Montag, 26. November 2018

Die Rückkehr aus der Scham

Die Scham ist nicht nur das schwierigste, sondern auch das unangenehmste Gefühl. Wir wollen ihm so schnell wie möglich entrinnen, manchmal wünschen wir uns, in der Erde zu versinken – Mutter Erde soll uns gnädig in ihr Reich aufnehmen, in dem alle Fehler, die wir jemals begangen haben, keine Rolle mehr spielen. In ihrem Schoß kann es nichts Peinliches mehr geben, weil sie alles schon kennt, was Menschen falsch machen können.

Soweit unsere Errettungsfantasie in den Momenten der Pein, in denen es scheinbar kein Entkommen vor der Missbilligung unserer Mitmenschen und dem Verlust unserer Selbstachtung gibt. Wir stehen auf der Rednerbühne und merken plötzlich, dass der Hosenzipp offen ist, wir erzählen in der Runde etwas, was alle schon längst wissen, wir haben einen wichtigen Termin vergessen oder die Blumen liegengelassen, die wir schenken wollten, wir bringen bei einem Witz die Pointe nicht rüber, wir stellen eine Bekannte mit einem falschen Namen vor… Anlässe zum Schämen gibt es Sonderzahl. 

Wir können zwar den bekannten, fälschlicherweise Wilhelm Busch zugeschriebenen Rat beherzigen: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich gänzlich ungeniert“, doch müssten wir dazu erst einmal unseren Ruf riskieren. Denn dieser definiert unsere Stellung in der Gemeinschaft, und daran hängen unsere Chancen, angenommen zu sein und sicher dazu zu gehören. Wir wollen, dass uns die anderen vertrauen können, so wie wir ihnen vertrauen wollen. Mit einem ruinierten Ruf riskieren wir das Misstrauen unserer Mitmenschen und damit unsere Sicherheit in der Gesellschaft und Öffentlichkeit.

Andererseits stehen wir in Zusammenhängen des Schämens und des Beschämtwerdens, sobald wir uns auf den Marktplatz der Gesellschaft begeben. Die Gesellschaften, die wir als Menschen bilden, sind so komplex und von unterschiedlichsten Werten und Normen durchzogen, dass wir uns nicht aus dem Haus bewegen sollten, wollten wir der Scham entgehen. Allzu leicht können wir die Grenzen bei anderen verletzen, was uns zur Scham führt, sobald wir das merken. Deshalb haben wir immer wieder versucht, uns all die Regeln und Normen einzuprägen, damit unser Navigieren durch die menschliche Gesellschaft ohne Peinlichkeiten und Scham ablaufen kann. Doch all das Lernen und Verbessern in unseren sozialen Kompetenzen hat uns nicht davor gefeit, doch immer wieder mal in ein Fettnäpfchen zu tappen. 

Der Narr


Die archetypische Gestalt des Narren bezeichnet einen Menschen, der sich nicht schämt, weil er nichts weiß oder vorgibt, nichts zu wissen über das, was sich gehört und was sich nicht gehört. Narren und Kinder sprechen die Wahrheit, so heißt es, und damit ist gemeint, dass wir unangenehme Dinge nur ansprechen können, wenn wir bestimmte soziale Konventionen überwinden. Und das können wir, wenn wir uns in einen Bereich jenseits der Scham begeben. Dem Narren wurde zugebilligt, sogar die Majestät zu beleidigen, weil er eben ohne Rücksicht auf die Normen und Gesetze sagt, was er sich denkt und was er sieht. 

In diesem Sinn wurde auch zu bestimmten Zeiten die Narrenfreiheit ausgerufen, um für die Leute einen zeitlich begrenzten Erfahrungsraum zu öffnen, in dem niemand etwas falsch machen konnte und alles erlaubt war. Jeder sollte sich einmal als Narr aufführen können, um sich dann wieder leichter in die Zwängen der Gesellschaft einfügen.

Der Narr ist frei von Abhängigkeiten, auch von der Abhängigkeit von einem bestimmten Selbstbild. Er ist ein Meister der Widersprüche und des Paradoxen. Er kann einmal so sein und dann wieder ganz anders. Er lässt sich nicht auf ein bestimmtes Image festnageln, sondern wirkt durch seine Unberechenbarkeit. Da er nichts hat, hat er nichts zu verlieren, also gibt es nichts, wofür er sich schämen könnte oder müsste.

Mehr Narrenfreiheit


Wir müssen nicht alle zu Narren werden, das könnte anstrengend werden, wenn wir nicht über das entsprechende Naturell verfügen, aber wir können uns selbst mehr Narrenfreiheit schenken. Was könnten wir uns vom archetypischen Narren abschauen?

Der Narr kümmert sich nicht um Gewohnheiten, Regeln und Vorschriften. Die einzige Regel, der er folgt, verpflichtet ihn zum Aussprechen der ungeschminkten Wahrheit. Kompromisslos steht er dazu, ohne Rücksicht auf das eigene Risiko. Er hält anderen den Spiegel vor, weil er selber leer ist von Eitelkeit und Rechthaberei. Er ist die Symbolfigur für die Verweigerung jeder Anpassung. 

Wir haben von früh an gelernt, die Erwartungen der anderen wichtiger zu nehmen als was wir selber spüren, brauchen und wollen. Der Preis für unsere Anpassungsleistung war die Imprägnierung mit Scham. Indem wir unsere eigene Narretei und die mit ihr verbundene Kreativität, Sinnlichkeit und Lustigkeit einladen und zulassen, finden wir zurück zu dieser Unbefangenheit und Lockerheit, die das Eigene behaupten kann, ohne sich dafür zu schämen. Sie hat auch keinen Impuls, das Andere abzuwerten, abzuwehren oder zu beschämen.

