Donnerstag, 22. November 2018

Scham – unser schwierigstes Gefühl

In einem Text über die Scham ist die Rede von einer der dominantesten Emotionen, die es überhaupt gibt – und die das Verhalten aller Menschen von Kindesbeinen an prägt. Ein anderer Autor bezeichnet die Scham als einen alles überflutenden Affekt mit einer Gewalt, die alles mitreißen kann. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass das Schamgefühl die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft reguliert. Auf einer tiefen Ebene empfinden wir diese soziale Zugehörigkeit als existenziell. Denn die Menschengattung konnte nur durch die Gruppenbildung und den sozialen Zusammenhalt überleben. Einzelne, die aus diesen Verbänden ausgeschlossen wurden, waren dem Tod geweiht. Diese Bedeutung der sozialen Mitgliedschaft tragen wir alle noch in uns und sie wirkt in die Macht des Schamgefühls hinein.

Scham ist also ein Gefühl, das nur in Verbindung mit anderen Menschen auftaucht. Angst können wir auch bei einem Gewitter bekommen, oder Ekel vor bestimmten grauslichen Tieren. Ärgern können wir uns über Gegenstände, z.B. ein Auto, das nicht starten will. Aber die Scham entsteht erst, wenn andere Menschen involviert sind. Wir schämen uns immer vor anderen, die uns für etwas abwerten oder verurteilen – oder bloß, von denen wir uns vorstellen, dass sie uns abwerten oder verurteilen. Die Scham ist also stark von unseren eigenen Bewertungen abhängig: wie wir andere und ihre Reaktionen einschätzen.
    
Aus der subjektiven Perspektive ist die Scham aus mehreren Gründen ein schwieriges Gefühl. Es ist nicht so eindeutig spürbar und verfügt über keinen so deutlichen Ausdruck wie etwa Wut oder Schmerz. Es hat auch keinen klaren Verlauf wie diese Gefühle, die kommen, stärker werden und dann wieder vergehen. Die Scham kann durch eine auslösende Situation bewirkt werden und dann über längere Zeit andauern, ohne sich irgendwann völlig zu entspannen. Die Situation taucht immer wieder aus dem Gedächtnis auf und ruft sofort das Gefühl wieder wach. Die Schamreaktion kann sich leicht chronifizieren und irgendwann in depressive Stimmungen einmünden. Es gibt kleine Schamgefühle und größere, manche sind uns so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Manche sind ritualisiert, wie das Senken des Blicks bei einer Begrüßung, manche überspielen wir durch Verlegenheitshandlungen.

Die physiologischen Begleiterscheinungen sind vielfältig: Herzrasen, Schamröte, Zittern, Schweiß, Räuspern, Blick senken, verlegenes Lachen, Demutshaltung (gesenkter Kopf, hochgezogene Schultern). Ebenso unterschiedliche Reaktionen gibt es auf der Verhaltensebene: Menschen, die gerade von Scham erfasst sind, können nach einer Ausrede suchen, sich selbst verurteilen, sich minderwertig fühlen, zu grübeln beginnen, wütend auf sich sein oder den anderen angreifen oder sich übertrieben entschuldigen. 


Gesunde Scham


Wir können die gesunde Scham von der toxischen unterscheiden. Die erstere bezieht sich auf eine wichtige soziale Fähigkeit, die wir als Reaktion auf Fehler vor allem im sozialen Umgang brauchen. Ich habe die Grenzen einer anderen Person verletzt, deren Bedürfnisse nicht wahrgenommen, und dieser Mensch reagiert beleidigt oder eingeschnappt. Die Schamreaktion signalisiert mir und auch der anderen Person: Ich habe erkannt, dass ich etwas falsch gemacht habe. Das Gefühl motiviert mich auch dazu, den Fehler auszubessern und wieder gut zu machen. Das Gefühl der Scham macht also auf das Übertreten von Regeln im sozialen Zusammenleben aufmerksam und soll dazu beitragen, dass aus der Situation für ähnliche Situationen in der Zukunft ein besseres Verhalten gelernt wird. 

Wer keine Scham empfindet, gilt als schamlos. Es fehlt ihm ein wichtiges soziales Regulativ, und das schafft vielfältige Probleme. Ein schamloser Mensch gilt als egoistisch und muss damit rechnen, ausgegrenzt zu werden. “Schamlose” Menschen sind Menschen, die besonders viel beschämt wurden und die irgendwann einmal beschlossen haben, sich nie wieder beschämen zu lassen. Wir wissen z.B. aus der Biografie von Adolf Hitler, dass er als Kind immer wieder erniedrigt wurde, vor allem von seinem zu Gewaltausbrüchen, aber auch zum Lächerlichmachen der Kinder neigenden Vater. 
Als unverschämt bezeichnen wir dagegen eher jemanden, der zwar über ein Schamgefühl verfügt, sich aber darüber in einer bestimmten Situation hinwegsetzt.


