Donnerstag, 8. Juli 2021

Die Retter im Drama-Dreieck

Die Opfer-Täter-Dynamik ist ein weitläufiges und vielgestaltiges Feld im Gewirr unserer Seelenlandschaft. Wir wenden uns hier einer dritten Position zu, die das sogenannte Drama-Dreieck vervollständigt: Die Position der Retter oder Helfer. Das Drama-Dreieck stammt aus der Transaktionsanalyse und wurde erstmals 1968 von Stephen Karpman beschrieben.

Opfer-Täter-Konflikte können dramatisch verlaufen und rufen deshalb in vielen Fällen Retter auf den Plan. Das sind Personen, die in den Konflikt eingreifen, mit der Intention, ihn zu schlichten. Sie wollen das Opfer aus der Gewalt des Täters befreien und diesen in die Schranken weisen. Von außen betrachtet, scheint diese Rolle besonders lohnend, angesehen und ehrenhaft. Doch hat sie auch ihre Tücken und Fallstricke.

Wie es in der Transaktionsanalyse beschrieben wird, gehen nämlich solche Eingriffe nicht immer gut aus, auch wenn sie gut gemeint waren. Der Streitschlichter kann zum Opfer der Streitparteien werden, wenn beide sich ungerecht behandelt fühlen, wie z.B. eine Paartherapeutin, die in den Augen des Paares inkompetent handelt und von beiden dafür kritisiert wird, was den paradoxen Effekt haben kann, dass der Paarkonflikt zurücktritt und das Paar plötzlich auf einer Linie ist, trotz der scheinbar unprofessionellen Hilfe. Ein anderes Beispiel liefert ein Polizist, der in einen Raufhandel eingreifen will und dann selbst von beiden Raufbolden verprügelt wird, was für diese dann zur Folge hat, dass sie Opfer eines harten Gerichtsurteils werden, außer ein pfiffiger Rechtsanwalt rettet sie, während dieser dann Opfer eines Shitstorms in einem sozialen Medium werden kann usw.

Die Positionen in dem Drama-Dreieck sind also sehr volatil, sie können fortwährend wechseln und von einem Pol zum nächsten springen. Das Dreieck wird häufig von drei Personen oder Personengruppen ausgeführt, es kann aber auch zwischen zwei Personen, z.B. bei einem Paarkonflikt aktiviert werden.

Ein Beispiel: Bei einem Paarkonflikt wird ein Partner zum Opfer der Aggression des anderen. Er beklagt sich als Opfer wegen der gewaltvollen Art. Daraufhin wird der Angreifer zum Helfer und versucht, den anderen zu trösten, worauf dieser zornig wird, weil er nicht wie ein kleines Kind behandelt werden will. Also wird jetzt er zum Täter und bringt den anderen in die Opferrolle. Usw.

Schließlich gibt es auch die häufig genutzte Möglichkeit, die drei Positionen im eigenen Inneren handeln zu lassen, indem drei verschiedene Persönlichkeitsanteile interagieren. Jemand war unfair oder gemein zu uns. Wir fühlen uns als Opfer, hegen aber zugleich Rachegedanken gegen den Täter und machen uns selbst, zumindest im Denken, zum Täter. Zugleich haben wir das Gefühl, dass wir uns durch dieses Manöver aus der demütigenden Opferrolle befreit haben und aus der schamvollen Erfahrung errettet sind.

Die Retterrolle und die Scham-Stolz-Dynamik

Die Retterin ist vom Antrieb beseelt, Gutes zu tun, wo sich Böses entsponnen hat. Sie findet das, was sie sieht, beschämend für die involvierten Personen und will sie aus dieser Lage befreien. Stellvertretend für die Streitparteien empfindet sie eine Scham über das, was abläuft, sie schämt sich also fremd. Damit ist eine Form der Überidentifikation verbunden, wahrscheinlich mit dem wirklichen oder mit dem scheinbaren Opfer. Genährt aus eigenen früheren Erfahrungen mit der Opferrolle, tritt die Retterin mit dem Anspruch an, dem Opfer zu ersparen, was sie selbst zu erleiden hatte und hofft insgeheim, sich selber nachträglich noch zu unterstützen. Wenn das Opfer aus seiner Bedrängnis befreit wird, befreit sich scheinbar ein Stück der eigenen Leidensgeschichte.