Mit Archetyp ist gemeint, dass wir alle einen närrischen Persönlichkeitsanteil in uns tragen. Er ist bei manchen Menschen stärker ausgeprägt als bei anderen. Wo auch immer wir uns selber auf dieser Skala befinden, können wir die Energie des Narren nutzen, wenn wir uns unserer ursprünglichen Unbefangenheit und Unschuld besinnen. Wir kommen aus dem Reich der Freiheit von Scham und Schuld, und es steht uns zu, immer wieder dort zurückzukehren und in spielerischer Freude herumzutoben. So wandelt sich die Schwere der Scham in die Leichtigkeit des Narren, der sich, auf gut Wienerisch, einfach „nix scheißt“.  

Die Rückkehr aus der Scham


Was hilft uns noch, uns aus den Fängen eines quälenden und hartnäckigen Schamgefühls zu befreien? Der Narr repräsentiert das Gegenbild zum schamerfüllten angepassten und unterdrückten Mitglied der Gesellschaft. Meistens bewegen wir uns zwischen diesen Extremen, mal melden sich kleine, mal größere Schamgefühle. Wie können wir uns von den alltäglich auftauchenden und den längerfristig bedrückenden Schamerfahrungen entlasten?

Der erste Schritt besteht darin, das Gefühl im Moment zu spüren und anzunehmen, auch wenn es lästig und unangenehm ist. Vor allem Schamgefühle lösen sich nicht, wenn wir sie beiseite schieben und verdrängen. Im Akzeptieren des Gefühls erkennen wir es als das, was es ist, nämlich nur ein Gefühl, das nichts mit unserem Persönlichkeitskern und unserer Identität zu tun hat.
  • Im nächsten Schritt können wir uns klarmachen, dass wir Menschen sind, und das heißt, dass wir Fehler machen können und immer wieder Fehler machen werden. Wir sind wie alle anderen, auch wie die, vor denen wir uns schämen. Wir begehen auch den Fehler, perfekt sein zu wollen, der zusätzlich dazu beiträgt, dass wir uns öfter schämen, als es notwendig ist.
  • Weiters sollten wir unser Verhalten von unserer Person unterscheiden. Wir sind keine unhöflichen oder unachtsamen Menschen, wenn wir einmal unhöflich oder unachtsam reagiert haben. Wir sind immer in der Lage, für unser Verhalten die Verantwortung zu übernehmen und dort, wo es notwendig, ist, den Schaden wieder reparieren.
  • Hilfreich ist es auch, wenn wir unser Selbstmitgefühl vertiefen, allerdings sollten wir darauf achten, nicht in ein Selbstmitleid, das uns in einer Opferrolle festhalten will, zu verfallen. Mitgefühl heißt, dass wir uns nicht als unbarmherzigen Richter über uns selbst aufbauen, sondern uns selbst gegenüber das Verständnis aufbringen, dass wir unsere Schwächen und Mängel haben und dass wir als Menschen nie fertig sind. Wir werden immer wieder da und dort straucheln und unsere Sicherheit verlieren, und dann wieder festen Boden unter den Füßen gewinnen. So ist unser Leben und das der anderen auch.
  • Die Scham will uns einreden, dass wir die einzigen sind, die fehlerhaft sind und die immer wieder was falsch machen. Doch stimmt das überhaupt nicht, im Gegenteil: Wir sind in bester Gesellschaft – mit all den anderen menschlichen Wesen. Wenn wir glauben, jemand anderen wegen seiner Vollkommenheit bewundern und beneiden zu müssen, haben wir nur nicht genau genug hingeschaut und deshalb die Unvollkommenheiten dieser Person übersehen.
  • Wir reden mit anderen aus vielerlei Gründen. Einer ist immer mit dabei: Wir vergewissern uns, dass uns die andere Person wohlgesonnen ist. Denn dann können wir entspannen, weil wir uns nicht schämen müssen. Wir können so sein, wie wir sind, und wenn Fehler passieren, passieren eben Fehler und nicht mehr.
  • Wenn es uns gelingt, mit vertrauten Menschen über Erlebnisse zu sprechen, die uns beschämt haben, ist das ein weiterer Schritt zur Auflösung eines Schamgefühls. Wir erhalten die Bestätigung von der anderen Person, dass wir in Ordnung sind, auch wenn – oder sogar: gerade weil – wir etwas Beschämendes erlebt haben. Wir brauchen keine Angst mehr zu haben, dass wir nicht dazugehören. Vielmehr gehören wir ganz besonders dazu, wie alle, die sich ihre Scham eingestehen und sich damit von ihrer Last befreien können.

Das Reich der Würde


Sobald wir den Bann der Scham verlassen, treten wir voll in den integren Raum unserer Würde ein. Wir nehmen unsere aufrechte und gerade Haltung ein und begegnen auf diese Weise der Welt. Es gibt nichts, was wir zu verbergen hätten und es gibt nichts, was uns einschüchtert. Es gibt nichts, was in diesem Raum der Würde keinen Platz hätte. Wir zeigen uns in unserer Kraft und in unserer Verletzlichkeit, in unserer Anfälligkeit für die Scham. Je mehr wir mit ihr Freundschaft schließen, desto weniger wird sie sich hinterrücks einschleichen und unseren Lebensfluss blockieren. Und wenn es doch passiert, treffen wir auf ein befreundetes Gefühl und können es nutzen, mehr Bewusstheit in unser Inneres zu bringen. 

Zum Weiterlesen:
Scham - unser schwierigstes Gefühl
Unterschiedliche Reaktionsweisen auf die Scham
Das Vergleichen und der Selbstwert

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