen, dass damit die Bedrohung für uns und unsere Ziele und Ideale verringert wird. 

Bei der Schadenfreude geben wir uns nicht den Anschein der altruistischen Menschenliebe wie beim Fremdschämen, sondern überlassen unserem Egoismus das Feld. Wir fühlen uns als Sieger in einem Kampf, zumindest auf Zeit, und können unsere Racheimpulse befriedigen. 


Empathie oder Identifikation?


Das Fremdschämen ist ein ambivalentes Gefühl. Es hängt auch mit der eigenen Beschämungsgeschichte zusammen, denn in ihr liegt der Schlüssel, ob wir dazu neigen, Empathie und Identifikation zu vermischen oder klar unterscheiden zu können. Identifikation ist in der Psychoanalyse der reifste der Abwehrmechanismen, der bis zu einem gewissen Grad notwendig für eine gesunde seelische Entwicklung ist (kleine Kinder identifizieren sich mit ihren Eltern, um deren Fähigkeiten, Einstellungen und Werte zu übernehmen und darauf die eigene Identität aufzubauen). Aber unbewusst wirkende Identifikationsvorgänge hindern die eigene Entwicklung, vor allem, wenn sie auf Scham gegründet sind.

Um also erkennen zu können, dass wir uns in einer Identifikation und nicht in der Empathie befinden, müssen wir in der Kindheit gelernt haben, klar zwischen eigenen und fremden Gefühlen zu unterscheiden. Wenn die eigenen Eltern keine oder zu wenig Verantwortung für die eigenen Gefühle übernommen haben, also den Kindern ihre Gefühlsreaktionen unbefragt und unreflektiert überstülpen, dann lernen die Kinder, sich vorrangig mit den Gefühlen der Eltern zu identifizieren statt selber zu spüren, was in ihnen vorgeht. Es kommt dann leicht zur Vermengung von eigenen Gefühlen und den Gefühlen der anderen, die oft auch nur vermutet werden. Auf dieser Basis steigt die Empfänglichkeit für das Fremdschämen.

Eine zweite Grundlage für eine verstärkte Ausprägung der Neigung zum Fremdschämen liegt in der eigenen Kindheitsgeschichte mit ihrem Ausmaß an Beschämungen. Eltern oder später andere Autoritäten, die besonders erpicht auf Ungeschicklichkeiten, Fehler und Peinlichkeiten der Kinder sind, sorgen dafür, dass die Kinder ein spezielles Sensorium für beschämende und peinliche Situationen entwickeln. In der Folge bildet sich eine starke Neigung zum Selbst- wie zum Fremdschämen. Hier kann auch der Grund dafür liegen, warum Millionen Menschen Youtube-Videos anschauen, in denen alle möglichen Peinlichkeiten dargestellt werden, von Prominenten wie von Normalsterblichen.  


Vertrauen statt Fremdscham


Welche Möglichkeiten haben wir, um unsere Tendenzen zum Fremdschämen zu verringern?
  • Bei sich selber bleiben und die Identifikation unterbrechen: Dieser ganz einfache Satz kann oft Wunder wirken: „Ich hier, du dort.“ „Ich bin in meiner Situation, du in einer anderen. Ich bin im Zuschauerraum, du auf der Bühne.“ 
  • Mitgefühl für den Menschen entwickeln, der gerade in einer peinlichen Situation steckt: „Es tut mir leid für dich, dass du in diese Situation geraten bist, ich kann nachvollziehen, wie es dir geht.“ 
  • Entscheiden über den Handlungsspielraum: „Kann ich in irgendeiner Weise hilfreich eingreifen oder nicht? Wenn ja, was ist zu tun?“ Wenn nein, geht es darum, sich herauszuhalten und auf Distanz zu gehen. Es genügt, beim Mitgefühl zu bleiben, das sich mit dem Vertrauen verbinden kann, dass es immer einen guten Ausweg aus einer misslichen Situation gibt.
  • Die Verantwortung bei der Person lassen: Wo es nichts zu tun gibt, besteht auch keine Verantwortung. Die Person muss und wird die blamable Situation bewältigen und überwinden.
  • Auf positive Eigenschaften fokussieren: Meist ist die peinliche Angelegenheit nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was alles an der Person, die in die Situation kam, anerkennens- und bewundernswert ist, was sie gut kann und was sie als Mensch wert ist.

Zum Weiterlesen:
Empathie

P.S. in eigener Sache: Diese Blogseite hat dieser Tage den 200 000sten Aufruf zu verzeichnen.

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