Der ergänzende Aspekt im Seelenraum der Retterin liegt in der Gegenidentifikation mit dem Täter. Er soll stellvertretend für Täter aus der eigenen Vergangenheit in die Schranken gewiesen, angeprangert und, wenn möglich, bestraft werden. Die Retterin möchte endlich selber in die Täterrolle kommen, um offene Rechnungen aus früheren Erfahrungen heimzahlen zu können. Doch diese rachelüsternden Motive sollten lieber nicht ins Bewusstsein kommen, weil sie stark schambesetzt sind.

Die Versuchung zur Anmaßung

Die Retterin will eingreifen, um Gutes zu tun und nachher stolz auf sich sein zu können. Gelingt die Konfliktbefriedung, d.h. kommen Opfer und Täter aus ihren Rollen heraus und können sich versöhnlich die Hand reichen, dann darf die Retterin stolz auf sich und ihren Einsatz sein. Überspannt sie aber ihre Rolle und hilft sie über das Maß der Notwendigkeit hinaus, so hält sie die Opfer in ihrer Position fest und lässt sie nicht selber herauswachsen. Oder sie geht in selbst wiederum ungerechter und überzogener Weise gegen den Täter vor und baut damit eine neue Frontlinie für einen Opfer-Täter-Konflikt auf.

An solchen Punkten überschreitet der Stolz die Schwelle zur Überheblichkeit. In die Anmaßung zu kippen stellt eine Versuchung dar, die im Helferstolz inhärent ist. Retter sehen sich gerne als Helden, aber häufig als solche, die keine Kritik ertragen und Bewunderung brauchen, und die andere dann für den Mangel an Anerkennung anklagen oder sie zum Loben zu manipulieren.

Wenn die Retterin merkt, dass sie das Opfer geschwächt statt gestärkt hat oder dass der Täter in eine beschämende Opferposition gerät, meldet sich die Scham. Der nächste Schritt kann darin liegen, die Scham durch Stolz zu kompensieren und dem Opfer gegenüber abwertend mitzuteilen, dass es selber schuld ist, wenn es die Hilfe nicht annimmt oder richtig umsetzt. Auf der gleichen Schiene liegt, wenn dem Täter die Tat in einer Weise angekreidet wird, als hätte man sie selbst erlitten. Hier treffen wir auf eine Spielart des Opferstolzes.

Die Scham, die sich dort meldet, wo das Retten mehr Schaden als Nutzen anrichtet, bringt – falls sie sie bemerkt – die Retterin dazu, ihr Verhalten auf ein gebotenes Maß zurück zu regulieren. Sie sollte ihre Hilfe soweit eingrenzen, dass sie das Opfer in der Selbstkompetenz stärkt, also Hilfe zur Selbsthilfe beiträgt. Bleibt sie allerdings bei einer Form der Hilfe, die entmündigt und die Verantwortung abnimmt, dann erhöht sie auch die Schambelastung beim Opfer, dem eigentlich geholfen werden sollte.

Vollends schwierig wird die Retterrolle, wenn gar nicht klar ist, wer bei einem Konflikt Opfer und wer Täter ist. Das ist üblicherweise die Situation bei Paarkonflikten, oft aber auch bei Konflikten in Organisationen und Gruppen. Die Retterin gerät in ein Geflecht von Projektionen, die sie erst einmal auseinander sortieren müsste, um sich überhaupt orientieren zu können und Lösungsperspektiven zu erarbeiten.

Es liegt eine maßlose Überschätzung der eigenen Kräfte in dem Glauben, in solchen Situationen irgendetwas oder irgendjemanden retten zu können. Die Retterposition ist also häufig mit der Gefahr verbunden, in eine anmaßende Einstellung zu geraten, mit der Meinung, besser für die anderen zu wissen, was für sie gut ist. Anmaßung führt zu ungesundem Stolz oder ist durch ein Bedürfnis nach diesem Stolz motiviert. Aus diesem Zusammenhang stammen die missionarische Ansprüchen, die häufig von Retterinnen vertreten werden: Wenn du machst, was ich dir sage oder empfehle, wirst du gerettet, sonst nicht.