Toxische Scham


Die giftige und vergiftende Scham hat ein anderes Kaliber, denn sie richtet sich vor allem gegen sich selbst. Nicht das eigene Verhalten war daneben, sondern die eigene Person ist als ganze schlecht. Sie kann deshalb nicht durch eine entschuldigende Handlung ausgeglichen werden. Diese Form nagt am Selbstwert und an der Selbstachtung. Sie führt bis zur Selbstverleugnung: „Ich kann nicht so sein, wie ich bin, ich müsste ganz anders sein, um in Ordnung zu sein.“

Toxische Scham entsteht, wenn Eltern (oder später Lehrer und andere Autoritätspersonen) ihre Kinder bei einem Fehlverhalten massiv kritisieren und persönlich abwerten. Auslachen ist dabei eine der schwerwiegendsten Formen der emotionalen Misshandlung. Solche Reaktionen können in dem Kind die Überzeugung einpflanzen, dass es als Mensch nicht ernst zu nehmend, schlecht und fehlerhaft, vielleicht sogar fehl am Platz ist, statt dass es lernen kann, aus Fehlern lernen zu können. Es schämt sich dann also nicht für eine einzelne Tat, sondern dafür, dass es selber nicht in Ordnung ist. 

Solche Über- und Eingriffe können viel an der wichtigen und authentischen Selbstbeziehung zerstören, die einen gesunden Selbstwert aufbaut. Außerdem wird verhindert, dass das Kind aus einer Fehlhandlung lernt, denn es denkt über sich selbst, dass es immer wieder Fehlhandlungen machen wird, weil es eben von Grund auf so fehlerhaft beschaffen ist.

Vielmehr nutzen Eltern und andere Personen, die Macht über andere haben, das Beschämen der ihnen Untergeordneten dafür aus, sie zu Handlungen zu bringen, die diese eigentlich selber nicht wollen. Beschämen ist ein wichtiger Aspekt dessen, was als “Schwarze Pädagogik” zurecht angeprangert wird. Wir können davon ausgehen, dass diese Strategie nicht nur in der Erziehung, sondern auch in der Schule, in beruflichen Lehrverhältnissen, beim Militär und in anderen Über- und Unterordnungsverhältnissen eine wichtige und zerstörerische Rolle innehat.


Trauma und Scham


Traumatische Ereignisse sind Situationen, die für einen Menschen so belastend sind, dass sie nicht bewältigt werden können. Das Überleben kann dann nur durch extreme Reaktionen des Nervensystems gewährleistet werden: Schock, Erstarrung, Dissoziation. Nachdem das Ereignis überstanden wurde, kann es bei von Menschen verursachten Traumatisierungen zu einer Schamreaktion kommen. Die betroffene Person sieht sich als Opfer einer Verletzung oder eines Übergriffs und nimmt an, dass die anderen Menschen sie deshalb nicht mehr achten können. Durch das, was geschehen ist, hat sich das Opfer selber die Hände schmutzig gemacht und alle anderen misstrauen ihr deshalb. 

Die nachträgliche Schamreaktion auf die Traumatisierung geschieht nicht zwangsläufig, sondern hängt davon ab, welche Erfahrungen die Person vor der Traumatisierung hatte und auf welche Ressourcen sie zurückgreifen kann. Wenn es in der Vorgeschichte vor allem in den frühen Phasen wenig Wertschätzung und emotionale Sicherheit gab, wenn vielfältige Erfahrungen mit der Scham gemacht wurden, ohne dass sie verarbeitet werden konnten, ist die Schamreaktion nach der Traumatisierung sehr wahrscheinlich.

Auch hier zeigt sich die Paradoxie der Scham: Sie will die Traumafolgen lindern, indem sie nach Unterstützung verlangt, und schließt sich zugleich von der Außenwelt ab, in der diese Unterstützung gefunden werden könnte. Scham enthält einen Appell und zugleich eine Vermeidung. Dazu kommt, dass sie am stärksten in wichtigen Beziehungen auftritt und andererseits diese Beziehungen zusätzlich behindert und einschränkt.


Erziehung ohne Beschämung


Eltern, die dem Kind mit Liebe, Verständnis und Geduld vermitteln, was es richtig und falsch macht, helfen ihm besser, aus Fehlern klüger zu werden und damit eine stabile Selbstbeziehung aufzubauen. Dann nistet sich die Scham nicht in die eigene Seele ein, um sofort aktiv zu werden, wenn etwas nicht richtig gelaufen ist und Kritik von außen kommt. Andererseits wird die Schamreaktion als solche nicht unterdrückt, wie es der Fall sein kann, wenn ein Kind die Scham als Gefühl gesamt verdrängen muss, weil es an den Wurzeln der eigenen Existenz rütteln würde.

Wenn wir Kinder kritisieren, sollten wir uns bewusst sein, dass es nur um Handlungen oder Verhaltensweisen geht und nicht um sie als Person. Indem wir Verständnis dafür zeigen, dass Fehler geschehen können und dass sie ausgebessert werden können, zeigen wir ihnen, dass wir ihnen vertrauen und sie genauso lieben wie immer. 

Und wenn wir einander als Erwachsene kritisieren, sollten wir uns das Gleiche bewusst machen. Auf diese Weise leisten wir einen wichtigen Beitrag zu einer konfliktfreieren Gesellschaft und einem liebevolleren Zusammenleben. 

Zum Weiterlesen:
Das Vergleichen und der Selbstwert
Die Rückkehr aus der Scham

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