Das Drama-Dreieck in Aktion

Wie wir gesehen haben, ist das Drama-Dreieck eine fließende Angelegenheit. Meist gibt es (bei Erwachsenenbeziehungen) keine fixen Rollen, sondern Sprünge zwischen den einzelnen Positionen, die sich in den Personen selbst noch einmal überlappen können. Aus Opfern werden Täter, aus Rettern Opfer usw. Manchmal gerät die Retterin in die Opfer- und zugleich in die Täterrolle, und braucht schließlich selber Hilfe.

Oft stammen die Rollen, die wir spontan einnehmen, wenn wir in einen Konflikt geraten, aus der Kindheit, also aus unserem Familiensystem. Manche Kinder übernehmen in einer dysfunktionalen Familie die Retterrolle und versuchen, allen aus der Mangelsituation herauszuhelfen, den Eltern und den Geschwistern. Sie kriegen dafür vielleicht eine besondere Anerkennung und nehmen diese Rolle deshalb mit ins weitere Leben. Da aber die Rolle, wie jede andere auch, schon in der Kindheit eine starke Überforderung bedeutet hat, wird auch die Tendenz, sich selbst für andere auszubeuten, mit übernommen – die Spur zum Helfersyndrom und zu Burn-Out-Störungen ist gelegt.

Die eingeprägte Retterrolle führt nämlich dazu, überall Opfer zu sehen, die der eigenen Hilfe bedürfen. Wie wir oben schon gesehen haben, steckt die eigene Opferrolle hinter diesen Projektionen: Das Opfer, das in der Übernahme der Retterposition auf sich genommen wurde. Letztlich geht es also der Retterin darum, aus der eigenen Opferrolle befreit zu werden und als die Person, die sie ist, Anerkennung und Wertschätzung zu bekommen. Retter wollen sich selbst retten.

Von der Retterposition zur Allparteilichkeit

Um die stolzbedingten Fallen zu vermeiden, die im Rettenwollen verborgen sind, ist es ganz wichtig, die eigenen Intentionen zu reflektieren und zurückzunehmen und damit auch die Stolzerwartung, die zum Rettenwollen oder Rettenmüssen drängt, zurecht zu rücken. Erfolgreich wird eine Friedensstiftung nur sein können, wenn es gelingt, eine Haltung der Allparteilichkeit einzunehmen und den Selbstregulationskräften, die es in jedem System gibt, zu vertrauen. Statt also alle Opfer mit den eigenen Händen aus dem Sumpf zu ziehen, gilt es, die Opfer an ihre eigenen Kräfte zu erinnern, damit sie sich selber aus ihrer misslichen Lage befreien können. Und statt als Rächer gegen die Täter vorzugehen oder ihn moralisierend zu demütigen, ist es sinnvoller und hilfreicher, ihm einen Weg zu zeigen, wie er den Schaden, den er angerichtet hat, wieder gutmachen will. Umso leichter gelingt das, wenn dem Täter vermittelt werden kann, dass er trotz seiner Tat ein wertvoller Mensch ist.

Die Falle für die Retterin, die Verantwortung von Opfer und Täter an sich zu ziehen, wird vermieden, indem die Verantwortung dort belassen wird, wo sie hingehört. Die Hilfe zur Selbsthilfe oder Selbstrettung braucht keine Anmaßung und hilft zugleich, aus der Retterrolle heraustreten zu können.

Von der Rolle des zwanghaften Rettenmüssens, die uns selber belastet und überfordert, können wir uns nur dann lösen, wenn wir die Hintergründe unserer Helferimpulse sorgfältig reflektieren und die in sie hineinverwobenen Scham- und Stolzthemen erkennen und überwinden. Anderen Menschen zu helfen oder sie aus Notsituationen zu retten, ist eine ehrenhafte Sache, solange diese Handlungen frei von solchen Themen sind.

Zum Weiterlesen:
Der Opferstolz in Beziehungen
Der Stolz der Opfer
Die Ursprünge der Opferrolle
Opferstolz und Opfermentalität
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik
Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldkomplexe
Kinder in der Täterrolle
Das System der Gier


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